Demokratie, Kapitalismus, Krise

Peter März und Tim B. Müller schreiben über europäische Konstellationen und politische Ordnungen nach dem Ersten Weltkrieg

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als im Januar 1920 der Friedensvertrag von Versailles in Kraft trat, lag der Krieg, der erste industrialisierte Massenkrieg auf europäischem Boden, ein gutes Jahr zurück. Die Völker des Kontinents, Sieger wie Besiegte, hatten ihre Ressourcen und Kräfte bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten strapaziert, sie waren erschöpft, hüben wie drüben, ihre Frauen und Männer waren gezeichnet von schweren Entbehrungen. Die Gesellschaften sahen sich konfrontiert mit der Aufgabe, die Trümmer beiseite zu räumen, die materiellen und seelischen Lasten des Krieges zu schultern, Millionen demobilisierter Soldaten, hunderttausende Versehrte und Traumatisierte wieder einzugliedern in den unheroischen Alltag einer Friedenswirtschaft, die zunächst nichts weniger versprach als weitere Entbehrung, in Deutschland zumal. Die Hoffnungen der Menschen richteten sich auf eine zu erneuernde, bessere Welt, deren Bausteine das Recht auf Selbstbestimmung, politische Partizipation und soziale Gerechtigkeit sein sollten. Dergleichen Hoffnungen hatten im November 1918, als die Waffen nach vier langen Jahren endlich schwiegen, auch den großen alten Mann des italienischen Liberalismus, Giovanni Giolitti, getröstet und beflügelt. „Die letzten Militärreiche haben ihr Ende gefunden“, schrieb er: „Der Militarismus ist geschwächt, die Demokratie hat die letzte und schrecklichste Prüfung bestanden und triumphiert jetzt in der ganzen Welt“. Deshalb, so glaubte er, seien die „unermeßlichen Opfer nicht umsonst“ gebracht worden.

Zunächst schienen sich solche Erwartungen zu bestätigen. Denn der Weltkrieg hatte allenthalben Impulse für Demokratie und Demokratisierung ausgelöst. Deren Prinzipien, die anfangs dann in vielen Ländern Europas implementiert wurden, waren jedoch strittig, die darauf gegründeten Ordnungen nicht zukunftsfest. Erfolgsgeschichten erwuchsen daraus nicht. England und Frankreich, die Siegermächte, waren geschwächt aus dem Krieg hervorgegangen und hatten trotz oder gerade wegen kolonialer Zugewinne ihre Handlungsräume überdehnt, konnten allerdings ihre demokratischen Traditionen behaupten. Bei den Verlierern und deren von den Friedensverträgen begünstigten Nachfolgestaaten blieben dagegen innere Unrast, strukturelle Verwerfungen und ökonomische Instabilität an der Tagesordnung. Das galt für die Staaten, die aus der Erbmasse des Habsburger- und des Zarenreichs herausgeschnitten worden waren, ebenso wie für Italien, das sich im Blick auf unerfüllte territoriale Expansionswünsche als eine Art amputierter Sieger empfand und schon 1922 in die Hände der Faschisten fiel. Vor allem aber galt es für Deutschland, wo die Nationalsozialisten gut zehn Jahre mehr benötigten, um ihre Vorstellungen einer totalitären Herrschaft jenseits von Parlamentarismus und Rechtstaatlichkeit zu realisieren. Es dramatisiert die Dinge nicht, wenn man konstatiert, dass die Jahre nach dem Krieg weithin von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Turbulenzen geprägt waren, von Revolution und Bürgerkrieg, von Reaktion und Gegenrevolution, von Ideologien und wechselseitigen Feinderklärungen. Und das wiederum hieß: Die Epoche zwischen den Kriegen hatte ein ausgesprochen unfriedliches Antlitz.

Studien, die Antworten auf die Frage nach dem Warum suchen, füllen mittlerweile ganze Bibliotheken. An Monografien und Überblickdarstellungen herrscht kein Mangel, und die Tendenz, aus der Konjunktur um die hundertjährige Wiederkehr des Kriegsbeginns noch ein paar Funken zu schlagen, ist nicht zu übersehen. Ohne dieses Stimulanz hätte möglicherweise weder das Buch von Tim B. Müller noch das von Peter März das Licht der Welt erblickt. Beide sind konzipiert als Essays, das erste deutlicher als das zweite, beide beruhen nicht auf neu erschlossenem Quellenmaterial, präsentieren keine überraschenden oder gar umstürzenden Informationen und Erkenntnisse, wohl aber Denkanstöße, und beide legen – hier intensiver, dort abgeschwächter – den Schwerpunkt auf Deutschland, verlieren darüber aber die anderen Konfliktparteien in Europa und Amerika keineswegs aus dem Blick. Beide lenken das Augenmerk nicht vordringlich auf den Krieg, sondern auf das, was danach kam, was er ausgelöst hat oder doch hätte auslösen können und sollen. Tim B. Müller erkundet Mechanismen und Überlebensstrategien moderner Massendemokratien, Peter März wandert durch das weite Feld der internationalen Beziehungen und innergesellschaftlichen Konflikte. Er spannt weite Bögen, die bis in die Gegenwart reichen, lässt wesentliche Konstellationen nach der „Urkatastrophe“ von 1914/18 Revue passieren, entrollt ein breites Panorama, entbehrt jedoch eines roten Fadens.

Tim B. Müller eröffnet den Reigen seiner Überlegungen mit einem lapidaren Obersatz: „Demokratie und Krise sind ein unzertrennliches Paar.“ Und er beendet ihn mit einer These: „Die große Krise“, gemeint ist die im Herbst 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise, habe die Chance geboten, „die Demokratie neu zu erfinden, sie stärker und besser zu machen“. Dazwischen knüpft der Autor seine Argumentationsketten, mit denen er die Existenzbedingungen demokratischer Ordnungen, deren Gefährdungen und Potentiale zu entschlüsseln sucht. Krise und Demokratie als zwei Seiten ein und derselben Medaille zu denken, lässt die Vergangenheit näher an die Gegenwart oder vielleicht besser: die von mannigfachen Krisen geschüttelte Gegenwart an die ebenfalls krisenhafte Vergangenheit heranrücken. Gewiss, konzediert Tim B. Müller, man muss die historischen Akteure im Horizont ihrer Zeit sehen. Dieses Historisierungsversprechen löst er jedoch im Sinne differenzierter Rekonstruktion nur zum Teil ein, kann er mit dem gewählten Genre, dem Essay, auch nicht wirklich einlösen. Wichtiger ist ihm offenbar das, was er die Öffnung von „Denkräumen“ nennt, die Vermessung der Möglichkeitsdimension der Geschichte und der darin verborgenen „Zukunftsoptionen“. Die Epoche nach dem ersten Weltkrieg, erinnere uns nämlich an „vergangene, aber womöglich lehrreiche Lebensversuche moderner Demokratien“ und könne motivieren, uns wieder verstärkt mit lange vernachlässigten „Grundsatzfragen“ zu beschäftigen.

Krisen sind Lackmustests auf die Beharrungskräfte und die Funktionsfähigkeit demokratischer Systeme. Dies erschließt sich bisweilen mit einem Blickpunkt von den Rändern, von den Abgründen und extremen Herausforderungen besser als mit einem von der Mitte her. Die „große Krise“, die seit den späten 20er-Jahren die Vereinigten Staaten und die europäischen Nationen mit unterschiedlicher Intensität beutelte, sei eine „Krise der politischen Psychologie, eine Destabilisierung der kollektiven Affekte“ gewesen, argumentiert der Autor. Sie durch eine kluge Politik zu steuern, sie wieder ins Lot zu bringen, sei die zentrale Aufgabe gewesen. Ein solches „Management“ der Emotionen, mit dessen Hilfe verschütteter Optimismus hätte wiederbelebt werden sollen, sei in Amerika unter Präsident Roosevelt nach 1933 erfolgreich gewesen, in Deutschland jedoch nicht. Hier sei der „falsche Mann zur falschen Zeit am falschen Ort“ gewesen. Gemeint ist Reichskanzler Heinrich Brüning, dem „fundamentales intellektuelles Versagen“ attestiert wird: „Unfähigkeit, Politik in einer der Demokratie angemessenen Komplexität zu denken“. Das mochte so sein, aber das damit angebotene Erklärungsmodell ist relativ einfach, um nicht zu sagen: unterkomplex. Es ist weder auf der Höhe der historischen Forschung, noch liefert es triftige Aufschlüsse darüber, warum die Weimarer Republik binnen zweier Jahre zerbröselte und zerstört werden konnte, warum sich breite Schichten der Gesellschaft so widerstandslos einer unzivilisierten gewalthaften Bewegung wie der nationalsozialistischen anheimgab.

Stanley Baldwin, einer der bedeutendsten Repräsentanten der britischen Tories in der Zwischenkriegszeit, beschwor 1923 seine Landsleute, die eigentliche Aufgabe der Zeit nicht aus den Augen zu verlieren, nämlich „die Demokratie zu retten, sie zu bewahren und für sie zu begeistern“. Im Deutschland der Weimarer Republik war es damit nicht weit her. Die Fundamente der 1919 etablierten Ordnung waren und blieben brüchig. Daran änderten die beachtlichen sozialpolitischen Leistungen, die trotz enger Verteilungsspielräume erbracht wurden, nur wenig. Die Arbeitslosenversicherung, 1927 eingeführt, kann zwar als epochales Werk der Gesetzgebung gelten, war aber finanziell nur für konjunkturelle Schönwetterperioden ausgestattet und vermochte in der Krise der frühen 1930er-Jahre die desaströse Massenarbeitslosigkeit nicht aufzufangen. Von einem allseits akzeptierten Wohlfahrtsstaat konnte keine Rede sein. Die im November 1918 beschlossene Kooperation zwischen Unternehmertum und Gewerkschaften, eine Art Hagelversicherung gegen die Revolution, währte nur kurz. Schon früh siechte sie dahin, und 1924 war sie mausetot. Die sozialstaatlichen Postulate der Verfassung fanden keine einvernehmliche Entsprechung in den verschiedenen gesellschaftlichen Lagern. Insofern bewegte sich die liberale und soziale Demokratie, die Tim B. Müller als Heilmittel gegen die Gebrechen der Nachkriegszeit beschwört, auf schwachen Füßen. Die Belege, die er anführt, etwa die ausführlich zitierte und ausgedeutete Regierungserklärung des sozialdemokratischen Kanzlers Bauer vom Juli 1919, sind wenig überzeugend. Mag sein, dass das Zusammenspiel von „sozialer Demokratie“ und „sozialem Liberalismus“ das „Erfolgsmodell der Zukunft“ ist oder doch sein könnte. Für die Weimarer Republik war es dies jedoch nicht. Hier wird ein Wunschbild ausgemalt, wird ein für die Bewältigung gegenwärtiger Krisen empfohlenes Modell zurückprojiziert in die Vergangenheit. Das mag Anstöße liefern, über die aktuelle Situation in einer globalisierten Welt nachzudenken, die Problemlagen der Weimarer Demokratie werden damit jedoch nicht getroffen.

Peter März stellt seinem Buch ein Motto voran, ein Kammerton für das, was folgt. Es stammt aus den Memoiren des britischen Botschafters Viscount D’Abernon, der auf den von Krisen durchwirkten Beginn der deutschen Republik zurückschaut. Im Herbst 1923, auf dem Höhepunkt der Inflation und der Ruhrbesetzung durch französische und belgische Truppen, nach Hitlerputsch und Separatismus im Rheinland, habe man „am Abgrund“ gestanden. Deutsche Politiker seien nicht „gewohnt, dass ihnen die Öffentlichkeit Lorbeeren“ spende, heißt es weiter: „Und doch haben diejenigen, die das Land durch diese Gefahren hindurch gesteuert haben, mehr Anerkennung verdient, als ihnen zuteil werden wird.“ Damit ist eine der Kalamitäten der Weimarer Demokratie auf den Punkt gebracht: das ubiquitäre Missvergnügen, der Mangel an Respekt und Empathie für das Gemeinwesen und deren Repräsentanten, die fehlende Einsicht in das Notwendige wie das Machbare. Dabei war schon 1919, wie der Autor zu Recht hervorhebt, die Monarchie „kein ernsthaftes Thema mehr“.

Die war mit der unrühmlichen Flucht des Kaisers ins holländische Exil ein für allemal erledigt. Daraus Profit zu ziehen, gelang der jungen Republik jedoch nicht, die Zahl derer, die bereit waren, sich für sie zu schlagen, war gering und wurde immer geringer. Zu tief eingezeichnet waren die Linien der Kontinuität, das Personal der Republik war weithin identisch mit dem aus der Epoche zuvor, die Militärs, die bis zum Schluss auf Sieg und nicht auf Verständigung gesetzt hatten, wurden für ihr Vabanquespiel nicht zur Rechenschaft gezogen, behielten, was ihnen nicht mehr hätte zukommen dürfen, den Status einer im Verfassungsgefüge exterritorialen Machtbastion, die tonangebenden Schichten der Gesellschaft scheuten den Bruch mit der Vergangenheit, und die Baumeister der Republik versäumten, die neue Ordnung mit einem die Bevölkerung ergreifenden, sinnstiftenden Gründungsmythos auszustatten.

Innenpolitische Konstellationen wie diese machen indes nur einen Teil des Buches aus. Die anderen Abschnitte sind den Veränderungen in den Arenen der internationalen Politik, hier vor allem dem sich allmählich offenbarenden Abstieg und Bedeutungsverlust Europas, gewidmet. Darin ist viel Richtiges und Bedenkenswertes zu lesen. Die geschilderten Tatbestände sind jedoch zu oft schon ausgebreitet worden, als dass neue Einsichten zu erwarten wären. Der eingangs erhobene Anspruch, bestimmte „Tendenzen“ in der Geschichtsschreibung der verflossenen Jahrzehnte zu relativieren, ändert daran nichts. Denn der Gestus, mit dem das in Szene gesetzt wird, ist wohlvertraut. Es ist das Narrativ des Revisionismus, der sich – anfangs auf leisen Sohlen daherkommend – einigermaßen fest etabliert zu haben scheint. Dazu gehört zuvorderst die inzwischen modisch gewordene Distanzierung von den Thesen Fritz Fischers, der die zentrale Rolle der Reichsleitung unter Kanzler Bethmann Hollweg im Verlauf der Julikriese nach dem Attentat von Sarajewo betont hatte. Dagegen zu halten, man müsse sämtliche Akteure, also nicht nur die in Berlin, sondern auch die in Paris, London und St. Petersburg ins Auge fassen, ist banal und verkennt die innovativen Qualitäten von Fischers Forschungen. Denn niemals zuvor sind die deutschen Interessenlagen, Entscheidungsprozesse und Machtambitionen, also die innenpolitischen Bedingtheiten der Außenpolitik derart intensiv ausgeleuchtet worden. Es war schließlich kein Zufall, dass dies den Auftakt markierte für eine neue Ära einer kritischen Geschichtsschreibung über das Kaiserreich.

Dies wird heute von manchen Leuten vergessen, die sich in wohlfeilem Gerede ergehen und sich mit der milden Formel beruhigen, die anderen Mächte seien mindestens so verantwortlich für den Gang der Dinge gewesen wie die Deutschen. In den 1920er-Jahren lautete die dafür gebräuchliche Formel, alle seien gleichsam somnambul, jedenfalls ohne Absicht in den Krieg hineingeschlittert, was den Zielen der deutschen Unschuldspropaganda weit entgegenkam. Heute wandelt man die Metaphorik ein wenig ab, vollführt eine Rolle rückwärts und spricht davon, alle Beteiligten seien im Modus von Schlafwandlern in den Konflikt hineingewandert. Das verniedlicht die Kalkulationen und Entscheidungen, die von den deutschen Führungseliten getroffen worden sind, verharmlost ihren Kurs hart am Rande des Krieges, diesen dabei bewusst in Kauf nehmend. Kalkuliertes Risiko nannte man das damals, das sich freilich rasch als unkalkulierbar entpuppte. Es war das Spiel um alles oder nichts, dem man sich in den Berliner Stäben, Ämtern und Ministerien hingab und von dem man selbst dann nicht lassen mochte, als das Spiel verloren, der Traum von Hegemonie und Expansion ausgeträumt war. Der Versailler Vertrag, der den vorläufigen Schlußpunkt setzte, war gewiss kein Meisterstück staatsmännischer Klugheit. Das betont Peter März zu Recht, ein hinreichender Grund, dass weite Teile der deutschen Gesellschaft sich darüber in Selbstmitleid und Radikalismus verloren, lag darin jedoch nicht. Was fehlte, war der Wille zu selbstreflexiver Einkehr und Umkehr. Dies war einer der Bausteine, der dazu betrug, zwischen 1930 und 1933 die nationalsozialistische Machteroberung zu ermöglichen. Der Autor hätte gut daran getan, dies stärker zu berücksichtigen.

Titelbild

Tim B. Müller: Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien.
Hamburger Edition, Hamburg 2014.
173 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783868542790

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Titelbild

Peter März: Nach der Urkatastrophe. Deutschland, Europa und der Erste Weltkrieg.
Böhlau Verlag, Köln; Weimar; Wien 2014.
285 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783412221997

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