Die unkaputtbare deutsche Sprache: Sprachwandel statt Sprachverfall

Zu „Sprachverfall? Dynamik – Wandel – Variation“ von Albrecht Plewnia und Andreas Witt

Von Wolfgang ImoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Imo

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Thema Sprachverfall hat in den letzten Jahrzehnten kräftigen Auftrieb erhalten. Nicht nur die PISA-Studien haben zu einem gesteigerten Interesse am Deutschen und an seinem Wandel (oder Verfall?) geführt, ganz maßgeblich ist auch die Entwicklung der Neuen Medien verantwortlich: Erst seit der Entwicklung des world wide web wird in großem Umfang medial schriftlich, aber konzeptionell mündlich kommuniziert, und diese ‚Alltagsschriftlichkeit‘, das informelle Schreiben, ist nun für alle sichtbar und kann zur Wahrnehmung eines Sprachverfalls führen. Der große Erfolg, den ein Autor wie Bastian Sick mit seinen sprachkritischen Büchern („Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“) hat, zeigt die gesellschaftliche Relevanz des Themas.

Die Herausgeber des Sammelbandes zur Dynamik, zum Wandel und zur Variation des Deutschen setzen an dieser Stelle an. Ihr mit einem Fragezeichen versehener Haupttitel „Sprachverfall?“ ist allerdings irreführend: Es handelt sich um eine fachwissenschaftliche, linguistische Publikation, und Thesen des Sprachverfalls werden dort nicht vertreten. Der Titel ist somit in seiner Funktion zu sehen, Bezüge zu den oben genannten aktuellen gesellschaftlichen Debatten herzustellen. Der Sammelband ist entstanden aus Beiträgen, die im Jahr 2013 auf der Jahrestagung des Instituts für Deutsche Sprache (IDS) mit dem Titel „Sprachverfall – Dynamik – Wandel – Variation“ präsentiert wurden.

Für den Tagungsband wurden die Beiträge in drei Gruppen geordnet: Eine erste Gruppe befasst sich mit Wandeltendenzen im Sprachsystem. Alle dieser Beiträge illustrieren Sprachwandel anhand exemplarischer Analysen. Eine zweite Gruppe ist mit dem – wie sich bei der Lektüre der Beiträge zeigen wird – nicht ganz nachvollziehbaren Titel „Aspekte der Modellierung“ versehen. Hier geht es um sich wandelnde Verhältnisse von Regiolekten und Hochsprache, um den Einsatz korpuslinguistischer Methoden zur Analyse von Sprachwandel und um den Einfluss der Internetkommunikation auf die deutsche Sprachstruktur. Die dritte Gruppe behandelt den „Umgang mit Normen“. Hier werden Fragen zu Sprachkodizes und zu Kodifizierungsprozessen, zu Sprachkritik sowie zu Sprachnormen und zu Sprachwandel im Mutter- und Fremdsprachenunterricht thematisiert.

Gruppe 1: Wandel im System:

Den Auftakt bildet eine sprachhistorische Untersuchung von Martin Durrell. Der Autor untersucht anhand eines Frühneuhochdeutsch-Korpus (GerManC-Korpus) mit Daten zwischen 1650 und 1800 die Persistenz (und zunehmende Stigmatisierung) von Phänomenen, die von der Sprachkritik häufig diskutiert werden (tun als Hilfsverb, würde-Konjunktiv etc.). Die Untersuchung wirft einen spannenden ‚Gegenblick‘ auf die Standardisierung des Deutschen, da Standardisierung hier aus der Perspektive von Stigmatisierungs- und Eliminierungsprozessen von sprachlichen Varianten betrachtet wird. Der Artikel illustriert eindrucksvoll die These des Autors, dass eine Debatte über den Sprachverfall des Deutschen eine sprachideologische, keine sprachwissenschaftlich fundierte Debatte ist. Auf einen ‚Klassiker‘ der Sprachverfalls-Topoi geht Renata Szczepaniak mit ihrer Untersuchung des formalen und funktionalen Wandels des Genitivs seit dem Frühneuhochdeutschen ein. Die fundierte und detailreiche Untersuchung liefert eine gute Darstellung dieser Wandelprozesse. Schade ist das etwas dünne und ‚unmotiviert‘ wirkende Fazit. Auf die Veränderungen in der verbalen Flexion fokussiert Anje Dammel. Mit dem ironischen Titel „Die schönen alten Formen…“ positioniert sie sich schon gleich zu Beginn gegen Sprachverfallshypothesen. Die komplexe und detailreiche Untersuchung führt zu dem Ergebnis, dass starke Verben auch heute noch nicht als „Fossilien“ bezeichnet werden können, sondern dass sie immer noch reorganisiert werden. Dies ist ein Prozess, der schon sehr lange andauert und auf den „Kodifizierer und Sprachkritiker nur geringen Einfluss haben“. Ludwig M. Eichinger und Astrid Rothe wechseln in ihrem Beitrag wieder von der Konjugation zur Deklination, in diesem Fall zum Dativ und zum Genitiv. Es zeigt sich, dass hinter vermeintlich ‚einfachen‘ Abbautendenzen in Wirklichkeit hochkomplexe Reorganisationen des Systems stecken, bei denen zum Beispiel die Verlagerung der Kasusmarkierung auf Artikel oder Adjektive den Abbau von Flexionsendungen bei Nomen befördert, umgekehrt aber Kollokationen sogar den Ausbau beispielsweise der Dativ-Endung begünstigen können. Mit einem besonders heftig umkämpften orthographischen Streitfall, dem Apostroph, befasst sich Damaris Nübling. In dem sehr interessanten, mit anschaulichen Diagrammen versehenen Beitrag illustriert die Autorin, wie der Apostroph sich im Laufe der Zeit von einem „phonographischen zu einem morphographischen Zeichen“ entwickelt habe: Während er in mittelalterlichen Handschriften eine Kurzform für die Buchstabenfolgen oder darstellte (z.B. v’gessen), und auch später zur Kennzeichnung von Auslassungen (solch’ augen) diente, verlor er im Laufe der Zeit diese Funktion, erwarb aber stattdessen quasi als ‚Ersatz‘ die Funktion, Wörter zu „schonen“, d.h. die Grenzen von Wörtern anzuzeigen (Bach’sche Fugen, Uli’s Auto, die CD’s), oder auf ein nicht realisiertes Suffix zu verweisen (Ines’ Auto, Jens’ Vater). Der Beitrag zeigt sehr anschaulich, dass etwas, was wie Sprachverfall aussieht, in Wirklichkeit Ausdruck einer funktionalen Reorganisation des Sprachsystems ist.

Gruppe 2: Aspekte der Modellierung

Wie bereits oben bemerkt, ist der Titel nicht wirklich nachvollziehbar, da die Beiträge sehr unterschiedliche Aspekte beleuchten. Jürgen Erich Schmidt untersucht in einem ausgezeichneten Beitrag die Dynamik der deutschen Regionalsprachen. Ausgehend von dem „witzigen“ Befund, dass sich gezeigt hat, dass auch heute noch die Ähnlichkeit der deutschen Dialekte als „statistisch mit Abstand wirkmächtigster Faktor“ zum Tragen kommt, mit dem Mobilität in Deutschland erklärt werden kann (was sogar schon zu Anfragen von Unternehmensberatern nach Dialektkarten geführt hat), wird zunächst ausführlich das Konzept der Regionalsprachen erläutert und schließlich die Hypothese aufgestellt, dass die Regionalsprachenräume sicherstellen, dass Menschen dort auf andere Menschen treffen, „die sie nicht nur intellektuell verstehen, sondern bei denen sie sich sicher sein können, dass auch ihre sprachlichen Befindlichkeitskundgaben, also ihre Emotionssignale, und ihre beziehungsrelevanten Signale in der intendierten Weise interpretiert werden.“ Dies spricht für eine tiefgreifende und häufig vernachlässigte Verzahnung von Sprache und Emotion bzw. Interaktion. Marc Kupietz, Cyril Belica, Harald Lüngen und Rainer Perkuhn loten die Möglichkeiten korpuslinguistischer Verfahren zur Erfassung von möglichen ‚Sprachverfallskandidaten‘ aus. In sechs sehr knappen Ministudien werden einige typische Sprachverfall-Hypothesen (immer häufiger analytisch gebildeter Konjunktiv, immer häufigere Verwendung von wegen mit Dativ etc.) in einem kurzen Zeitraum von 1995-2012 erst in Zeitungskorpora und dann, da sich dort keine nennenswerten Tendenzen finden ließen, in Internetkorpora überprüft. Wie die Autoren z.T. selbst bemerken, sind Probleme bei der Operationalisierung sowie sicher auch die Auswahl der Daten – bei Zeitungskorpora ist es m.E. wenig verwunderlich, dass gerade ‚heiß‘ diskutierte, stigmatisierte Phänomene selten sind – mit dafür verantwortlich, dass lediglich „ansatzweise“ Sprachwandel untersucht und schließlich „keine Antwort auf die Frage nach dem Sprachverfall abgeleitet“ werden konnte. Speziell mit der These, dass die internetbasierte Kommunikation zu Sprachverfall führe, befasst sich Angelika Storrer. Sie verwendet als Datenmaterial einerseits die Ausgaben der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ (1991 bis 2009) und andererseits als Vergleich die Artikel- und Diskussionsseiten der vollständigen deutschen Wikipedia vom 18.6.2009. Die Untersuchungsergebnisse sind nicht ganz verwunderlich: Für „Die Zeit“ sowie die Artikelseiten von Wikipedia ergaben sich keine Treffer. Das liegt daran, dass für die Untersuchung ‚leicht suchbare‘ Phänomene von internetbasiertem Schreiben wie Inflektive (*grins*), Emoticons (J) und Akronyme (LOL) ausgewählt wurden. Sinnvoller wäre es allerdings für die Fragestellung, Parameter wie Flexionsabbau, Wegfall von Präpositionen, Satzlänge u.a. heranzuziehen, als ausgerechnet so stark markierte Phänomene wie Emoticons, Inflektive und Akronyme. Die Frage nach dem Einfluss der internetbasierten Kommunikation auf die Sprache bleibt also weiter offen. Gerhard Jägers Beitrag verlässt den Bereich des aktuellen Sprachwandels und der Diskussionen um Sprachverfall. Er plädiert für den Einsatz von statistischen Verfahren zur Analyse des Wortschatzes, um Sprachenfamilien (bis hin zum Urindoeuropäischen) zu rekonstruieren.

Gruppe 3: Umgang mit Normen

In dem dritten Abschnitt werden vor allem Fragen der Kodifizierung und Normsetzung sowie des Umgangs mit Normen und Normabweichungen im Unterricht thematisiert. Wolf Peter Klein plädiert in seinem engagierten und interessanten Beitrag für die Entwicklung einer „Sprachkodexforschung“. Erst wenn klar ist, welche Werke des Deutschen zu Kodex-Texten gezählt werden können und wie „Kernkodex“ (die zentralen Werke, die den Kodex des Deutschen stellen) und „Parakodex“ (weniger zentrale Werke, die aber dennoch zur Kodifizierung des Deutschen beitragen) zueinander stehen, die von Klein beschrieben werden, ist es schließlich möglich, „die Resonanz des Kodex in der Sprach- und Gesellschaftsentwicklung genau zu eruieren und am Ende für einen sachhaltigen, angemessenen Sprachkodex zu sorgen.“ Richard Schrodt nimmt in seinem Beitrag den „Mythos von der deutschen Zeitfolgeregel“ in den Blick. Es bleibt allerdings unklar, welches Ziel der Verfasser genau hat, der Artikel behandelt den Aspekt aus immer wieder anderen Positionen und ohne klar erkennbare Struktur und Methode. Stefan Kleiner setzt wieder auf eine fundierte Korpusanalyse, in diesem Fall auf der Basis des Gesprochene-Sprache-Korpus „Deutsch heute“. Das Ziel besteht darin, anhand einer Serie von typischen, umstrittenen Wörtern mit Aussprachevarianten herauszufinden, ob die Kodifizierungen in Aussprachewörterbüchern der Sprachrealität entsprechen. Dabei zeigte sich, dass „die bisher für das Deutsche (in Deutschland) existierenden Aussprachekodizes in vielen Aspekten dem tatsächlich vorhandenen Gebrauchsstandard nicht ausreichend Rechnung tragen“. Es fehlen Aussprachevarianten, die tatsächlich in Deutschland auch in formellen Situationen weit verbreitet sind. Die Aussprachewörterbücher müssen also dringend dem aktuellen Stand angepasst werden. Mit dem Beitrag von Winifred Davies und Nils Langer wird der letzte in dem Sammelband behandelte Aspekt eingeleitet: Sprachnormen bzw. Sprachwandel im Lehrkontext. In einem allgemeinen Überblicksartikel stellen die Autoren Probleme von DaF-Lehrenden dar, Sprachnormen und Sprachnormabweichungen im Unterricht richtig einordnen und bewerten zu können. Alexandra N. Lenz dagegen fokussiert auf den muttersprachlichen Bereich und führt eine detailreiche Spracheinstellungsstudie von DeutschlehrerInnen in Deutschland, Österreich und der Schweiz im Hinblick auf deren Einschätzung von Sprachwandel und Sprachvarietäten durch. Von besonderem Interesse ist der Beitrag von Wolfgang Steinig und Dirk Betzel. Die Autoren führen eine Längsschnittuntersuchung der Schreibkompetenzen von Grundschülern aus demselben Raum (östliches Ruhrgebiet) in den Jahren 1972, 2002 und 2012 durch und kommen zu einem gemischten Bild aus „erfreulichen und weniger erfreulichen Tendenzen“. Als erfreuliche Tendenz kann festgehalten werden, dass sich in Punkto Wortschatz und Textgestaltung Verbesserungen zeigten, vor allem in Bezug auf den Variantenreichtum der Texte. Deutliche Verschlechterungen zeigten sich dagegen bei der Rechtschreibung, wo die Fehlerzahl nicht nur zunahm, sondern sich sogar zwischen 2002 und 2012 noch beschleunigte. Obwohl die Fehlerzunahme für alle SchülerInnen zu beobachten war, konnte zudem eine eindeutige Korrelation zwischen Fehlerzahl und sozialer Schicht beobachtet werden. Die Ergebnisse dieses Beitrags sollten von den Verantwortlichen aus der Bildungspolitik sehr ernst genommen werden, er kann als Aufforderung zum Gegensteuern gelesen werden.

Fazit: Der Sammelband enthält – wie sich nicht vermeiden lässt – Beiträge von unterschiedlicher Qualität und Relevanz für das Thema. Manche der Beiträge sind innovativ und haben das Potential, weitere Forschung anzuregen, wie zum Beispiel die Arbeiten von Schmidt, Klein oder Steinig / Betzel. Andere Arbeiten – vor allem diejenigen, die sich mit Korpusanalysen befassen – zeigen, wie dünn unser Wissen über Sprachwandel noch ist und wie kompliziert die Analysen von Sprachwandelprozessen sind. Insgesamt ist positiv hervorzuheben, dass die Beiträge mit wenigen Ausnahmen auf aktuelle Aspekte des Sprachwandels – und somit auf die aktuelle Diskussion von Sprachwandel / Sprachverfall – eingehen. Aus Sicht von Nicht-Linguisten ist in jedem Fall zu bemängeln, dass oft auf sehr ‚kleine‘ Einzelphänomene fokussiert wurde und die Beiträge eindeutig fachwissenschaftlich orientiert sind, was ihre Lesbarkeit einschränkt und auch zu teilweise doch recht ‚überschaubaren‘ Ergebnissen führt. Zu begrüßen aus Sicht des Fachwissenschaftlers ist aber in jedem Fall der Beitrag zu einer stärkeren Verzahnung von gesellschaftlich relevanten Fragen zu Sprache und linguistischer Forschung.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Albrecht Plewnia / Andreas Witt (Hg.): Sprachverfall? Dynamik; Wandel; Variation.
De Gruyter, Berlin 2014.
371 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110342918

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