Die Geschlechterrollen in der Literatur der Neuzeit

Barbara Becker-Cantarinos Darstellung der Frauenforschung in der Literaturwissenschaft

Von Rüdiger ScholzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rüdiger Scholz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Erforschung der Geschlechterrollen in der Literatur ist eine der großen Innovationen in der Geschichte der Literaturwissenschaft. Seit den 1960er-Jahren gerieten die Rollenmuster in der bürgerlichen intimen Liebesfamilie in das Blickfeld der historischen Familienforschung. Die Literatur, vor allem Drama, Roman und Novelle, bot reichlich Anschauungsmaterial für den Wandel der fortschreitenden Verinnerlichung von Verhaltensmustern, vor allem von Liebesnormen, die seit dem 18. Jahrhundert unter Begriff der „Tugenden“ diskutiert werden. Basierend auf dem feministischen Ansatz in der historischen Soziologie ist seit Ende der 1960er-Jahre vor allem die Rolle der Frauen Thema von Forschungen geworden.

Barbara Becker-Cantarinos Buch bietet einen Überblick über das bisher Geleistete und versteht sich zugleich als Einführung in die Geschlechterforschung in der Literaturwissenschaft. Die Beispiele stammen aus Becker-Cantarinos Fachgebiet, der deutschsprachigen Literatur. Die „Präferenz für soziokulturelle Konstrukte von Geschlecht und deren Repräsentation in literarischen Texten“ prägt das Buch, die Interpretation von Texten verhindert die Dominanz theoretisch abstrakter Darstellung, gegen welche die Autorin ein Misstrauen hegt. Der „Schwerpunkt liegt auf der ethischen Dimension der Literatur- und Genderanalyse“, wie sie schreibt.

Zwar ist das Thema die literarische Genderforschung als Methode „einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Germanistik“, zu Recht wendet sich die Autorin aber scharf gegen die „amorphe, flächendeckende Kulturwissenschaft als Allheilmittel“ für ein Fundament aller Strömungen und Reformen in den Literaturwissenschaften. Becker-Cantarinos Darstellung ist ein herausragendes Beispiel für eine politische, gesellschaftshistorische Auffassung von Literatur, die immer mehr von einer Literaturwissenschaft als entpolitisierter Kulturwissenschaft verdrängt wird.

Ausgangspunkt ist die These von der „symbolischen Gewalt, die der Geschlechterordnung inhärent ist“. Seit Karin Hausens Aufsatz „Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘“ von 1976 wird das Auseinanderdriften von männlichem und weiblichem Rollenbild breit diskutiert, das sich seit dem 18. Jahrhundert mit der erneuten Festigung der patriarchalischen Familienordnung verstärkt.

Das erste Kapitel bietet einen ausgezeichneten, knappen Überblick über die Geschichte der Frauenforschung und der germanistischen Erforschung der Geschlechterrollen in der Literatur. Besonders verdienstvoll die Darstellung der aktuellen Diskussion im neuen Jahrtausend. Bei der Darstellung der Begriffsgeschichte von „Gender“ zeigt die Autorin, dass die Durchsetzung dieses Begriffs auch eine Niederlage der Frauen bedeutet: Die Begriffe „feministische Literaturwissenschaft“, „Feminismus“ und „Frauenemanzipation“ galten vielen Männern in den 1980er-Jahren als zu pejorativ, daher wurde der anfängliche Begriff „Frauenforschung“ durch „Genderforschung“ ersetzt, um Männer nicht außen vor zu lassen, die damit das Feld der Erforschung der Geschlechterpolarität okkupierten. „Vom Feminismus und Woman’s Studies“ ging der Weg „zu den Gender-Studies.“ Es muss hinzugefügt werden, dass es leider auch Frauen waren, die diese Niederlage mit herbeiführten.

Becker-Cantarinos Blick auf die gegenwärtige Entwicklung ist düster. Sie konstatiert das „Versagen des (akademischen) Feminismus“, dem Ausblenden der sozialen Realität, die für Frauen nach wie vor von Kindern und Familie geprägt wird. „Die einseitig auf Geschlechtsidentität und Performanz fokussierte Genderforschung um die Jahrhundertwende hat sich selbst in eine Sackgasse manövriert.“ „Wird Gender-Theorie wieder zum zentralen gesellschaftlichen Herrschaftsprinzip gebraucht?“ fragt Becker-Cantarino. Sie plädiert mit Claudia Opitz für eine neue feministische Theoriebildung in einer historischen Genderforschung.

Das zweite Kapitel skizziert die Entwicklung der Geschlechterdifferenz der Neuzeit an – männlichen – exemplarischen Texten des 16. bis 20. Jahrhunderts. Im Mittelalter war das Frauenbild in eine idealisierte Unnahbare und eine dämonisierte Verführerin aufgespalten, in Laura und Undine zum Beispiel. Mit dem Ende des Minnesangs im 15. Jahrhundert fehlt in den folgenden Jahrhunderten das Gegengewicht zum negativen Bild der Frau als Verführerin.

Wieviel Männer von Frauen hielten, zeigt der Renaissance-Mann Faustus im Volksbuch von 1587, der von Ehe und Familie ausgeschlossen ist in einem Text, in dem Frauen nur als minderwertige Geschöpfe vorkommen. Die zunehmende Dämonisierung der Frau führt zum Bild der Hexe, „die es auszurotten und auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen gilt“.

1670 entwirft Grimmelshausen in der „Landstörzerin Courasche“ eine sexuell anziehende Frau als nur scheinbar positives Bild. Ihre „pikante Geschichte“ ist sowohl eine „Warnung vor der weiblichen Sexualität“ als auch eine „unterhaltsame Satire“, eine „Parodie von Weiblichkeit“, „eine Geschichte über männliche Furcht vor dem Geschlecht und der Ehe“. Zugleich wird die Heldin dämonisiert, für Becker-Cantarino „ein Zeichen der entfremdeten, kämpferischen Geschlechterbeziehungen“. Trotz der Unverwüstlichkeit der Heldin werden „durch die Entlarvung und Bestrafung der Sünderin“ „die Geschlechterrollen jedoch zugleich wieder bestärkt und gefestigt“. Grimmelshausens Parteilichkeit zeigt sich in den Episoden der Vergewaltigung, die als soziale Disziplinierung von Frauen bejaht wird. Denn die weibliche Sexualität ist gefährlich, bedroht „die patriarchalische Macht und das männliche Vorrecht“.

Entwürfe von Weiblichkeit gegen den männlichen Blick durch Schriftstellerinnen gibt es im deutschsprachigen Raum bis zum 18. Jahrhundert nicht. „Die wenigen von Frauen verfassten Texte sind religiös, erbaulich oder didaktisch“, sie erfüllen das Bild der nachrangigen Bedeutung der Frau, die gemäß der Bibel ja aus Adams Rippe entstanden ist.

Nach diesem frühneuzeitlichen Befund wendet sich Becker-Cantarino dem 19. Jahrhundert zu, an dessen Beginn der Wendepunkt im Frauenbild zum Negativen liegt. Das wird an Eichendorff gezeigt, der in seiner Novelle „Das Marmorbild“ von 1819 „archaische Geschlechtermuster wiederbelebt“. Er knüpft an die spätmittelalterliche Allegorie der „Frau Welt“ an, „als ein den Mann bedrohendes, weiblich codiertes Sexualwesen, das ihn um sein Seelenheil bringen wird und das vergänglich ist wie die irdische Welt“. Eichendorffs Ästhetisierung des Bildes der Frau Welt eröffnet mit der Anbindung an die Natur eine weitere Dimension. „Frau Welt“ wird im Marmorbild zum Mythos der versteinerten femme fatale.

Mit der Frauenemanzipation und entsprechenden Werken von Schriftstellerinnen – Louise Aston, Elsa Bernstein (Ernst Rosmer), Hedwig Dohm, Elisabeth Dauthendey, Clara Viebig und anderen – ändert sich das Bild der Frau auch in der Literatur. Der Kampf um die Rolle der Frau wird härter, wie die berüchtigten Schriften von Karl Möbius und Otto Weiniger und die öffentliche Diskussion darüber zeigen. Becker-Canatarino wählt Carl Hauptmann, den älteren Bruder von Gerhart Hauptmann aus, als Beispiel für den neuen Biologismus, um zu zeigen, mit welcher Verve die Inferiorität von Frauen erneut „nachzuweisen“ versucht wurde. „Hauptmanns Frauenfiguren sind Objekte, die benutzt werden, um seinen biologisch-physiologischen Vorstellungen von der Triebhaftigkeit des Menschen Ausdruck zu verleihen“. Männerfiguren dagegen wurden in späteren Werken von Hauptmann „als Künstler oder Führer in den Mittelpunkt“ gestellt, wie an der Figur der Fabrikarbeiterin Mathilde im gleichnamigen Roman von 1902 gezeigt wird. Hauptmann macht „aus der Armenhäuslerin eine respektable Frau“, „die nicht mehr ausbricht, eine gezähmte Mathilde“. „Mit der Blindheit von Mathildes Tochter“, ebenfalls Mathilde geheißen, und deren Tod zeigt Hauptmann, „dass es eine zweite Mathilde, die ausbricht, erwerbstätig wird und ihren Leidenschaften nachgeht, nicht geben wird und soll.“ Der Autor ließ auch in weiteren Werken „die kulturellen Mythen und literarischen Klischees des 19. Jahrhunderts in seinen Frauenfiguren und Geschlechterdiskursen weitertransportieren“.

Die beiden folgenden Kapitel kontrastieren Gewalt und Freundschaft in der literarischen Darstellung der Geschlechterbeziehungen. Im Kapitel „Körperdiskurse: Dämonisierung, Sexualität und Gewalt“ wird an den Figuren der Hexe und der Hure Babylon die Angst der Männer vor der Frau gezeigt. Becker-Cantarino, die in den 1990er-Jahren drei Aufsätze zum Bild der Hexe veröffentlicht hat, zeigt an Hexensabbatdarstellungen in der Bildenden Kunst und in der Literatur und an den beiden Szenen „Hexenküche“ und „Walpurgisnacht“ in Goethes „Faust“, dass das Bild der Verderben bringenden Frau als Hexe schon im 15. Jahrhundert mit deren Sexualität begründet und mit Bildern „einer dämonischen, Unheil bringenden Naturgewalt assoziiert wurde“. Goethe bedient sich der Literatur über Hexenverfolgungen, und er setzt die Verdammung der Frau als Hexe fort. Ihm wirft Becker-Cantarino vor: „Goethe hat die Opfer der Verfolgungen und der Folterprozesse, die Gewalt, völlig ausgeblendet. Nirgendwo fällt ein Wort des Mitleids oder Verständnisses für die Opfer.“ Und weiter: „Die Historizität der Gewalt und der Opfer wird völlig übergangen und das atavistische Hexen-Imago, dessen Blut Flammen löscht, tritt unheimlich, ambivalent und indifferent an die Stelle der dokumentierten Geschichte.“

Als zweites Beispiel zeigt Becker-Cantarino an Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ von 1929 das Ausufern männlicher Gewalt gegen Frauen. Im Bild der „Hure Babylon“ wird die Perversion der guten Mutter Natur zur Großstadthure am Beispiel der Stadt Berlin thematisiert. Die These der Autorin: Döblin hat „den Kulturpessimismus der Jahrhundertwende im mythisch-religiösen Bild der Hure Babylon aufgegriffen, mit der ‚Männerphantasie‘ von der ‚kastrierenden Frau‘ verbunden und zu der monomanischen Idee verdichtet, dass erotische Dominanz über andere die Triebfeder des Lebens ausmache“. Das Besondere in Döblins Roman sei das Ausmaß an Gewalt, und die Frauen unterstellte Komplizenschaft mit männlich sexueller Gewalt, wie in der Figur der Ida gezeigt: Die „von dem Mörder ihrer Schwester gerade vergewaltigte Frau“, sei  wie alle Frauen in „Berlin Alexanderplatz“ „als lustvolle Komplizin männlicher Gewalt und gewalttätiger Sexualakte“ gezeichnet. Diese seien unzertrennlich“.

Dagegen stellt Becker-Cantarino den 1978 veröffentlichten Berlin-Roman „Gestern war heute“ von Ingeborg Drewitz, der die Gewaltthematik vom Sexualitätsdiskurs trenne. „Gewalt ist vornehmlich politische Gewalt und Krieg, nicht aber unausweichlich an Sexualität oder Männlichkeit als libidinöse Gewalt gegen die Andere gekoppelt wie bei Döblin“. Damit werde „die große Narration der Moderne von sexueller Gewalt als naturbedingtes Grundmuster infrage gestellt“.

Das folgende Kapitel über Familie und Freundschaft stellt die Leistungen der Forschung auf dem Gebiet der gesellschaftshistorischen Literaturinterpretation zur Geschichte der Familie dar. Das ist das eigentliche Feld von Becker-Cantarino, die mit ihrem Buch über Literatur von Frauen des 16. bis 18. Jahrhunderts „Der lange Weg zur Mündigkeit“ 1987 ein Standardwerk geschaffen hat und 2000 den Zeitraum mit einem Buch über „Schriftstellerinnen der Romantik“ erweiterte. Die Leitlinie dieser Bücher kehrt auch in diesem Kapitel wieder: Die patriarchale Familie festigt in der Neuzeit ihre Grundstruktur auch unter den neuen wirtschaftlichen Systemen und wird schließlich im 19. Jahrhundert verklärt.

Entsprechend war „die Familie als patriarchale Konstruktion, als Mythos und als Ideologie […] ein zentrales Thema in der Literatur von der Frühen Neuzeit bis in die Moderne“ und bestimmte über die Identitäten die Geschlechterrollen. Hier liegen die großen Leistungen der feministischen Literaturwissenschaft, welche die Herrschaftsverhältnisse in den in der Literatur dargestellten Geschlechterverhältnissen breit thematisiert hat. Das geschah im Zusammenhang mit der soziologisch historischen Familienforschung, ebenfalls eine Domäne von Wissenschaftlerinnen mit feministischem Blick.

Becker-Cantarino skizziert den Weg der Familie und ihrer Erforschung der Konzeption des „ganzen Hauses“ (Otto Brunner), der „ganzen Haushaltsfamilie“, des „christlichen Hausstandes“ mit den Begriffen „Hausmutter“ und „Hausvater“ in der „Hausväterliteratur“, welche die Geschlechterrollen in der Familie und deren Ökonomie moralisch und theologisch absicherte. Das Haus wurde „als Institution der Schöpfungsordnung, als naturrechtliches Gebilde gedeutet“. Der Hausvater als Obrigkeit und Hausgesetzgeber, „die Frau ist nach biblischem Vorbild seine Gehilfin und die Gebärerin der Kinder, ihre Arbeit (Produktion und Reproduktion) untersteht und dient dem Mann“. Die Ausbeutung des Gesindes und von Kindern, vor allem Waisenkindern, war darin eingeschlossen.

Die Frauen wurden um ihr Persönlichkeitsrecht gebracht. „als Mensch und Wesen galt die Frau als minderwertig, was religiös-moralisch begründet wurde“. „So kann nicht genug betont werden, dass die Frau in der ‚Hausväterliteratur‘ moralisch, theologisch, und wirtschaftlich als Gattungswesen festgelegt und damit aus jeglicher Art von Öffentlichkeit verbannt wurde.“

Mit der räumlichen Trennung der Bereiche Beruf – in der Regel des Mannes – und Familie und mit der Differenzierung der Berufe wandelte sich die Rolle der Frauen. In den ökonomischen Haushaltsbüchern wurde die Rolle der Hausmutter in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgewertet. Die Veränderung der Umgangsformen, zuerst in Frankreich, wertete die Frau im oberen Bürgertum auf. „Für die Frauen bedeuteten diese geselligen Veränderungen und gesellschaftlicher Lockerungen eine Erweiterung ihrer engen Welt des Hauses.“

Welche radikalen Auswirkungen diese Ansichten für das Bild der Frau als zweitrangige Person hatte, zeigt Becker-Cantarino an den beiden Epen „Luise“ (1795) von Johann Heinrich Voß und „Hermann und Dorothea“ (1798) von Johann Wolfgang Goethe, beide in der Revolutionszeit entstanden und gegen die Französische Revolution gerichtet. Hier herrscht eine krasse Idyllisierung, Verklärung und Sentimentalisierung der patriarchalischen Familie vor, deren Ideologisierung als zeitlose Urform fungiert, was die Wahl des Homerischen Hexameters als Versform erklärt. Die Inferiorität der Frau und ihrer Familientätigkeit, deren Rolle als Dienerin des Mannes als angeblich überhistorisch zur Gattung Mensch gehörend imaginiert wird, tritt hier stark hervor. Einer der Theoretiker dieses Bildes ist Justus Möser. „Mit dieser Familienidylle der Klassik beginnt die Verklärung der patriarchalischen Familie im 19. Jahrhundert, die, oft antidemokratische und autoritäre Tendenzen verschleiernd, den Mythos einer vorindustriellen Großfamilie beschwört.“

Dasselbe Muster beim Thema „Freundschaft“, einem der gesellschaftlichen Zentralbegriffe des 18. und 19. Jahrhunderts für unentfremdete Personenbeziehungen. Freundschaft wurde, etwa bei Christian Wolff, „zur allgemeinen Menschenliebe erweitert“. Wahre Freundschaft konnte es angeblich nur bei Männern geben, Frauen galten lange und vielfach als unfähig wirklich Freundschaften zu führen. In der literarischen Briefkultur sind die Briefwechsel unter Männerfreunden, etwa zwischen Gleim und Jacobi, signifikant.

Becker-Cantarino konzentriert sich auf die privaten, häuslichen Geselligkeiten im Bildungsbürgertum. Auch hier ist die Literatur ein ausgezeichnetes Feld der Anschauung. Daher sei „weiterhin zu fragen, wie das Geschlechterverhältnis in legitimierte und symbolische Herrschaftsstrukturen in fiktionalen Texten eingebunden ist und wie die Herrschaftsverhältnisse im literarischen Feld genderspezifisch strukturiert sind“.

Die Darstellung des bürgerlichen Familienideals darf nicht vergessen lassen, dass dieses Ideal eine Erfindung der Neuzeit ist, bedingt vor allem durch den ökonomischen Wandel. Während im Mittelalter in fast allen Berufen, ob im landwirtschaftlichen oder gewerblichen Bereich, die Ehefrauen tragende Funktionen hatten, werden Frauen mit der zunehmenden Trennung von Arbeitsplatz und Wohnung im Bürgertum immer mehr auf die Familienarbeit zurückgedrängt. Daraus resultierte jene Rollenverteilung von Hausmutter und Berufsarbeitsmann, die dann ideologisch als von der Natur bestimmt verfestigt wurde. Aus dieser Falle auszubrechen, wurde für die Frauen zum großen Programm des 18. bis 20. Jahrhunderts.

Das geschah in einem etwa 1740 einsetzenden kulturellen Wandel, der „Feminisierung der Literatur durch eine neue Leserschicht, die der Frauen.“ Becker-Cantarino skizziert die Geschichte des sich verstärkenden Anteils von Frauen am geselligen, keineswegs nur privaten, Leben, von Harsdörffer in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bis zu dem in ganz Europa berühmten Salon von Sophie von La Roche und des Salon von Henriette Herz. B.-C. zeigt den Wandel des Begriffs der Geselligkeit von der allein Männern vorbehaltenen Form der Kommunikation bis zur tragenden Rolle von Frauen bei Geselligkeiten, einer halb öffentlichen Form der Diskussion.

Das letzte Kapitel ist der Darstellung der Geschichte der Autobiografie und des Anteils von Frauen an ihr gewidmet. Kritisiert werden literaturwissenschaftliche Darstellungen der Geschichte er Autobiografie, die sich wie Roy Pascal und Niggl an den westlichen männlichen Autobiografen orientieren. Inzwischen ist durch feministische Studien ein Wandel eingetreten, wie etwa das 2000 erschienene Buch zur Autobiografie von Michaela Holdenried zeigt. Die Forschungen haben erheblichen Unterschiede zwischen Autobiografien von Männern und Frauen zu Tage gefördert. „Was die Autobiografie von Frauen im 18. und 19. Jahrhundert eher von der von Männern unterscheidet, ist, dass ihr Lebenslauf nicht in das bildungsbürgerliche Schema paßte und schon deshalb eine andere Topik umfasste.“ Das wird ausführlicher an der 1673 erschienenen Autobiografie „Eukleria“ der Pietistin Anna Maria van Schurmann gezeigt. In der reichen, vorwiegend natürlich männlichen pietistischen autobiografischen Literatur, in deren Zentrum meist das „Ewerweckungserlebnis“ steht, bilden die Autobiografien von Frauen eine Sonderrolle. Schurmann wurde wegen ihrer ausgezeichneten wissenschaftlichen Kenntnisse beachtet. Obwohl ihr kein ordentliches Studium an einer Universität erlaubt wurde, nahm sie, hinter einem Vorhang verborgen, an Vorlesungen teil. Sie galt als „gelehrte Frau“ (femme savante) und korrespondierte mit Gelehrten in ganz Europa. Ihre spätere Absage an die Wissenschaft als Irrweg sei beispielhaft „für die Identitätskrise einer Frau in der Frühen Neuzeit“.

Skizziert wird die Ausgrenzung und Abwertung der Frau als Autorin. Die Wege des Umgehens wie dem der verbalen Selbstverkleinerung, dem des Ausweichens auf den religiösen Anspruch, auf die anonymen Veröffentlichungen oder unter männlichem Pseudonym prägen den Kampf von Schriftstellerinnen um ihre Durchsetzung; bis in die 1970er–Jahre wird die „Frauenliteratur“ separiert und damit abgewertet. Diese Verhältnisse führt Becker-Cantarino zurück „auf eine ‚Geschlechtszensur‘, auf die von männlichen Literaten ausgeübte Kontrollfunktion und Bevormundung auch der literarischen Tätigkeit von Frauen“ zurück.

Ausgehend von Fichtes berüchtigter These von der Inferiorität der Frau zeigt die Autorin, dass die „Hierarchie der Geschlechter“ auch im 18. Jahrhundert von fast allen männlichen Schriftstellern geteilt wurde und eine Oberaufsicht über literarische Produkte von Frauen begründete. Diese „Kontrollfunktion“ war so massiv, dass sich nach einem Aufschwung zur „Mündigkeit“ von Dichterinnen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – Sophie La Roche, Anna Louisa Karsch – schon bei den Romantikerinnen ein Rückschritt eintrat, sodass Schriftstellerinnen erneut anonym oder unter anderen, männlichen, Namen publizierten oder gar ihre Werke als Werke des eigenen Ehemannes ausgeben, so wie bei Caroline Schlegel. Diese Zensur und Selbstzensur ist bis heute kaum erforscht. Beispiele dieses Verhaltens zeigt Becker-Cantarino bei Goethe, Friedrich Schlegel, auf der Seite von Schriftstellerinnen bei Therese Huber und Sophie Mereau. Fazit: „Die ‚Geschlechtszensur‘ gehört in den Machtdiskurs des Patriarchats“, mit der Ideologie der ‚natürlichen’ Ordnungen der Geschlechter.

Das hatte zur Folge, dass Literatur von Frauen unter dem Begriff „Frauenliteratur“ in die Zweitrangigkeit verbannt wurde, dass man in der Geschichte des „Frauenromans“ eine Linie der Trivialliteratur von Sophie La Roche über Eugenie Marlitt und Hedwig Courths-Mahler bis zu Vicky Baum konstruierte. Erst seit den 1960er–Jahren setzt hier ein Wandel ein, aber auch dann noch wird Schriftstellerinnen ihre künstlerische Genialität abgesprochen – in der deutschsprachigen Literatur mit den Ausnahmen Ingeborg Bachmann und Elfriede Jellinek.

Die siegreichen Kämpfe der Männer-Literaten um ihre Dominanz in der literarischen Publizistik spiegeln sich in der Literaturgeschichtsschreibung. Bis in jüngste Literaturgeschichte hinein werden Schriftstellerinnen ausgegrenzt, der Kanon an Hochliteratur bleibt fast ganz auf Autoren beschränkt. Da publizierte Literatur „ein Archiv des kulturellen Gedächtnisses“ von Gesellschaften darstellt, verzerren die Literaturgeschichten wie die Literaturwissenschaften bis heute die historische Wirklichkeit. Mit der Nennung von Ansätzen zur Korrektur des Dilemmas des bisherigen „androzentrischen literarischen Gedächtnisses“ schließt das Buch.

Es ist mit sehr großer Kenntnis der Literaturgeschichte geschrieben, es ist äußerst materialreich und überlegen in den Urteilen. Es ist eines jener Bücher, die theoretisch wie anschaulich vermitteln, welche Leistungen eine gesellschaftshistorische Auffassung von Literatur hervorbringen kann und hervorgebracht hat. Der Kampf der Geschlechter, die Dominanz des Mannes und die erstaunlich pathologischen Muster, die oft grotesken Figuren und Bilder männlicher Angst vor Frauen spiegeln sich in der Literatur wie in keiner anderen Kunstgattung oder sonstigen Publizistik. Becker-Cantarino zeigt, in welchem Ausmaß die Fantasien der Menschen von der Gewalt zwischen den Geschlechtern besetzt sind und welche Konsequenzen das in der Wirklichkeit gehabt hat und hat.

Die Autorin zieht die Linien der Geschlechterdiskurse mit präzisen Strichen und eröffnet mit ihren zugreifenden Thesen die Diskussion. Eine Erweiterung des Materials bietet sich an. Das Arsenal männlicher Abwehr von Frauen ist natürlich weit umfangreicher, etwa in den Versteinerungen von Frauen, nicht nur bei Eichendorff, sondern etwa auch in Clemens Brentanos Roman „Godwi oder das steinerne Bild der Mutter“. Neben Goethe wäre etwa auf Schillers Abwertung von Sophie Mereaus „dilettantischer“ Literatin zu verweisen. Die Forschung, besonders durch psychoanalytische Studien, ist bereits detailreicher als es eine solche Überblicksdarstellung darstellen kann.

Dafür, dass das Buch als „Einführung“ konzipiert ist, fällt die „Auswahlbibliografie“ zu kurz aus. Besser wäre ein Literaturverzeichnis, das alle zitierte Literatur enthält. Leider fehlt auch ein Personenregister. Dennoch ist diese Einführung allen Germanistik-Studierenden dringend zu empfehlen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Barbara Becker-Cantarino: Genderforschung und Germanistik. Perspektiven von der Frühen Neuzeit bis zur Moderne.
Germanistische Lehrbuchsammlung Bd. 86.
Weidler Buchverlag, Berlin 2010.
239 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783896933867

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