Gegen das Spektakel der Phrasen
Marie Darrieussecq und das Karussell der Literaturpreise in Frankreich
Von Emily Jeuckens
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Prix médicis“ prangt in riesigen blauen Lettern auf der zweiten Auflage von „Il faut beaucoup aimer les hommes“: Ein Preis im Namen der sagenumwobenen florentinischen Adelsfamilie der Medici für Marie Darrieussecq, der auf dem Buchcover mehr Platz einnimmt als Titel und Autorin zusammen. Die nach den Medici benannte Auszeichnung ist der Meinung der Preisträgerin zufolge, wie könnte es anders sein, eine besondere Ehre. Gemäß der Logik des französischen Literaturmarktes ist die Ehrung vor allem eines: eine Garantie für weitere Preise und ein kräftiger Aufwind für die Tantiemen. Ihr Verlag hätte das Cover nach der Preisverleihung im Herbst anpassen können, doch noch immer bedecken die hastig produzierten Labels „Prix médicis 2013“ zwei Drittel des Deckblattes. Französische Literaturpreise sind mehr als eine Anerkennung der Jury: Sie dominieren die Ökonomie des Buchmarktes.
Die Auszeichnung für Marie Darrieussecq war im Vorfeld von Buchmachern vorhergesagt worden und ist dennoch eine Überraschung: Als eine der wenigen Autorinnen schaffte sie es mit einem kleinen Verlag wie P.O.L. auf die geheimen Listen der Nominierten. Im Gespräch erläutert sie trocken, dass es tatsächlich die Tendenz gebe, Autoren, die nicht von etablierten Häusern wie Grasset vertreten werden, zu übergehen: „Es ist sehr, sehr schwer, als junger Autor Fuß zu fassen, wenn man nicht das Glück hat, bei den ,Großen‘ zu landen. Trotzdem ist die Welt nicht schwarz-weiß, denn die großen Verlage sichern seit Jahren einen hohen Standard der Gegenwartsliteratur“.
Zum Standard der Gegenwartsliteratur gehört nun auch, offiziell prämiert, ihr neuester Roman „Il faut beaucoup aimer les hommes“ – benannt nach einem Zitat der großen französischen Schriftstellerin und Drehbuchautorin Marguerite Duras („Hiroshima, mon amour“, 1959): „Man muss die Männer wirklich lieben. Sehr, sehr lieben. Sonst wären sie nämlich nicht auszuhalten“. Es ist diese Art von Klischee, das Darrieussecq in ihrer Prosa aufzuzeigen und zu ironisieren sucht: „Es gibt nichts Gefährlicheres oder Typischeres für unsere Zeit als Klischees und Phrasen – wie Frauen zu sein haben, wie Paare zu funktionieren haben, beispielsweise. Die gesamte Politik hat sich in ein Spektakel der Phrasen verwandelt“.
Gegen die Inhaltsleere dieser Phrasen richtet sich die Protagonistin Solange: Als junge Schauspielerin aus dem Baskenland trifft sie im schwülen, überkandidelten Hollywood-Business ein: Zwischen Abbildern der Schauspieler unserer Zeit (wie George Clooney und Matt Damon – auch sie medial inszenierte Klischees, so Darrieussecq) wandelt sie schlafwandlerisch durch die staubigen Straßen in der Fremde, stets gefangen in der Rolle des unschuldigen „frenchie girls“. Bei einer Party trifft sie den Kameruner Kouhouesso, mit dem sie sich in mehrere kurze Romanzen stürzt, die unter den argwöhnischen Augen der latent rassistischen Umwelt stattfinden.
Stets von neuem stehen die Protagonisten vor Vorurteilen und Klischees, die ihre Beziehung trotz der proklamierten Toleranz hervorruft: Hautfarbe als distinktives Merkmal scheint auch im 21. Jahrhundert noch zu polarisieren. „Schläfst du mit mir, weil du mich liebst, oder weil du keine Rassistin sein willst?“ fragt Kouhouesso ebenso melancholisch wie bitter.
„Il faut beaucoup aimer les hommes“ spielt mit unserem Bild Hollywoods, jener medialen Illusion einer Heterotopie der Reichen und Schönen. Im Roman tritt die Absurdität dieser doppelten Inszenierung in Form realer Personen aufs Parkett, die ihre Rollen nicht mehr verlassen können. Darrieussecqs Roman lebt von dieser Ambiguität zwischen dem realen Hollywood und der Fiktionalisierung (und damit zugleich: Demaskierung) seiner Klischees, zwischen medial konstruierter und narrativ erzeugter Illusion – und wurde daher im Herbst zurecht mit dem Prix médicis ausgezeichnet.
Man kann sich über den großen Karneval der Literaturpreise und über die im Geheimen tagenden renommierten Literaten nur wundern – und ebenso über deren Entscheidung, andere, gleichfalls starke Werke der Marie Darrieussecq (wie das wilde „Schweinereien“, 1996, oder das sprachlich fulminante Werk „Prinzessinnen“, 2011) in den letzten Jahren zwar zu nominieren, letztlich jedoch nicht auszuzeichnen.
Dass es in Deutschland neben dem Nobelpreis für Literatur und dem Deutschen Buchpreis mit Glück noch der Georg-Büchner- und der Heinrich-von-Kleist-Preis in die Tagespresse schaffen, beobachtet man im Deutsch-Französischen Kulturzentrum mit Erstaunen. Denn in den französischen Medien gibt es im Herbst, zur großen rentrée von Schulen, Universitäten und Politkern nur ein Thema: Die großen Literaturpreise. „Alle Welt spielt verrückt im Herbst – sie kommen aus den Ferien zurück und spielen verrückt“, sinniert Darrieussecq. „Es gibt einfach ein wahnsinnig großes Interesse an diesen Preisverleihungen“.
Vier Wochen lang lesen ausgewählte Vertreter des Feuilletons und der Literaturwissenschaft die Vorabdrucke der großen Verlage, während vor den Türen geheime Listen kursieren und Wetten abgeschlossen werden. Kritikerin Laurence Cossé verfasste 2009 selbst einen Roman („Der Zauber der ersten Seite“, „Au bon roman“ i.O.) über die Schwierigkeit, sich in kürzester Zeit in hunderte Erzählwelten zu stürzen, während vor den Fenstern Journalisten warten und Fernsehsender live aus den Literaturcafés berichten. Sie gewann keinen Preis.
Bis die Jurys im November bei großen Pressekonferenzen und Galas der wartenden Öffentlichkeit ihre Verkaufsempfehlungen für das Herbstprogramm verkünden, wird ein groß angelegter medialer Trubel veranstaltet. Sieben große Preise werden in den Herbstwochen in Paris vergeben, sie entscheiden über Tantiemen der Autoren, Erfolg und Durchbruch und über den wirtschaftlichen Gewinn, den ein Schriftsteller seinem Verlag einbringt – denn wer unter den sieben Glücklichen ist, kann sich seines Platzes auf den Listen der meist verkauften und bis ins neue Jahr hinein verschenkten Werke sicher sein.
„Einerseits reden wir von einem sehr, sehr kommerziellen Blick auf Literatur“, erklärt Marie Darrieussecq. „Andererseits steigert dieses mediale Spektakel ja tatsächlich das Interesse der Menschen an Büchern – nicht nur an Neuerscheinungen, sondern auch an Klassikern“.
Diese These belegt ein Blick auf den populären Blog „la république des livres“ des Feuilletonisten und Autors Pierre Assouline. Mit sprachlich und inhaltlich anspruchsvollen Beiträgen diskutiert er täglich die Entwicklungen und Neuerscheinungen in Epik, Lyrik und Dramatik mit seinen Lesern. Durchschnittlich 800 bis 1200 von ihnen kommentieren seine Rezensionen, teilweise über mehrere tausend Zeichen hinweg.
Doch das massive mediale Aufgebot dient nicht allein der selbstlosen Verpflichtung der Sendeanstalten zur Kultur: Die beiden großen Verlage, deren Schriftsteller auch 2013 die Listen der Nominierten anführten (6 von 7 Nominierungen für Hachette/Grasset oder Flammarion), haben mehr Einfluss auf die Medienbranche, als es aus deutscher Perspektive scheint: Große Verlage sind in Frankreich in Medienkonzerne eingegliedert, die ebenfalls Fernsehanstalten, Radiosender und Werbeagenturen betreiben und deren Umsätze konstant steigen. So verbuchte Lagardère Publishing, zu welcher Hachette, mehrere große Sportveranstalter und Disney Frankreich gehören, im Jahr 2011 2,1 Milliarden Euro Umsatz.
Vor diesem Hintergrund erscheint es logisch, die vorhandene Infrastruktur zu nutzen, um mit Hilfe des hauseigenen Fernsehsenders das mediale Interesse für ein selbstveranstaltetes Spektakel anzutreiben, so dass am Ende des Jahres sowohl Konzern als auch Autor profitieren.
Dass in jeder Jury ebenfalls Journalisten des Feuilletons dieser Medienhäuser sitzen, ist konsequent. Auch Marie Darrieussecq wurde erst nominiert, nachdem ihr Verlagshaus P.O.L. 2012 von Teresa Cremisis Medienkonzern Flammarion übernommen worden war.
So entstehen Bilder von sich drängenden Kamerateams bei der Verkündung der Preisträger nicht nur für eine begierige Öffentlichkeit, sondern auch aus kommerziellem Interesse. Über alle verfügbaren medialen Kanäle stellt der Literaturmarkt vor seinen Konsumenten die eigene Relevanz zur Schau, bis der Leser über das Spektakel dessen Inszeniertheit vergisst.
Aus marktwirtschaftlicher Perspektive könnte man fragen, ob französische Leser die Abenteuer der charmanten Solange ohne das dicke blaue Banner des Prix médicis beachtet hätten.
Aus literaturkritischer Perspektive könnte man fragen, wer sonst die Abgründe zwischen den gesellschaftlich projizierten Erwartungen an Weiblichkeit, Partnerschaft und Herkunft ausleuchtet – und wer der fiktiven Realität Hollywoods einen Spiegel vorhält, wenn nicht Marie Darrieussecq.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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