Ich und/oder Er

„Enemy“ (2013) – José Saramagos Roman „Der Doppelgänger“ als exzentrischer Psychothriller

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Ein Tag ist wie der andere. Eine Woche gleicht der davor. Ein Jahr ähnelt dem letzten. Zumindest für Adam (Jake Gyllenhaal), Geschichtsprofessor an einem College in Toronto. Bis er in einem Film den Schauspieler Anthony entdeckt, der genauso aussieht wie er selbst. Verblüfft und verängstigt zugleich setzt er sich auf die Spur dieses Mannes, kontaktiert ihn schließlich. Doch die Bekanntschaft beider, die tatsächlich bis auf die letzte Narbe identisch sind, löst fatale Ereignisse aus. Darin verfangen sich auch Adams Geliebte Mary (Mélanie Laurent) und Anthonys schwangere Gattin Helen (Sarah Gadon), selbst Adams Mutter (Isabella Rossellini) ein wenig.

„Enemy“, zu dem Javier Gullón das Drehbuch schrieb, wurde von José Saramagos Roman „Der Doppelgänger“ (2002) inspiriert. Die Handlung lässt sich adaptieren, der Stil des portugiesischen Nobelpreisträger hingegen weniger. Seine parabelhaften Gedankenspielereien und philosophischen Abschweifungen, vor allem die literaturtheoretischen wie rezeptionsästhetischen Exkurse sind allein wegen ihres dekonstruktivistischen Effekts nicht analog auf das Medium Film zu übertragen. Regisseur Denis Villeneuve konzentriert sich deshalb kaum auf ihre Form, vielmehr auf ihre Essenz. Aus der literarischen Auflösung der epischen Illusion, welche die Verunsicherung gegenüber der eigenen Identität widerspiegelt, macht er irritierendes Kino, das die Glaubwürdigkeit des Bildes durch Psychologisierung nachhaltig untergräbt.

Der Abgrund

Schon die Eröffnungssequenz hat etwas Abgründiges. In einem exklusiven, anonymen Darkroom des Schweigens wohnen Männer einer bizarren Sexperformance bei. Voyeuristische Gier liegt in der Luft, der Auftritt einer lebenden Vogelspinne ergänzt sie um atavistischen Ekel. Alleingelassen mit diesen mysteriösen Eindrücken, die vorerst ohne Erklärung bleiben, wird der Zuschauer anschließend sogleich in den öden Alltag von Adam geworfen. Dessen schummrige Wohnung, seine identischen Vorlesungen, sein distanzierter Sex mit der Freundin fügen sich durch den raffinierten Schnitt von Matthew Hannam zu einem farblosen Gemenge zusammen, bei dem ein Tag nicht von dem anderen zu unterscheiden ist. Sind es überhaupt vielerlei Tage, oder ist das Leben nicht ein einziger, immergleicher Tag?

Denis Villeneuve, der sich in „Prisoners“ (2013) noch als klassischer Filmerzähler bewiesen hat, bevorzugt in „Enemy“ den kompakten, dezenten Ausdruck. Langsam und lauernd spürt er dem dramaturgisch bewusst heruntergefahrenen Geschehen nach, das aus assoziativen Motivketten und vielschichtigen Indizien eine Art narrative Kreisbewegung formt. Die Musik von Danny Bensi und Saunder Jurriaans wird zu deren Rhythmus. Hypnotisch wie der Sound quält sich die traumartig-befremdliche Handlung voran, schockierend wie die atonalen Einsprengsel verwandelt sie sich trotz aller (gewollten) Zähigkeit in einen unaufhaltsamen Sog ohne Hoffnung auf ein Happy-End, ja ohne jeglichen Ausweg. Wie könnte es überhaupt ein Ende geben, wenn selbst die ganze Historie, wie Adam seinen Studenten erzählt, ohnehin eine ewige Wiederholung zyklischer Muster ist? Hegel und Marx sind ihm da philosophische Gewährsmänner.

Die Anonymität

Bevor sich Adam seines Doppelgängers bewusst wird und in eine existenzielle Krise gerät, ist er bereits in einem surrealen Alptraum gefangen. Kameramann Nicolas Bolduc zelebriert unter anderem mit Hilfe von Farbfiltern ein subtil verstörendes, klaustrophobisches Toronto als urbane Paranoia-Phantasie. Wie hinter einem gelb-beigen Schleier liegt die kanadische Metropole beinahe ausgestorben da, ist ver- und entfremdet in ihrer doppelbödigen Anonymität. Brutalistische Wolkenkratzer-Architektur dominiert den irrealen Anblick solcher suggestiven High-Art-Ästhetik. Dass Adam von Toronto als Skyline träumt, durch die eine gigantische, Louise Bourgeois` Skulptur ’Maman’ nachempfundene Monsterspinne läuft, akzentuiert nur ihren Kulissencharakter.

Dort fristet Adam ein Dasein, das ihn buchstäblich gebeugt hat. Physisch wie psychisch wirkt er in sich zusammengesunken, und hätte er nicht Anthony getroffen, würde er immer noch in depressiver Langeweile verharren. Jake Gyllenhaal verleiht diesen beiden Männern ein Gesicht, aber zwei Persönlichkeiten. Seine hochfeine Mimik und die sublim variierende Proxemik machen aus Adam einen verzagten Passiven, aus Anthony hingegen einen ungezügelten Aktiven. Als der sich für Adams hübsche Freundin zu interessieren beginnt, bringt er die mühsam aufrechterhaltene Balance zwischen den Personen zum Einsturz.

Die Angst

Der Doppelgänger ist ein klassisches kulturelles und künstlerisches Motiv, das von der ewigen Angst wie Lust am Alter Ego kündet. Und von der Unergründlichkeit der persönlichen Identität. Speziell in der westlichen Gegenwartsgesellschaft, in der unverwechselbare Individualität und der Wunsch nach Einzigartigkeit zum Kult erhoben werden, ist Ent-Individualisierung gleichbedeutend mit dem Verlust der Persönlichkeit. Einen Doppelgänger zu haben, der einem nicht nur gleicht, sondern einen gar ersetzen könnte, ist purer Schrecken. „Enemy“ wiederum läuft etwa im Gegensatz zu dem klugen Horrorfilm „The Broken“ (2008) von Sean Ellis weniger auf die Original/Kopie-Problematik hinaus, sondern fordert in Anlehnung an José Saramagos Roman eher eine freudianische Deutung heraus. Ich, Es und Über-Ich fechten einen ins Unterbewusstsein verdrängten, moralischen Konflikt aus zwischen libidinöser Obsession und familiärer Intimität, zwischen Trieb und Gewissen. Dennoch… war alles wirklich nur ein vorübergehender Wahn? Eine archetypische Angstvision?

Das ist beinahe zuviel (Psycho-)Logik für einen Film, bei dem literarisch Franz Kafka um die Ecke lugt und cineastisch Stanley Kubrick oder David Lynch winken. Allzu eindeutig will Denis Villeneuve auch gar nicht sein, lässt über „Enemy“ trotz aller Stilisierung eine Art dumpfe Schicksalhaftigkeit und eine Ahnung von Unheil schweben. Seine Düsternis ist die der rätselhaften Psyche, seine Tristesse die der vorhersehbaren Alltagsroutine. Dazwischen steht der Mensch, verwirrt von der Begegnung mit sich selbst, gescheitert an seiner neurotischen Janusköpfigkeit. Die letzte Szene – ein Schock für Arachnophobiker – bringt keine Erlösung. Von den Hirngespinsten des Ich kann sich niemand lösen, weder in eigener noch fremder Gestalt. Um es mit Romain Gary zu sagen: „Je me suis toujours été un autre.“ („Ich war mir immer schon ein anderer.“)

„Enemy“ (Spanien, Kanada 2013)
Regie: Denis Villeneuve
Darsteller: Jake Gyllenhaal, Mélanie Laurent, Sarah Gadon, Isabella Rossellini
Ab 22.5.2014 im Kino

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz