Fast-Food-Tschetschenien

Anthony Marra erzählt in „Die niedrigen Himmel“ vom Tschetschenien-Krieg

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist immer ein wenig problematisch, wenn Verlage bei Übersetzungen Zitate von Schriftstellerkollegen auf dem Buchdeckel abdrucken, die das vorliegende Buch preisen. Es kann, muss aber natürlich nicht, Hinweis darauf sein, dass das Lob der großen, internationalen Zeitungen nicht ausreicht, um damit zu werben, es ist, im schlimmsten Fall, Indikator dafür, dass das vor dem Leser liegende Buch ein gescheitertes Prestigeprojekt des Verlags war.

Um den Befürchtungen gleich zu Beginn Einhalt zu bieten: so schlimm ist es im Fall des Debütromans von dem Amerikaner Anthony Marra, „Die niedrigen Himmel“, gerade im Suhrkamp-Verlag in deutscher Übersetzung erschienen, trotz des im Klappentext zu findenden Lobes von T.C. Boyle („Kraftvoll, überzeugend, wunderbar geschrieben“), glücklicherweise nicht. Immerhin, so wissen wir inzwischen, befindet sich der Roman angeblich auf der Lektüreliste des amerikanischen Präsidenten Barack Obama – eine ebenfalls durchaus werbewirksame Tatsache, so darf man vermuten.

„Die niedrigen Himmel“ ist ein fast 500 Seiten langer Roman, der von Tschetschenien während des zweiten Krieges erzählt. Im Zentrum stehen die achtjährige Hawah, deren Vater gerade ‚verschwunden‘ ist (er wurde verraten und von Föderalen verschleppt), ihr Nachbar Ahmed, der sich vornimmt, sie zu retten, die Ärztin Sonja, in deren Krankenhaus er das Mädchen bringt und die selbst auf der verzweifelten Suche nach ihrer jüngeren Schwester Natascha ist, sowie die beiden Dorfbewohner Chassan und Ramsan, Chassans Sohn, der im Dorf der Spitzel ist und Nachbarn und Freunde gleichermaßen den Russen ausliefert. Drei Erzählstränge laufen also parallel und ineinander: die Geschichte der kleinen Hawah, der Konflikt zwischen Vater und Sohn, Chassan und Ramsan, und schließlich die Suche nach Natascha. Überlagert werden diese Schilderungen von Nebenhandlungen: es geht um Medikamentenschmuggel und Drogen, Prostitution, um Ahmeds todkranke Frau Ula und um die Auswirkungen des Krieges auf Dorfgemeinschaften und zwischenmenschliche Beziehungen. Tschetschenien taucht in „Die niedrigen Himmel“, zumindest im Hinblick auf die Darstellung des Dorfes, also weniger als realer politischer Ort, als vielmehr als symbolisch verdichteter Raum auf, in dem ansichtig werden soll, was in Kriegszeiten, in denen jegliche Ordnung und Struktur dem Chaos und Misstrauen geopfert werden, mit den Menschen geschieht, wie Vertrauen und Beziehungen erschüttert und auf die Probe gestellt werden.

Damit ist „Die niedrigen Himmel“ kein Roman, dem es um historische Fakten geht, auch wenn er, worüber das kurze Nachwort Marras Aufschluss gibt, penibel recherchiert ist und auf eigener Erfahrung beruht: Marra hat in Rußland studiert und Tschetschenien bereist. Viele der Geschichten, die er verarbeitet, sind tatsächlich passiert, so oder so ähnlich, und es ist dieses Wissen, was die Schicksale der Figuren so bedrückend machen könnte – und dennoch nicht vorbehaltlos tut. Bei aller sprachlichen Könnerschaft (die auch in der glänzenden Übersetzung von Ulrich Blumenbach und Stefanie Jacobs nachvollziehbar wird), der Reduktion auf klar erkennbare und voneinander abgrenzbare Erzählstränge und Figurenschicksale, sauber ausgearbeiteten Charakteren, realistischen Schilderungen der kriegsgebeutelten Dörfer und Städte und dem Verzicht auf eine eindeutige politische Stellungnahme zugunsten einer Kriegspartei, wirkt Marras Roman dennoch immer ein bisschen holzschnittartig, künstlich und oberflächlich. Ganz und gar nicht jedoch wirkt der Text kraftvoll oder überzeugend, sondern vielmehr am Reißbrett entworfen und nach bestimmten Schemata zusammengefügt, mit einer klaren Botschaft versehen und zum Bewegen und Erfreuen des Lesers zugleich in die Welt hinausgeschickt.

Zeitweise überfrachtet Marra seine Figuren, lässt nichts von ihnen offen, offenbart alles – nichts bleibt mehr zum Erspüren, zum Reflektieren für den Leser, weil er alles präsentiert bekommt. Wenn Hawah über ihren Verschwundenen Vater fragt: „Er kommt nicht zurück, oder?“ antwortet Ahmed „Ich glaube nicht“, woraufhin Hawah „Aber du weißt es nicht? Und wenn doch?“ zurückgibt. Anstatt diese von banger Hoffnung strotzende Frage stehen zu lassen, fühlt sich der Erzähler bemüßigt, dem Leser zu erklären, was hinter dieser Frage des Mädchens steckt: „Die in eine so simple Frage eingeknotete Sehnsucht überstieg seine Vorstellungskraft. Wenn sie nun weinte? Diese Möglichkeit erschreckte ihn. Wie könnte er das aufhalten? Er musste dafür sorgen, dass sie ruhig blieb, dass er selbst ruhig blieb; […]“ – und so weiter. Es gibt ein Zuviel an Einsicht in die Figuren, es gibt Momente, in denen der Leser mit Gedankenwiedergaben und erlebter Rede überfrachtet wird und das ist das große Problem des Romans. Alles wird erklärt, alles wird aufgelöst, alle Erzählstränge werden zusammengeführt. Derart wirkt der Text konstruiert, zu sehr den Seminaren der amerikanischen creative writing-Schule entsprungen, zu blumig in seiner Bildsprache, zu überfrachtet mit in politische Ereignisse eingespannten Schicksalen, zu routiniert in seiner distanziert-mitfühlenden Erzählhaltung, die immer ein bisschen komisch-ironisch und traurig zugleich sein möchte, schließlich zu deutlich und direkt in seiner Botschaft. Die Politik, der Tschetschenien-Krieg, bildet den allgegenwärtigen Hintergrund, doch seine Kenntnis ist nicht notwendig, um die Geschichten zu verstehen, eine Darstellung der komplexen Konflikte will der Roman nicht leisten. Der Reiz des Textes liegt gerade in dieser besonderen, bisher von der Literatur wenig beachteten politischen Thematik, die hier jedoch etwas enttäuschend knapp abgehandelt wird. Was bleibt, ist eine Art Fast-Food-Tschetschenien; ein Tschetschenien, das mit den wichtigsten Aspekten des realen Vorbildes ausgestaltet wurde, um dann mit einer halbgaren, aus Kitsch, Rührung und Mitgefühl angerührten Sauce literarisch genießbar gemacht zu werden. Im Moment des Verzehrs mag das schmackhaft sein, doch es bleibt wenig haften. Insgesamt macht das „Die niedrigen Himmel“ zu einem handwerklich ordentlich gearbeiteten Roman und einer sicher unterhaltsamen, spannenden, zeitweise rührenden, zeitweise kitschigen Lektüre, aber nicht zu einem wirklich großen Roman.  

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Anthony Marra: Die niedrigen Himmel. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
485 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424278

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