Eine gewollte Metzelei
Luciano Canfora und Kurt Pätzold informieren über den Ersten Weltkrieg
Von Kai Köhler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseManchmal kommen Fragen, die von der Geschichtsschreibung eigentlich schon beantwortet schienen, wieder auf die Tagesordnung – sei es aufgrund neuer Quellenfunde oder aufgrund neuer ideologischer Bedürfnisse. Was die Frage nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs angeht, scheint letzterer Grund zentral. Christopher Clarks neue These, die Entscheidungsträger seien als „Schlafwandler“ in den Krieg getaumelt, ist in Wirklichkeit eine ganz alte Meinung, ohne wesentliche neue Belege vorgebracht und tatsächlich bereits vor einem halben Jahrhundert von Fritz Fischer widerlegt. So ist es erfreulich, dass zwei knappe Bücher von einführendem Charakter zu brauchbareren Resultaten gelangen.
Der italienische Altphilologe und Historiker Luciano Canfora, der sich bereits 2006 mit seiner „Kurzen Geschichte der Demokratie“ bei deutschen Historikern unbeliebt gemacht hat, beschäftigt sich laut Untertitel mit der Frage: „Macht man Krieg wegen eines Attentates?“ Die Antwort ist selbstverständlich nein. Canfora berücksichtigt die Jahrzehnte vor 1914, die durch eine Verschärfung des Kampfs um Kolonien und eine sich steigernde imperialistische Konkurrenz gekennzeichnet waren, wie auch den Machtgewinn kriegsbereiter pressure groups im deutschen Kaiserreich, die ihren Weg durchaus wach und zielstrebig verfolgten.
Lesenswert ist auch Canforas Rekonstruktion der entscheidenden Wochen zwischen dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajevo und dem Kriegsbeginn. Hier wird insbesondere deutlich, dass die Habsburger Politik kompromisslos auf einen Krieg mit Serbien zielte, ohne dass die Verwicklung des serbischen Staats in das Attentatsgeschehen erwiesen war. Das entscheidende Ultimatum wurde so spät übergeben, dass Serbien kaum mehr Möglichkeiten zur Verständigung mit den wichtigsten Verbündeten blieb. Bereits vor Ablauf der Frist verließ der österreichische Botschafter das Land, sodass Serbien seine bis zum Äußersten kompromissbereite Antwort nicht einmal mehr übergeben konnte.
Weniger überzeugend fällt Canforas Versuch aus, Wilhelm II. zu entlasten. Die Zitate, die er bringt, sind ohne Kontext schwer einzuordnen. So wird nicht klar, ob der deutsche Kaiser im entscheidenden Moment wirklich vor einem Krieg zurückscheute oder nur pragmatische Schwierigkeiten benannte, den Krieg zu rechtfertigen. Zentral ist ohnehin, dass seit Jahren in Deutschland Eroberungsziele formuliert worden waren, die ohne einen kontinentalen Krieg nicht zu erreichen waren.
Zu Recht führt Canfora Argumente an, die auch die Mächte der Entente in einem wenig sympathischen Licht erscheinen lassen. So demontiert er das Gerücht, es sei um einen Krieg der Demokratien gegen eine autokratische Herrschaft gegangen. Nicht nur das zaristische Regime steht dieser moralisierenden Zweiteilung entgegen. So war das Wahlrecht in England, dem angeblichen Mutterland der Demokratie, weitaus rückständiger als das für den deutschen Reichstag: Wahlberechtigt waren nur diejenigen Männer, die ein Haus besaßen oder einen Mietvertrag für ein Haus – was etwa die Hälfte der erwachsenen Männer ausschloss. Aus Canforas Perspektive ist die Geschichte des Kriegseintritts von Italien besonders fragwürdig, war es doch der spätere faschistische Diktator Mussolini, der ihn maßgeblich durchsetzte.
Was die Kriegsschuldfrage betrifft, meint Canfora sogar eine Gemeinsamkeit zwischen der deutschen Rechten nach dem Krieg und der Imperialismustheorie Lenins feststellen zu können. Tatsächlich verteilen beide die Schuld, wer den Krieg begonnen habe: die Deutschen, um sich gegen die Anschuldigungen durch die Sieger zu wehren, und Lenin, um nachzuweisen, dass der entwickelte Kapitalismus notwendig zum Krieg führe. Bei näherem Hinsehen jedoch trägt die Parallele nicht. Lenins Aussage bewegt sich auf einer allgemeinen Ebene: Dass die ökonomische Expansion der imperialistischen Mächte über kurz oder lang einen militärischen Konflikt erzwingt, besagt noch nichts über die konkreten Umstände des Kriegsbeginns. Diese Umstände aber waren es, über die man sich stritt.
Canforas Buch bietet eine Fülle interessanter Einsichten, doch gerät in der zweiten Hälfte die zentrale Fragestellung aus dem Blick. Man erfährt, was zu wissen nützlich ist, doch man fragt sich, weshalb man es an dieser Stelle erfährt. Ungleich konziser sind Kurt Pätzolds Überlegungen zu den Ereignissen und Folgen von 1914 aufgebaut. Auch Pätzold geht davon aus, dass der Erste Weltkrieg nicht Folge eines Attentats und eines ungeschickten Krisenmanagements war. Er skizziert knapp die sich verschärfenden Konflikte in den Jahrzehnten vor dem Krieg und widerlegt die irreführende Metapher vom „Pulverfass Balkan“: Nicht die Gegensätze in Südosteuropa haben zum großen Krieg in Europas Mitte geführt, sondern der Balkan lieferte nur den Anlass, um den Gegensatz zwischen den Großmächten zum Krieg zu verschärfen.
Pätzold begründet überzeugend, dass das Attentat von Sarajevo noch keinen Krieg bedeuten musste, dass Handlungsalternativen existierten, diese aber nicht genutzt wurden – und dass dafür keine Schlafwandelei verantwortlich war, sondern sich kriegswillige Mächtegruppen insbesondere in Berlin und Wien gegen verständigungsbereite Fraktionen durchsetzten. Fehlenden Widerstand in der Bevölkerung, die Begeisterung eines schwer abschätzbaren Teils der Menschen erklärt er aus einer langen Friedensperiode und verbreiteter Naivität, was die Wirkung moderner Waffen angeht.
Bereits die ersten Kriegswochen widerlegten einen solchen Optimismus. Die deutschen Kriegspläne scheiterten bereits in einem frühen Stadium. Was als unkomplizierter Durchmarsch durchs neutrale Belgien geplant war, traf auf heftigen Widerstand. Als die deutschen Truppen dann kurz vor Paris standen, waren sie so abgekämpft, dass an einen weiteren Vormarsch nicht zu denken war. Im Osten war Russlands Armee unerwartet schnell mobilisiert und hatte besonders gegen die Habsburger Armee große Erfolge errungen. Im Grunde war der Krieg bereits im September 1914 entschieden, und der Mord an Millionen weiterer Soldaten änderte nichts mehr am Ergebnis.
Vier Jahre später musste selbst die starrsinnige oberste Heeresleitung eingestehen, dass das deutsche Militär am Ende seiner Kräfte war. Im Rückblick grenzt es an ein Wunder, wie die militärisch Verantwortlichen bereits wenige Monate später, gegen die Erfahrung von Millionen Soldaten und ihrer Angehörigen, erfolgreich die Legende verbreiten konnten, das Heer sei „im Felde unbesiegt“ geblieben und durch die Heimat verraten worden. Allerdings sind solche Wunder durch Medienmacht zu erklären, aber auch durch die Schwäche der Gegner. Die Sozialdemokraten etwa gestanden nicht ihren Fehler von 1914 ein, die Kriegspolitik unterstützt zu haben, sondern fuhren fort, zu beteuern, stets vaterlandstreu gehandelt zu haben. Damit stellten sie sich selbst in die Rechtfertigungsecke und agierten bis zum Ende der Weimarer Republik defensiv.
Pätzold zeichnet knapp und anhand klug ausgewählter Beispiele die militaristische Vergangenheitspolitik in der Weimarer Republik und im deutschen Faschismus nach, von der Lügenpropaganda über die Instrumentalisierung von Religion bis hin zu Kriegerdenkmälern. Ein abschließendes Kapitel befasst sich mit Bezeichnungen für den Ersten Weltkrieg und die von ihm geprägte Epoche. Pätzold wendet sich mit überzeugenden Argumenten gegen mehrere etablierte Begriffe. Von „Urkatastrophe“ zu sprechen, verschiebt die Ursache ins Naturhafte und verdrängt, dass der Krieg von bestimmten Gruppen herbeigeführt wurde. Mit Eric Hobsbawm den Beginn eines „Zeitalters der Extreme“ anzunehmen, führt in bedenkliche Nähe zu platten Totalitarismustheorien; 1914 als Anfang eines „Dreißigjährigen Krieges“ zu begreifen, der erst mit der deutschen Kapitulation 1945 sein Ende gefunden habe, lenkt davon ab, dass es durchaus Handlungsalternativen gab und Hitler nicht die zwangsläufige Folge von Versailles war. Auch von einem „Epochenbruch“ kann nicht gesprochen werden, denn in fast allen europäischen Staaten gab es eine Kontinuität der herrschenden Eliten. So ist Pätzold zuzustimmen, wenn er die Kennzeichnung des Ersten Weltkriegs als imperialistischen Krieg für die überzeugendste Variante hält.
Ein Anhang bringt erstens Gedichte und Lieder, sowohl Texte gegen den Krieg als auch grauenvolle Verklärungen von Ludwig Ganghofer bis Stefan George. Zweitens sind Dokumente und Aufrufe gesammelt: die Beteuerungen der Monarchen in Berlin und Wien, doch nur den Frieden gewollt zu haben, wie auch öffentliche Erklärungen von Intellektuellen.
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