Geschichte(n) für alle

Das italienische Autorenkollektiv Wu Ming

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte ist eine Erfindung, zu der die Wirklichkeit ihre Materialien liefert. Aber sie ist keine beliebige Erfindung. Das Interesse, das sie erweckt, gründet auf den Interessen derer, die sie erzählen; und sie erlaubt es denen, die ihr zuhören, ihre eigenen Interessen, ebenso wie die ihrer Feinde, wiederzuerkennen und genauer zu bestimmen.
(Hans Magnus Enzensberger: Der kurze Sommer der Anarchie)

Als im Jahr 1999 bei dem renommierten italienischen Verlagshaus „Einaudi“ in der Reihe „Stile Libero“, einer Verlagsreihe für junge und bis dato wenig bekannte Autoren, ein historischer Roman über die Reformationszeit in Deutschland unter dem kryptischen Titel Q erschien, mochte sich der ein oder andere italienische Fußballfan mittleren Alters leicht gewundert haben, führt das Cover doch einen „Luther Blissett“ als Autor an, an den man sich höchstens noch als glücklosen Stürmer der Saison 83/84 des Berlusconi-Klubs AC Mailand erinnern konnte, der weder als überragender Fußballspieler noch als besonders wortgewandter Redner aufgefallen wäre. Tatsächlich jedoch verbarg sich hinter dem Namen ein Autorenkollektiv und kein Sportler. Das Pseudonym „Luther Blissett“ war ein seit den frühen 90er Jahren in linken Aktivistenkreisen gebräuchliches Kollektivpseudonym, das vor allem in norditalienischen Städten wie beispielsweise Bologna – seit jeher ein Zentrum linker Intellektueller in Italien – von zumeist links orientierten KünstlerInnen als Signatur ihrer Streiche, Störungen der öffentlichen Ordnung, politischen Pamphlete und medialen Täuschungsmanöver verwendet worden war. Einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurden Luther Blissett durch ihre Inszenierung des (angeblichen) Verschwindens des (angeblichen) englischen Künstlers Harry Kipper, der auf einer (angeblichen) Fahrradtour durch Europa mit dem Ziel, mittels der gefahrenen Route das Wort »ART« quer über den Kontinent zu schreiben, an der italienisch-jugoslawischen Grenze (angeblich) plötzlich verschwunden war. Die Absurdität der Geschichte hinderte die Redaktion der sensationsgierigen italienischen Fernsehshow »Chi l´ha visto?« nicht daran, dem Verschwundenen Kipper nachzuspüren und einen Bericht zu drehen, der allerdings kurz vor der Ausstrahlung gekippt wurde. Luther Blissett machten die Täuschung allerdings durch überregionale Tageszeitungen publik und wollten damit auf die Unmenschlichkeit der Sendung, die vor allem durch die Darstellung des Leides der Angehörigen und die Ausstellung der Emotionen der Betroffenen Quote macht, hinweisen. Weitere Aktionen dieser Art folgten, bis das Kollektiv 1999 mit dem Roman Q an die Öffentlichkeit trat.

Als historischer Roman erzählt er von den Jahren zwischen Reformation und Gegenreformation in Deutschland, den Niederlanden und Italien zwischen 1519 und 1555, von den Bauernkriegen, Thomas Müntzer, Luther, den Fuggern, der päpstlichen Inquisition, dem legendären Manifest Beneficio di Cristo, den Wiedertäufern und nicht zuletzt in einem fulminanten Ausblick vom Import des Kaffees nach Europa. All das ist spannend und ‚süffig‘ erzählt, wie die Kritik gern feststellt, die Besonderheit des Romans liegt jedoch an anderer Stelle: darin nämlich, dass Luther Blissett ihren politischen Aktivismus mit Q – und allen folgenden Romanen – nicht nur inhaltlich-thematisch sondern strukturell in die Literatur zu übertragen versuchen.

Die Praxis des copyleft und die Politik des Erzählens

Nicht nur verweigerten sich Luther Blissett mit der Verwendung eines Kollektivpseudonyms den Gesetzen des Literaturbetriebs, denen nach der Autor oder die Autorin als Person identifizierbar und vermarktbar sein muss (die biographische Notiz auf jedem Buchdeckel zeugt davon), sie gingen sogar noch weiter und verzichteten auf das mit dieser Identifzierbarkeit verbundene Recht auf den Schutz des geistigen Eigentums – das copyright. Das Impressum von Q erlaubte im Gegenteil dezidiert die „riproduzione parziale o totale dell´opera e la sua diffusione per via telematica“, also das freie Kopieren und die Vervielfältigung des Textes – womit Q wohl den ersten Fall eines copyleft-Romans darstellt, für dessen Publikation der Verlag Einaudi auf sämtliche Urheberrechte verzichten musste. Dessen ungeachtet war er ein wirtschaftlicher Erfolg, verkaufte sich in Italien gut und ist in mittlerweile mehr als zehn Länder verkauft und übersetzt, so auch nach Deutschland, wo der Piper-Verlag 120.000 DM für das Manuskript zahlte. Mit dieser speziellen Veröffentlichungspraxis praktiziert das Kollektiv damit etwas, was es innerhalb des Romans auf  der Handlungsebene thematisiert: Fragen um Finanzkapital, Eigentum, Vermarktung und Kommerzialisierung – Q ist nämlich auch ein historischer Roman in dem Sinne, dass er die Anfänge des modernen Finanzkapitalismus nachvollziehbar macht und die groteske Seite des Geldsystems darstellt und kritisiert.

Innerhalb des Buchmarktes und damit als Teil des ökonomischen Systems veröffentlicht, ist der Text dennoch ein Aufbegehren gegen genau dieses System und ein Anschreiben gegen Strukturen aus dem Inneren heraus. Diese Praxis der Subversion, wie man sie bezeichnen kann und muss – Luther Blissett waren auch Co-Autoren des inzwischen in fünfter Auflage verfügbaren Klassikers der Gesellschaftskritik „Handbuch der Kommunikationsguerilla“ (ein begleitender Blog findet sich unter [Link zu: http://kommunikationsguerilla.twoday.net/]) – findet ihren Höhepunkt dann auch darin, dass der Logik des Buchmarktes final zuwidergehandelt wird, indem Luther Blissett kurz nach Veröffentlichung von Q seppuku, also rituellen Selbstmord begingen. Das Kollektiv löste sich auf, beziehungsweise transformierte sich und wurde seit dem Jahr 2000 unter dem Namen Wu Ming, Mandarin für ‚namenlos‘, fortgeführt. Die, wie inzwischen klar geworden war, vier Autoren, die Wu Ming bildeten, verzichteten auch in der Folge darauf, mit ihren bürgerlichen Namen aufzutreten – allerdings weniger, wie das vor allem von postmodernistisch inspirierten Literaturwissenschaftlern gern kolportiert wurde, aus Gründen der vermeintlichen Ablehnung von Autorschaft allgemein oder der Nicht-Existenz einer geistigen Urheberschaft, sondern vielmehr, um sich dem medialen Spiel mit der Autoren-Biographie und einer Treibjagd durch die Feuilletons zu entziehen. Zugleich verschob sich der Fokus von einem konkreten praktischen Aktivismus in Form von medialen Streichen und Demonstrationen (so beim G8-Gipfel in Genua, aber auch Mitte der 90er bei den Zapatisten in Mexiko) hin zur stärker publizistischen Tätigkeit. Die subversive Praxis, die sie als Luther Blissett begonnen hatten, führten die Autoren unter dem Pseudonym nun auch theoretisch fort. Auf ihrer Website [Link zu: http://www.wumingfoundation.com] stellten sie nicht nur Q zum kostenlosen Download bereit, sondern versuchten auch, das Konzept der Subversion und der Kommunikationsguerilla für die Literatur fruchtbar zu machen und theoretisch zu fundieren.

Die Basis bildet dabei die Überzeugung, dass kulturelles Selbstverständnis noch immer durch bestimmte Ursprungserzählungen geprägt ist, die in Form von ‚Geschichte‘ vermittelt werden. ‚Geschichte‘ ist dabei zunächst einmal wertfrei zu lesen, keinesfalls besteht ein grundsätzlicher Vorbehalt gegen die Historie oder ihre Wissenschaft. Zwei Ansatzpunkt ergeben sich jedoch für Wu Ming: zum einen eine fundamentale Kritik daran, dass ‚Geschichte‘ durch ihre akademische Institutionalisierung einer Bildungselite vorbehalten bleiben soll, während die Mehrheit mit auf narrative Grundmuster heruntergebrochenen Unterhaltungsprodukten abgespeist wird; zum anderen die Feststellung, dass ‚Geschichte‘ instrumentalisiert und propagandistisch verwendet werden kann und immer unter bestimmten Interessen erzählt wird und wurde. Vor allem der zweite Punkt ist geistesgeschichtlich nicht neu, nicht erst seit Nietzsches einflussreichen Gedanken zum Thema ist die manipulative Kraft historischer Erzählungen bekannt. Beide Punkte damit als überholt und nicht mehr zeitgemäß abtun zu wollen, verfehlt jedoch den Hintergrund, vor dem sie von Wu Ming konzeptualisiert werden: das Italien der frühen 2000er Jahre war, womöglich noch stärker als das heutig, medial fest in der Hand des Berlusconi-Imperiums und damit auch das Monopol der Geschichten. Genau dagegen stellen sich Wu Ming und sehen ihre Mission in einem subversiven Kampf gegen das System, also aus seinem Inneren heraus und mit dessen eigenen Mitteln: als Kommunikationsguerilla: »Kommunikationsguerilla will die Selbstverständlichkeit und vermeintliche Natürlichkeit der herrschenden Ordnung untergraben«, heißt es im Handbuch der Kommunikationsguerilla.

Konkret bedeutet das, dass kommunikative Äußerungen aus dem Bereich des Mainstream, also der Medien, aber auch der Kultur, zwar verwendet, aber neu kontextualisiert, arrangiert oder schlicht neu erzählt werden. So hatte man mit Harry Kipper einen Künstler geschaffen, der ganz nach den Gesetzen der Populärkultur funktionierte, als leicht exzentrische Figur mit wahnwitzigem Vorhaben, der ganz in seinem Projekt aufzugehen schien, was seinem plötzlichen Verschwinden natürlich eine besondere Tragik verlieh, die sich von »Chi l´ha visto?« medial bestens aufbereiten und ausschlachten ließ – und damit natürlich im Moment der Offenlegung der Täuschung den Blick auf genau die Mechanismen lenkte, nach denen die mediale Inszenierung funktioniert.

Literarisch wird das sichtbar in dem Nachfolge-Roman zu Q mit dem Titel 54 (2002), der ein Gewebe verschiedener Geschichten aus dem Jahr 1954 darstellt und genau das Moment literarisch zu erfassen sucht, bevor aus der sowjetisch-amerikanischen Oppositionsbildung ein Kalter Krieg wurde. Die Autoren montieren hier einen populärkulturellen Erzählstrang um den Schauspieler Cary Grant mit klassischen Mustern des Agententhrillers und weithin bekannten Versatzstücken aus Mafia-Filmen und kontrastieren das mit einer problematischen Liebesgeschichte – heraus kommt ein temporeicher, unterhaltsamer Roman, dessen subversive Kraft allerdings fragwürdiger, vielleicht weniger offensichtlich als in Q ist.   

Wu Ming arbeiten also mit bereits existentem Material oder innerhalb bestimmter Mechanismen mit dem Ziel einer Gesellschaftskritik und der Störung der öffentlichen Ordnung und damit zwar gegen das, gleichzeitigjedoch innerhalb des Systems mit einer »radicalità di proposte e contenuti, slittamenti identitari, eteronimie e tattiche di comunicazione-guerriglia«, wie sie auf ihrer Homepage erklären (deutsch etwa: mit radikalen Ansätzen und Inhalten, gleitenden Identitäten, Heteronymen und Taktiken der Kommunikationsguerilla). Diese Praxis der Subversion und Guerilla-Kommunikation wird vom Kollektiv jedoch nicht nur auf politischen Aktivismus bezogen, sondern, dezidiert appliziert auf die Literatur und das Erzählen: »il tutto applicato alla letteratura e, più in generale, finalizzato a raccontare storie« (dt.: all das angewendet auf die Literatur, und, noch allgemeiner ausgerichtet auf das Erzählen von Geschichten).

Konzeptuell fundieren Wu Ming diese Vorstellung in ihrem Begriff der mythopoiesis. Für dieses Konzept zentral ist die Annahme einer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung des Erzählens: »Eppure è vero che non si prosegue la lotta contro lo stato di cose presente non si è ispirati  da una qualche narrazione.« (dt.: Aber es ist Tatsache, dass man den Kampf gegen den gegenwärtigen Zustand nicht fortsetzt, wenn man nicht inspiriert ist von einer bestimmten Erzählung). Diese Erzählung besteht aber gerade nicht in der Reproduktion einer erstarrten Mythen- und Legendenbildung in Form einer narrativen Preisung systemkritischer linker Gallionsfiguren wie Che Guevara, die zu einer »iconofilia«, einer Bildhörigkeit führt, die den Blick auf die wirkliche Natur von Konflikten verstellt. Auch die Linken sind dem Verständnis von LB nach von einer Art Personenkult und damit einhergehenden erstarrten Mythen getrieben worden, der verhindert hat, dass die wahre Natur gegenwärtiger Missstände erkannt werden konnte. Daraus resultiert nun aber gerade keine Abkehr von großen Erzählungen oder Mythen, sondern im Gegenteil eine Hinwendung zu ihnen – es erfolgt eine Aufwertung von Geschichten und ein Plädoyer für die unbedingte Notwendigkeit neuer Mythen:

Noi crediamo che la moltitudine esprima un bisogno di nuovi miti fondativi. Radicalmente nuovi, con l´accento posto su entrambi i termini, tanto sulla necessaria radicalità (un andare alla radice, alle radici), quanto sulla novità (postnovecentesca). Perché un altro mondo sia possibile, deve essere possibile immaginarlo e renderlo immaginabile da molti.

(dt.: Wir glauben, dass die Multitude ein Bedürfnis nach neuen Gründungsmythen zum Ausdruck bringt. Radikal neu, mit der Betonung auf beiden Termini: genauso auf der notwendigen Radikalität (ein Gehen zur Wurzel, zu den Wurzeln), wie auf der Novität (das 20. Jahrhundert überwindend). Damit eine andere Welt möglich ist, muss es möglich sein sie sich vorzustellen und sie für viele vorstellbar zu machen.)

So schreiben Wu Ming in Giap!, einem Buch mit theoretischen Aufsätzen. Das Erzählen, die Narration wird zu einem sozialen Akt, weil Geschichten einerseits alternative Zukunftskonzepte vorstellbar machen, zum anderen identitätsstiftend und damit gruppenbildend wirken: »Telling stories is a social process, it´s about ›togetherness‹. Stories are what keeps people together«, so Wu Ming in einem Interview. Und weiter: »The creation of myths […] is at the base of every human community.« Sie sind der festen Überzeugung, dass jede menschliche Gruppenbildung, aber auch die Herausbildung politischer Identität und politischen (Selbst-)Bewusstseins auf Mythen und Erzählungen beruht, womit die Narration zu einer eminent politischen Aktivität wird: »To tell a story is a political activity in the primary sense of the word. Because to tell a story is to share, that is, to make a community.« Für Wu Ming ist Erzählen damit »fundamentally an ethical and political act«.   

Geschichte, um davon zu erzählen

Das Erzählen von Mythen ist insofern zukunftsstiftend, als durch die Offenheit der Mythen und ihre Zugänglichkeit ein Wiedererzählen möglich wird, eine Konzentration auf andere Aspekte, ein neuer Blick auf alte Geschichten, die Möglichkeit, Gegenentwürfe zu liefern und Vergessenes ans Licht holen:

Communities keep sharing such stories and […] they hopefully keep them alive and inspiring […] because what happens in the present changes the way we recollect the past. As a result, those tales are modified according to the context and acquire new symbolic/metaphorical meanings. Myths provide us with examples to follow or reject, give us a sense of continuity or discontinuity with the past, and allow us to imagine a future. We couldn´t live without them, it´s the way our mind works, our brain is ›wired‹ to think through narratives, metaphors and allegories.

Das bedeutet, die Vergangenheit muss immer wieder neu erzählt werden, weil sie sich durch die jeweilige Gegenwart verändert und gleichzeitig grundlegende Strukturen gegenwärtiger Ordnung verstehbar macht. Die Narration gibt uns Beispiele »to follow or reject« und erlaubt uns, eine Zukunft zu entwerfen, in Fortführung oder Abkehr von Gegenwart und Vergangenheit. In diesem Gedanken liegt die Hoffnung, mittels alternativer Zukunftsentwürfe grundlegende politische Veränderungen herbeizuführen. Wenn die herrschende Ordnung bestimmte Modelle mithilfe großer Erzählungen quasi naturalisiert, so wie es mit der Wirtschaftsform des Kapitalismus geschehen ist, eine Alternative also nicht mehr denkbar ist, wird reale Veränderung zusehends unwahrscheinlicher: »Zusehends besteht die Gefahr, daß die Utopie einer anderen Gesellschaft nicht nur als illusorisch verworfen wird, sondern gar nicht mehr gedacht werden kann«, wogegen das Ziel stehen muss, »den Raum für Utopien überhaupt wieder zu öffnen« heißt es im Handbuch der Kommunikationsguerilla. Erzählen wird zu einer Form des politischen Engagements.

Der Stoff des Kollektivs kann demnach vor dem Hintergrund des Konzeptes also keine kontrafaktische Geschichte sein, auch nichts Fantastisches oder Utopistisches, sondern ‚die Geschichte‘ selbst – nur erzählt von einem anderen Standpunkt aus. In Q sind es, wie erwähnt, die Reformation und die Bauernkriege, aber auch das Täuferreich von Münster, die literarisch gestaltet werden, allerdings aus der Perspektive der Besiegten oder Vernichteten. So wird von den Täufern in Münster von ‚Innen‘ erzählt, während die traditionelle Historiographie natürlich – wissenschaftlicher Objektivität folgend – von ‚Außen‘ berichtet. Hier jedoch werden die Täufer und ihre Protagonisten zu literarischen Figuren, sie werden eingefangen mit ihren Hoffnungen und Wünschen, die sie mit dem Täuferreich verbanden. Gleichzeitig jedoch werden die tödliche Ideologie und der radikale Fanatismus der Täufer sichtbar und sehr deutlich vor Augen gestellt. Erzählt wird aus der Perspektive eines namenlosen Ich-Erzählers, der in Münster zunächst frenetisch und hoffnungsvoll, dann erschreckt und schließlich enttäuscht dabei ist und dem die Flucht gelingt. Als Flüchtling in Amsterdam gerät er in den Sog des radikalen Anabaptisten Eligius Pruystinck, mit dessen Hilfe er versucht, das frühkapitalistische System der Fugger auszuhebeln. Die Reise des Namenlosen geht weiter und führt über Italien bis nach Istanbul, wo dann der Nachfolgeroman Altai, 2009 erschienen, ansetzt.

Das literarische Rezept bleibt dabei in allen Kollektiv-Romanen von Wu Ming (die einzelnen Mitglieder schreiben auch ‚Solo‘-Texte) dasselbe: historische Fakten werden aus einer anderen Perspektive beleuchtet und immer sind es Scharnierpunkte der Geschichte, die literarisch dargestellt werden, jene Momente, kurz bevor etwas historisch unumstößliche Tatsache wurde. In Q sind das die Erhebungen der Bauern, die auch zum Erfolg hätten führen können, in 54 ist es die Zeit, bevor der Kalte Krieg in seine angespannteste Phase eintrat, in Manituana die Periode, als die USA kurz vor ihrer Gründung standen und die sogenannte ‚Mohawk Nation‘ noch im Verbund mit dem englischen King George gegen die später siegreichen Aufwiegler kämpft. Im April diesen Jahres erschienenen neuesten Werk des Kollektivs L’armata dei sonnambuli ist es die Zeit kurz nach der Revolution in Frankreich kurz vor der Jahre des terreur und dem Aufstieg Napoleons, die erzählt wird – wiederum mit einem temporeichen Plot, kurzen, schlaglichtartig aufeinanderfolgenden Kapiteln und Dialogen, die immer von einem Nachdenken über Politisches, über gesellschaftliche Ordnung, Gerechtigkeit und Macht geprägt sind.

Die Romane des Wu Ming-Kollektivs sind niemals private Romane; die Geschichten, die erzählt werden, sind immer öffentliche Geschichten. Immer geht es um Schicksale von Gruppen, Nationen, Glaubensrichtungen und immer geht es um die Frage danach, wie eine Welt beschaffen sein müsste, in der nicht Mord und Krieg das erste politische Mittel sind. Es sind unterhaltsame Romane im besten Wortsinne, die zunächst wenig ästhetischen Anspruch aufweisen und vor allem von einer Lust am Erzählen zeugen, aber auch von einem Interesse an den sogenannten ‚Geschichtsvergessenen‘. Seien es die Bauern, die Täufer, die Mohikaner in Manituana, die idealistischen Kommunisten in 54, Wu Ming richten den Blick auf Gruppen, die es gegeben hat, die den Sprung in die Geschichtsbücher aber nicht geschafft haben – nicht jedoch, weil eine vermeintliche ‚Macht‘ sie dort nicht hingelassen hätte, sondern, viel profaner, weil sie kein Glück hatten, weil etwas anders lief, als es hätte laufen sollen. Die Romane sind damit weit entfernt davon, ‚Gegendiskurse‘ aufmachen zu wollen oder anzuschreiben gegen eine vermeintlich ideologisch zementierte Macht in Form der etablierten Geschichtsschreibung die systematisch alles ausschließe, was ihrer Narration nicht passt, die Romane sind kein literarisches writing back der Multitude, sondern Geschichte erzählt für die Multitude. Postmoderne Stilexperimente lehnen die Wu Mings dann auch konsequent ab, bemüht avantgardistisches Erzählen und anstrengende, überbordende metahistoriographische Roman amerikanischer Prägung genauso: „If experimentation is nothing other than an excuse for mediocre or bad narrators, then – as far as we´re concerned – they can shove it up their ass.“

Kreativität kann man dem Kollektiv dennoch nicht absprechen: Manituana und L’armata dei sonnambuli werden jeweils begleitet von Seiten im Netz, auf denen Hintergrundinformationen geboten werden, aber auch weiterführende Geschichten, Novellen, kurze Texte, auf denen es Kartenmaterial und sogar die Möglichkeit gibt, gemeinsam an den Geschichten weiterzuschreiben. Nicht zuletzt veröffentlichen Wu Ming, die zumindest einen Musiker in ihren Reihen haben, zu beiden Romanen ‚Soundtracks‘ (kostenfrei) und inszenieren Performances und Theaterinszenierungen in Italien. Mit postmoderner Experimentalliteratur hat das indes wirklich nicht mehr viel zu tun, sondern mit einer wahrhaften Populärliteratur die sich in den Dienst der Erzählens und in den Dienst einer Literatur für Leser abseits gebildeter Zirkel stellt. Man mag das mit akademischem Dünkel ablehnen und literarisch anspruchslos nennen – aber das heißt auch, eine gesellschaftsbildende Funktion von Literatur abzulehnen und nicht anzuerkennen. Genau der Glaube daran ist jedoch die Basis des Schreibens von Wu Ming. Vor dem oben skizzierten Hintergrund wird demnach verstehbar, wie der frühe politische Aktivismus der LB-Gruppe zwischen Subversion und Kommunikationsguerilla mit dem sich langsam entwickelnden Konzept der mythopoiesis zusammenhängt und wieso ein Kollektiv linksorientierter Aktivisten, das die Gewalt der herrschenden Ordnung in Genua 2001 sehr real und körperlich erfahren musste,  gerade die Narration als Mittel zu einer subversiven Veränderung gesellschaftlicher Missstände begreift. Sinnbildlich für diese subversive Praxis steht der Roman Q, der 1999 bei Einaudi, einem der größten Verlage Italiens und damit im kulturellen Zentrum des Landes, erschien. Im Roman lassen die Autoren Thomas Müntzer sagen: »Mentre stando in città, i canoni sono già dalla tua parte«– mit Q holte sich das LB-Kollektiv für den Angriff aus dem Innern des Systems die Geschichte an seine Seite. Dass das italienische Erzählen in der Nachfolge von Blissetts Q inzwischen oftmals als New Italian Epic bezeichnet wird und der subversive Ansatz damit stilbildend für Teile der Gegenwartsliteratur geworden ist, mag Müntzers Worten im Nachhinein besonderes Gewicht verleihen – und der Literatur des Kollektivs ganz bestimmt.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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Wu Ming: 54.
Einaudi, Torino 2002.
680 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 8806220756
ISBN-13: 9788806220754

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Luther Blissett: Q. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Ulrich Hartmann.
Piper Verlag, München 2002.
799 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 349204218X

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Wu Ming: Altai.
Einaudi, Torino 2009.
432 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-13: 9788806220259

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Wu Ming: Manituana.
Einaudi, Torino 2009.
624 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9788806222086

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autonome a.f.r.i.k.a. gruppe / Luther Blissett / Sonja Brünzels (Hg.): Handbuch der Kommunikationsguerilla.
Assoziation A, Berlin 2012.
248 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783862414109

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Wu Ming: L´armata die sonnambuli.
Einaudi, Torino 2014.
808 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9788806214135

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