Eine unausweichliche Nachbarschaft

Der Religionsphilosoph Vasilij Zenkovskij (1881-1962) belegt in seiner wiederaufgelegten Schrift „Russland und Europa“, dass das russische Denken nicht von Europa abgekoppelt werden kann

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Russland und Europa haben sich über Jahrhunderte hinweg in wechselseitiger Herausforderung gesehen. Ein Spannungsverhältnis, das seit den Ereignissen in der Ukraine im Frühjahr 2014 wieder unmittelbare Brisanz bekommen hat. Neben schlichten Fehlinformationen beeinträchtigen oft genug unreflektierte Mythen ein gegenseitiges Verständnis.

Umso begrüßenswerter ist es an dieser Stelle, dass mit der vorliegenden Schrift „Russland und Europa“ dem deutschen Publikum erstmals eine Untersuchung zugänglich gemacht wird, die zwar bereits in den 1920er-Jahren veröffentlicht worden war, aber dennoch nichts in ihrer unverminderten Aktualität eingebüßt hat. Seinerzeit musste dieses Buch im europäischen Exil erscheinen, da damals Zen’kovskijs Reflexionen über „Russland und Europa“ von den brutalen Ereignissen der russischen Oktoberrevolution von 1917 ausgelöst wurden, die vom Verfasser als Katastrophe angesehen worden war.

Es waren die sowjetischen Kommunisten, deren Zukunftsvision einer sozialistischen Gesellschaft den neuen politischen Osten vom zum Untergang verurteilten politischen Westen trennte. Umso bestürzender ist es, dass ein Vierteljahrhundert nach dem Zerfall der Sowjetunion in Russland erneut Kräfte am Werke sind, die einen konstruierten Ost-West-Gegensatz zur Legitimation eines russischen Imperiums benötigen. Hammer und Sichel sind freilich mit dem Doppeladler des Zaren ausgewechselt worden, und anstelle des Marxismus-Leninismus werden nunmehr  völkisch-bluthafte Vorstellungen gesetzt, deren Anhänger sich nicht scheuen, eine slavisch-christliche Rechtgläubigkeit für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.

An genau dieser Stelle setzt die Lektüre von Zen’kovskijs Studie einen geradezu demonstrativen Kontrapunkt. Anhand von Beispielen der Denkansätze Fjodor Dostojewskijs, Nikolaj Gogols, Alexander Herzens, Ivan Aksakovs oder auch Nikolaj Danilevskijs zeigt Zen’kovskij auf, dass sich Enttäuschungen über europäische Erscheinungen wie etwa die einseitige Verabsolutierung der menschlichen Vernunft sehr wohl bei vielen russischen Stimmen finden. Eine staatlich verordnete Abgrenzung von Europa zum Schutz vermeintlich „traditioneller Werte“ war jedoch sowohl den slawophilen Denkern wie auch westlich orientierten Stimmen vollkommen fremd.

Zen’kovskijs doppelte Aufgabenstellung gilt indessen nach wie vor als bedenkenswert. Zum einen sollte das Augenmerk auf die russische Kritik sowie auch auf deren Skepsis bezüglich europäischer Entwicklungen gerichtet werden, um nicht zuletzt darin die Entfaltung des eigenständigen Denkens in der russischen Philosophie aufzuzeigen.

Zum anderen wird Zen’kovskij nicht müde, die Rückbezogenheit dieser Denkentwicklung auf europäische Impulse hin unter Beweis zu stellen. Russische Hinweise auf europäische Fehlentwicklungen geschahen immer auch im Bewusstsein, dass die Tradition des europäischen Denkens für die eigenen Ansätze unentbehrlich war. Zen’kovskij belegt diese Erkenntnis in unzähligen Nachweisen und kommt zu konkreten Schlussfolgerungen: „Europa ist nicht mehr außerhalb von uns, sondern in uns, und das bezieht sich nicht nur auf das kulturelle, sondern auch auf das religiöse Element. Deshalb ist jegliches Antiwestlertum in allen seinen Form falsch und gefährlich, es richtet sich unweigerlich gegen die russische Seele. Die Kritik der europäischen Kultur war notwendig, um den Weg Russlands zu erkennen, um völlig zu verstehen, was der Westen ist“.

Einer unversöhnlichen Gegenüberstellung von „Westlern“ und „Slawophilen“ in der russischen Geistesgeschichte, wie sie landläufig kolportiert wird, erteilt Zen’kovskij mit Blick auf die entsprechenden Schriften und Zeugnisse eine klare Absage.

Zen’kovskijs Hinweis, dass die Materialfülle im vorliegenden Band nur unzureichend berücksichtigt werden konnte, ist eine bescheidene Untertreibung. Es wird ein historischer Spannungsbogen angerissen, der vom frühen 19. Jahrhundert bis in das 20. Jahrhundert hinein reicht und nicht zuletzt auch Schriftsteller und Philosophen wie Vasilij Rozanov und Nikolaj Berdjajew rezipiert.

Da in der russischen Tradition das philosophische Denken oftmals in den Werken der großen Literaten Eingang findet, wird Einschätzungen zu einschlägigen Schlüsselbegriffen wie „Aufklärung“, „Fortschritt“ oder „Utopie“ zuweilen in der Welt der Dichtung aber auch einschlägiger Briefe nachgegangen.

Ein kurzes Nachwort des Herausgebers und Übersetzers Dietrich Kegler, der hervorragende Arbeit geleistet hat, vervollständigt eine zeitgeschichtliche Einordnung dieser wertvollen Schrift.

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Vasily V. Zenkovskij: Russland und Europa. Die russische Kritik der europäischen Kultur.
Übersetzt aus dem Russischen und herausgegeben von Dietrich Kegler.
Academia Verlag, Sankt Augustin 2012.
232 Seiten, 19,50 EUR.
ISBN-13: 9783896655707

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