„Von Maschinen und Menschen“

Zur Digitalisierung mittelalterlicher Handschriften

Von Jan Alexander van NahlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Alexander van Nahl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Digital turn, Digital Humanities, digitales Zeitalter, digitale Revolution … Kein Zweifel, in den letzten Jahren ist auf breiter Front das Bewusstsein erwacht, dass das 21. Jahrhundert auch in der Wissenschaft eine digitale Ära sein wird. Die Reaktionen darauf sind bisher noch sehr verschieden, reichen – vereinfacht gesagt – von Enthusiasmus bis zur düsteren Prognose. Leicht entgeht dabei die Tatsache, dass Pioniere wie Manfred Thaller (Professor für ‚Historisch-Kulturwissenschaftliche Informationsverarbeitung‘ in Köln) bereits seit den 1970er-Jahren das weite Feld des ‚Digitalen‘ auch in den historisch arbeitenden Wissenschaftszweigen kultiviert haben. Erst im letzten Jahrzehnt ist neben sich mittlerweile unüberschaubar etablierende Blogs eine Anzahl gedruckter Sammelbände und Monographien getreten, die diesem nun verstärkt registrierten digitalen Wandel nachgehen und ihn damit zugleich befördern. Im deutschsprachigen Raum stehen – soweit ich überblicke – bisher vor allem Fragen der technischen Realisierung im Fokus, also die Verfügbarmachung und Verwaltung (in diesem Fall) mittelalterlicher Handschriften im digitalen Medium.

Einen jüngsten Einblick in solche Fragen und mögliche Antworten bietet der vorliegende schmale Sammelband aus der 2010 gegründeten Reihe der „Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften“. Er macht die Ergebnisse mehrerer wissenschaftlicher Zusammenkünfte zugänglich, wobei sich der Blick auf Projekte deutschlandweit erstreckt. Neun Fallbeispiele werden behandelt, wobei sich deskriptive Darlegungen mit programmatischen Ansprüchen mischen. Obwohl die Beiträge thematisch in ähnliche Richtung weisen, sind doch alle verständlich bemüht, Besonderheiten des eigenen Projekts herauszustellen (im positiven wie negativen Sinne), sodass nach der Lektüre ein breiter Überblick zu aktuellen Bestrebungen der Digitalisierung gewonnen ist.

Fragen, die meist nach knappen Einführungen in die historische Genese der behandelten Sammlungen und der darauf bauenden Projekte im Fokus stehen, betreffen zunächst das praktische Prozedere der digitalen Aufnahme – dem die bisweilen mühsame Zusammenführung verstreuter ehemaliger Bibliotheksbestände noch vorausgeht. Es mag dem durchschnittlichen Nutzer digitalisierter Quellen nicht immer geläufig sein, wie viel Aufwand dieser Schritt der fotografischen Aufnahme bedeutet: Ruppige Massendigitalisierung à la Google Books verbietet sich bei Manuskripten, die teils deutlich älter als ein Jahrtausend sind und deren Versicherungswert rasch sechs- und siebenstellige Eurobeträge erreicht. Je nach finanzieller und personeller Ausstattung haben die einzelnen Projekte hier unterschiedliche Wege beschritten; meist wurde mit speziellen Apparaturen gearbeitet, die eine physische Beanspruchung der Codices (etwa beim Öffnen und bei der Seitenfixierung) auf ein mögliches Minimum reduzieren. Vor allem der Beitrag Hans-Günter Schmidts, Leiter des Digitalisierungszentrums der Universität Würzburg, äußert Kritik daran, dass „im ehemaligen Land der Tüftler, Erfinder und Ingenieure die Realisierung innovativer Ideen […] unter den heutigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen […] [nicht] mehr so einfach ins Werk zu setzen“ sei. Das ist auch eine Spitze gegen eine Drittelmittelförderung, deren Beurteilungskriterien bisweilen schwer nachvollziehbar sind; die landläufige Meinung, Einrichtungen wie die DFG seien durch ein Schlagwort ‚digital‘ verstärkt zur Förderung geisteswissenschaftlicher Forschung zu bewegen, bedarf offensichtlich einer neuerlichen Korrektur.

In deutlich geringerem Umfang kommen neben praktischen Erwägungen Fragen der Theoriebildung anhand der digitalisierten Quellen zur Sprache. Anders gesagt: Wohin die Forschung, die künftig an diesen digitalen Darstellungen (und das umfasst auch die Ebene der Metadaten) zu betreiben sein wird, führen und welche Auswirkungen dies auf Wissenschaft überhaupt haben könnte, das sind Fragen, denen die versammelten Beiträge nur punktuell begegnen. Das mag damit zusammenhängen, dass solche Prognosen naturgemäß spekulativ bleiben. Orietta Da Rold bietet immerhin einen Überblick zu aktuellen Positionen in der englischsprachigen Forschung, deren Vertreter und Vertreterinnen sich mit diesem Fragenkomplex bereits weiter eingelassen zu haben scheinen als deutsche Kollegen der Digital Humanities. Dem aufmerksamen Leser fallen aber auch in anderen Beiträgen immer wieder Formulierungen zu aktuellen und künftigen Herausforderungen der Forschung ins Auge, die zusammengenommen dann doch als eine mittelfristige Prognose gelesen werden können. Es kristallisiert sich die Einschätzung heraus, dass nur eine Form der Digital Humanities, die das hermeneutische Fundament geisteswissenschaftlichen Erkennens und Verstehens nicht vergisst, Bestand haben kann.

Im Blick auf einen Rezipientenkreis, der über Fachleute mit einem Hintergrund in der Informatik hinausweisen will, wäre ein abschließendes Glossar regelmäßig verwendeter Termini (auch im Blick auf Software u.ä.) hilfreich gewesen. So neigt man dazu, allzu detaillierte Beschreibungen einzelner Verfahrensweisen flüchtig zu behandeln. Dem Gesamtverständnis tut das zugegeben wenig Abbruch, aber es sollte doch ein künftiges Ziel sein, den Dialog zwischen so genannten Praktikern und so genannten Theoretikern zu fördern. Ungewohnt klein ist das Schriftbild, möglicherweise drucktechnisch bedingt. Das führt leider dazu, dass auch die mitgegebenen s/w-Abbildungen (etwa von technischem Gerät oder digitalen Darstellungen) recht klein sind, sich manches Detail überhaupt nicht entfaltet; und einige Fotos sind im Druck schlicht zu dunkel.

Solche kleinen Mankos schmälern nicht den Gesamteindruck. Die individuellen Berichte zu praktischen Herausforderungen und Lösungsstrategien stellen fraglos eine Bereicherung der vielstimmigen Diskussion dar, die noch immer durch allerlei Miss- und Unverständnisse geprägt ist. Die teils umfassenden Bibliografien zu gedruckten Publikationen und Online-Ressourcen erleichtern zudem den Einstieg in weiterführende Fragen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Sabine Philippi / Philipp Vanscheidt (Hg.): Digitale Rekonstruktionen mittelalterlicher Bibliotheken.
Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften 12.
Reichert Verlag, Wiesbaden 2014.
144 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783895009952

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