Kindheit am Ende des Sommers

„Ich habe keine Angst“ (2003) – Gabriele Salvatores` eindringliche Verfilmung des Coming-of-Age-Romans von Niccolò Ammaniti

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

So sieht er aus, der heitere Sommer der Kindheit: ein reifes Kornfeld in Gelb, ein weiter Himmel in Blau und unendlich viel Zeit. Ausgelassen rennen ein paar Kinder durch diese ungetrübte Pracht, wild und frei wie Vögel. Doch schon gibt es die ersten Irritationen: Ein Rabe krächzt auf, ein gepfähltes Huhn hängt mitten auf dem Acker, die Gruppendynamik unter den Kindern ist vom Zwang zu bösen Mutproben geprägt. Auch im Süditalien der ausgehenden 1970er Jahre ist die Welt längst nicht (mehr?) in Ordnung.

Das merkt der 10jährige Michele freilich erst, als er bei einem einsamen Gutshof ein Loch im Erdboden entdeckt und darin einen völlig verstörten, verschmutzten Jungen. Immer wieder zieht es ihn zu dem gleichaltrigen Eingesperrten, den er mit Wasser und Brot, schließlich mit gemeinsam verbrachter Zeit und etwas wie Freundschaft ’versorgt’. Als wäre dieses Szenario nicht schon bizarr genug, muß Michele erkennen, daß er in einen Entführungsfall hineingeraten ist. Für den versteckten Filippo, der aus dem vermögenden Norden stammt, wird seit zwei Monaten ein Lösegeld gefordert. Offenbar ist das ganze Dorf, ein kümmerlicher Flecken im Nirgendwo, in das Verbrechen verwickelt, auch Micheles Eltern. Für Michele geraten alle Verbindlichkeiten ins Wanken. Nur eines ist gewiß: Mit diesem Sommer wird auch seine Kindheit enden.

Abenteuer und Horror

„Io non ho paura“ (2001) von Niccolò Ammaniti ist tiefgreifendes Jugenddrama und spannender Krimi in einem, vor allem aber ein glaubwürdiger Entwicklungsroman. Vom inzwischen erwachsenen Protagonisten rückblickend aus der Ich-Perspektive erzählt, behält die Geschichte dennoch einen kindlichen Ton bei und entwickelt so ihre Intensität wie Authentizität. Dieser Kunstgriff verleiht auch der Kinoadaption, zu der Francesca Marciano und der Autor selbst das Drehbuch geschrieben haben, eine genuine Kraft. Schon die sensible Kamera von Italo Daniele Petriccione geht physisch und psychisch tatsächlich ganz auf Augenhöhe von Michele. Seine zunächst naive Sicht ist die des Films, sein kompliziertes Gefühlsleben markiert die emotionale Spanne, selbst sein mal ungestümes, mal abwartendes Temperament bestimmt den narrativen Rhythmus.

Darüber hinaus zeichnet sich die Dramaturgie durch unaufgeregte Beiläufigkeit aus. Das läßt die Story zu Anfang, wenn die Grenze zwischen Spiel und Ernst noch durchlässig ist, in einer eigenartig irrealen, flirrenden Unbestimmtheit verharren. Alles könnte ein aufregendes Abenteuer, ein Märchen sein, eingerahmt von poetisch stimmungsvollen Naturbildern und einem betörenden Geigen-Sound. Michele begreift, daß er eine Art höchst gefährlichen Schatz aufgestöbert hat, aber er erzählt niemandem etwas davon. Das mag teils Furcht vor der grotesken Fremdartigkeit des Fundes sein, teils Unbefangenheit und Faszination am neugierigen Erkunden der Welt. Dieses Geheimnis gehört nur ihm, auch wenn er bereits dessen Abgründigkeit ahnt. Demzufolge mischt sich Horror ins Geschehen, gewissermaßen ein surrealer Schrecken, der das Vertrauen in den Alltag und die Erwachsenen nachhaltig erschüttert. Der Traum eines Sommers wird zum Alptraum der Erkenntnis.

Landschaft und Moral

All das liegt bereits in der sanft hügeligen Landschaft. Ihre ungeheure Leere, über der drückende Hitze steht, verheißt Freiheit und Bedrohung zugleich. Ein ferner Horizont läßt Hoffnung auf ungeahnte Möglichkeiten erwachen, die Kargheit der Umgebung führt auf den überaus harten Boden der Tatsachen im ärmlichen Süden Italiens zurück. In solch einer Umgebung scheinen die Kinder meist mehr oder weniger auf sich alleine gestellt. Ärger gibt es nur, wenn sie abends nicht rechtzeitig nach Hause zurückkehren. Ansonsten sind sie unbeaufsichtigt – und insofern diesen beunruhigenden Weiten, im wirklichen wie im ethischen Sinne, schutzlos ausgeliefert.

Nur Michele, von Giuseppe Christiano mit berührender Wahrhaftigkeit und Ernsthaftigkeit verkörpert, beweist immer wieder sein sublimes Gespür für Ungerechtigkeiten. Einmal bewahrt er ein Mädchen vor sexueller Demütigung, ein andermal will er seine Mutter vor gewalttätigen Übergriffen schützen. Woher er diesen Hang zum gelebten Ethos und zur Fürsorge nimmt, bleibt angesichts zwar liebender, jedoch eher selten liebevoller Eltern vage. Vor allem der großspurige Vater mit seiner Neigung zur Despotie ist nie Vorbild. Woher Michele hingegen die Stärke nimmt, sich gegen den moralischen Strom zu stellen, läßt sich erklären. Es ist die Phantasie! Probleme oder Konfliktsituationen aus der realen Welt verarbeitet er in selbsterzählten Geschichten, wofür der Film ein wunderschönes Bild findet. Einmal sitzt Michele wie ein Gespenst unter der Bettdecke, leuchtet mit der Taschenlampe und schreibt seine Ideen in ein Buch. So allein und abgeschlossen er in seiner ’Höhle’ von der Außenwelt ist, so autonom trifft er zuletzt seine Entscheidungen. Als die Erntemaschinen auf dem Hügel erscheinen und die ersten Gewitter losdonnern, kündigt sich eine neue Jahreszeit wie Lebenszeit an.

Leben und Wissen

Regisseur Gabriele Salvatores inszeniert das letzte Aufflimmern einer bislang sorgenlosen Kindheit als Milieustudie ohne Pathos, aber mit melancholischer Empathie. Indem er stets den Blickwinkel Micheles beibehält, akzentuiert er nicht nur dessen Bedeutung, sondern legitimiert ihn als ernsthafte Weltbetrachtung. Es ist ein Kosmos, der zu dem kindlichen Protagonisten wahrnehmungspsychologisch auf vielfältige, oft rätselhafte Weise spricht. Tiere werden zum Ausdruck und Symbol dieser Kommunikation. Da hängt ein Wespennest in der Scheune, da liegt eine tote Schlange auf dem Weg, oder eine Eule schlägt eine Maus. Die aggressiv grunzenden Schweine eines Nachbarn künden überdeutlich vom Grauen dieser Welt, in der das Schicksal schon vorgezeichnet scheint. Und Michele betet um Mut: „Ihr haarigen Spinnen, Ihr giftigen Eiben, Ihr schleimigen Schnecken und blinden Blindschleichen – Haltet Euch fern von unseren Kindern! Ihr nächtlichen Tiere, die das Dunkel lieben; Ihr, die Ihr nicht schlaft, bevor es nicht hell wird – Wacht über den Schlaf unseres Kindes!“ Tiere bedrohen nicht nur mit ihrer Anwesenheit, sondern bieten auch Schutz. Schließlich stehen sie für das Gesetz des Lebens. Ihm paßt sich Michele, in dessen stilles Zimmer sich einmal ein Spatz verirrt, zuletzt mit allen Konsequenzen an.

Im Gegensatz zu den Erwachsenen verdrängt er nicht, daß Filippo kein finanzielles Spekulationsobjekt mit reichen Eltern, sondern einer von ihnen ist. In einem glücklichen Moment erkennt er: „Wir sind beide gleich!“ Das gibt ihm die Stärke, die titelgebende Angst zu überwinden, und zwar für beide. Durch die lange, einsame Gefangenschaft total verschreckt, glaubt Filippo, längst tot zu sein. In Michele sieht er einen Engel. Der muß Mut für Zwei aufbringen, um Filippo buchstäblich zurück ans Licht zu holen und sich damit gegen Autorität, Willkür und Schuld der Erwachsenen zu wenden. Widerstand in Kombination mit Verantwortung besiegelt das Ende seiner Kindheit.

Allerdings ist dies nicht als Vertreibung aus dem Paradies zu verstehen, weil es mit dem Erwerb von Wissen und dem Einsatz von Gewissen einhergeht. So betrachtet knüpft das Finale von „Ich habe keine Angst“ an die kluge Schlußformulierung aus „Peter Pan“ (1911) von James M. Barrie an: „(…) so long as children are gay and innocent and heartless“. Michele hat seine Unbeschwertheit und seine Unschuld verloren. Doch er hat sein Herz gefunden. Kein schlechter Tausch.

„Ich habe keine Angst“ („Io non ho paura“, Italien, Spanien, Großbritannien 2003)
Regie: Gabriele Salvatores
Darsteller: Giuseppe Cristiano, Mattia Di Pierro, Dino Abbrescia, Aitana Sánchez-Gijón, Diego Abatantuono
Laufzeit: 105 Min.
Verleih: Studiokanal
Format: DVD

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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