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„Samba Goal – Elf Geschichten aus Brasilien“: Die schönste Art, sich auf die Fußball-WM vorzubereiten

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Leben ist eine runde Sache. Zumindest in Brasilien, wo Fußball den Rang eines Nationalgutes einnimmt. Wenn im Sommer 2014 dort die 20. Fußball-Weltmeisterschaft angepfiffen wird, beginnt ein Monat der Euphorie. Zum Lesen bleibt da keine Zeit mehr. Deshalb gilt es, sich schon vorher auf das größte Ereignis des Jahres einzustellen, am besten mit der Anthologie „Samba Goal – Elf Geschichten aus Brasilien“. 2006, als in Deutschland die WM stattfand, wurde die Originalausgabe in Brasilien veröffentlicht; jetzt hat eine Übersetzung ihren Weg hierher gefunden, wo Fußball ebenfalls Nationalsportart ist. Dennoch läßt sich die Begeisterung in Europa nicht mit dem Jubel in Südamerika vergleichen. In Brasilien ist Fußball der allumfassende Brennpunkt von Träumen, Hoffnungen, Sehnsüchten, er durchdringt die Gesellschaftsschichten und bestimmt das Dasein in sämtlichen Phasen.

Mit Ausnahmen wohlgemerkt, die aber bekanntermaßen nur die Regel bestätigen. Von einer besonders kuriosen Ausnahme erzählt Antonio Carlos Olivieri in „Viva Maradona!“. Aus purer Verzweiflung und Trotz wird ein Brasilianer, der sich zum Schrecken seiner Eltern nie für Fußball interessierte, zu einem Anhänger der argentinischen Nationalmannschaft: „(…) entdeckte ich eine Technik, mit der ich mir im Stillen eine geradezu ekstatische Lust bereitete: Ich hielt einfach gegen die brasilianische Seleção. (…) denn offen gegen Brasilien zu sein, brachte unmittelbare Lebensgefahr mit sich.“ So herrlich sarkastisch und spöttisch diese Story ist, so zielgenau trifft sie den Kern der Bedeutung von Fußball. Als Lebensgefühl macht er einen entscheidenden Teil der brasilianischen Existenz aus. Wer sich ihm verweigert, gilt als sozial Vogelfreier.

In Brasilien herrscht eben eine sportliche Monokultur. Davon wissen die elf zeitgenössischen, in Deutschland eher unbekannten brasilianischen Autoren zu berichten, wobei ’Wissen’ durchaus wörtlich zu verstehen ist. Tatsächlich ist aus ihren Geschichten neben Fußball-Leidenschaft echte Fußball-Kennerschaft zu lesen, die sowohl Technik und Taktik als auch die Psychologie des Spiels umfaßt. Ob Daniel Piza die inneren Kämpfe eines Verteidigers während des entscheidenden Matches darlegt, ob Domingos Pellegrini eine Elegie über den tragischen Abstieg Mané Garrinchas verfaßt, den neben Pelè bedeutendsten brasilianischen Fußballer, oder ob João Antônio die irrationalen ’Seelen der Fußballfans’ essayhaft seziert – hier ist literarische Fiktion das Produkt von Erfahrung, Erkenntnis und Einsicht in die psychischen Dimensionen von realem Fußball.

Darüberhinaus muß brasilianischem Fußball auch eine politische Bedeutung zugesprochen werden. In diesem Land, das nach rund zwanzigjähriger Militärdiktatur erst 1985 wieder die Demokratie einführte, braucht es Fußballturniere, um gesellschaftliche Entwicklungen zu diskutieren. Dann können die ansonsten unterdrückten Emotionen hochkochen, wie Ricardo Soares in seiner humorvollen, autobiographisch gefärbten Familienerzählung veranschaulicht. Wobei alle Animositäten unter den Debattierkünstlern kurzzeitig vergessen sind, wenn die Seleção den WM-Cup gewinnt. Ein Glück übrigens, daß sie 1970 siegte. Wäre damals nicht Brasilien, sondern Italien Weltmeister geworden, würde der südamerikanische Staat heute nicht mehr existieren! Zumindest behauptet das José Roberto Torero in seiner schwarzhumorigen Parodie „Wären die Dinge anders verlaufen, wäre es heute nicht, wie es ist“.

Es kann als historischer Zufall betrachtet werden, daß Brasilien heute derart fußballverrückt ist. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als England sich zur Fußballnation zu entwickeln begann, kamen die Engländer für diverse Bauprojekte nach Brasilien. Und brachten das runde Leder mit. Zunächst war Fußball etwas für die weiße brasilianische Oberschicht; erst der 1930 an die Macht gelangte Präsident Getúlio Vargas änderte dies, wozu der Sportanthropologe Martin Curi anmerkt: „Er hatte die Idee, ein nationales, ein einigendes Symbol zu gründen. Dieses große Symbol war die Fußball-Nationalmannschaft. Bis dahin wurde die schwarze Bevölkerung immer als Makel angesehen. Vargas war der Erste, der gesagt hat: Nein, das ist ein Vorteil.“ Damit wäre auch erklärt, weshalb die Erzählungen aus „Samba Goal“ Fußball nie als bedeutenden Wirtschaftsfaktor thematisieren, in dem sich keine Ideale mehr, sondern kapitalistisch schwergewichtige Interessen verfangen. Stattdessen dominiert der private Blickwinkel, etwa in Wladyr Naders burlesken Beinahe-Abenteuern eines verrückten Fans. Nach brasilianischer Mentalität gehört Fußball dem Volk, er wird er- und gelebt!

Tatsächlich vermitteln alle Geschichten der Anthologie, obwohl oder gerade weil sie unterschiedliche Stile und Genres repräsentieren, etwas von der einigenden Macht und verbindenden Kraft des Fußballs. Das gilt gesellschafts-, jedoch nicht geschlechterübergreifend. In einem von Machismo gepägten Land bleibt Fußball primär Männersache. Schade eigentlich, denn würde nicht jedes Mädchen gerne mal mangels Alternativen mit einem Schädel kicken wie in Miguel Sanches Neto charmanter Jugend-Sozialstudie „Mit den Toten spielen“? Stattdessen werden sie bei Wladimir Catanzaro zu Traumobjekten kleiner Jungs, die erst ein Knopffußballturnier und später viel Wichtigeres verlieren. Noch viel später sind diese Jungs vielleicht längst abgehalfterte Keeper, über die Luiz Galdino schreibt, mit einem Loch in ihrem Leben, so groß wie ihr Tor.

Apropos Altstars: In „Der Mann in Schwarz“ von Lourenço Cazarré, vielleicht die bewegendste Geschichte der Anthologie, wird ein Denkmal allen Großen des Sports gesetzt, die klein enden. Doch egal wie heruntergekommen sie sind, die Erinnerung an ihre Fußballheldentaten verleiht ihnen eine ewige Würde. Zu Recht hat der schottische Spieler und Trainer Bill Shankly einmal gemeint: „Some people think football is a matter of life and death. I don’t like that attitude. I can assure them it is much more serious than that.“ Dem wäre nichts hinzuzufügen. Oder doch: Viva futebol!

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Samba Goal. Elf Geschichten aus Brasilien.
dtv Verlag, München 2013.
144 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-13: 9783423142588

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