Neue alte Blicke auf Julikrise und Ersten Weltkrieg

Annika Mombauer und Volker Berghahn legen knappe Überblicksdarstellungen zum Thema vor

Von Martin MunkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Munke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdem er in Deutschland lange im Schatten des Zweiten Weltkriegs stand, hat derjenige von 1914-1918 im 100. Jubiläumsjahr seines Beginns den Weg zurück in die Schlagzeilen gefunden: Die Bücherläden bieten Sondertische mit hohen Stapeln voluminöser Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg an, an den Universitäten reihen sich eine Tagung und eine Ringvorlesung an die nächste, in den Feuilletons wird über die Lehren für die Gegenwart debattiert. Umstritten ist dabei nach wie vor besonders die Deutung der Kriegsgründe, auch wenn hier heute eher von „Verantwortlichkeiten“ gesprochen wird und der Schuldbegriff des Versailler Vertrages kaum noch eine Rolle spielt – in den Titeln des Feuilletons wird er gleichwohl prominent bedient. Die Beantwortung dieser Frage löst gleichwohl noch einhundert Jahre danach kontroverse Debatten aus, und das nicht nur unten den Historikern, die sich von Haus aus damit befassen.

Die dabei häufig anzutreffende deutsche Nabelschau steht im auffälligen Kontrast zu den Diskussionen in den damals zumindest nominell siegreichen Nachbarländern wie Frankreich und England, in denen der „Große Krieg“ auch gesellschaftlich seit jeher ein größeres Prestige genoss und über Gedenkveranstaltungen stets präsent war. Nur so lässt sich auch die Wirkung eines kontrovers diskutierten Werkes wie Niall Fergusons „The Pity of War“ (1998, deutsche Übersetzung 2001 unter dem Titel „Der falsche Krieg“) erklären, das althergebrachte Annahmen radikal in Frage stellte, etwa ein Überleben des Empires prognostizierte, so sich Großbritannien aus dem Krieg herausgehalten hätte, und seinem Heimatland überhaupt einen großen Anteil an der Verantwortung für den Kriegsausbruch beziehungsweise dessen Ausweitung zum Weltkrieg zuschrieb. Auch in Deutschland scheint die Zeit reif für partielle Neubewertungen jenseits der überkommenen „Sonderwegsthese“ mit ihrer europäische Vergleichsmaßstäbe weitgehend ignorierenden Zentrierung Deutschlands, unter anderem eben gerade in der Frage nach den Verantwortlichkeiten für den Kriegsausbruch.

Den größten Eindruck machte dabei zunächst Christopher Clarks Werk „Die Schlafwandler“ über Julikrise und Kriegsausbruch. Die umfassende Studie des in Cambridge lehrenden australischen Historikers avancierte innerhalb kürzester Zeit zum Bestseller und hält sich bis in die zweite Jahreshälfte 2014 in den „Top Ten“ der entsprechenden Liste des Magazins „Der Spiegel“. Clark warf in seiner Analyse der Mitte des Jahres 1914 unter anderem einen genaueren Blick auf Serbien, das in Gesamtdarstellungen bisher eher am Rand betrachtet worden war. Entgegen mancher Behauptungen wurde der deutsche Anteil am Kriegsausbrauch dabei keineswegs „verblüffend einseitig eliminiert“ (Hans-Ulrich Wehler), jedoch in einen größeren europäischen Kontext gestellt, der von den „Sonderweglern“ zumeist ignoriert wurde. Auch die ebenfalls dickleibige Gesamtdarstellung „Der Große Krieg“ des Berliner Politologen Herfried Münkler fand zahlreiche Käufer und entsprechende Neuauflagen, während der unter den Fachkollegen vergleichsweise am positivsten aufgenommene Beitrag – „Die Büchse der Pandora“ des Freiburger Historikers Jörn Leonhard, mit der deutlichen Überschreitung der abschreckenden Marke von 1.000 Seiten gleichzeitig ohnehin eher wenig für eine Breitenwirkung geeignet, auch wenn Clark und Münkler ebenfalls (fast) so dicke Bücher schreiben – über die Grenzen der „Scientific Community“ hinaus weniger für Aufmerksamkeit sorgte. Dabei ist Leonhard eine insgesamt ausgewogen argumentierende Studie gelungen, die die globalen Auswirkungen und Verflechtungen untersuchen will und „den Ersten Weltkrieg gegen Vereinfachungen [verteidigt]“ (Daniel Krause).

Knappe, durchweg verständlich und flüssig geschriebene, stellenweise fast zu salopp formulierende Einführungen bieten demgegenüber die beiden Bändchen, die 2014 in der Reihe „C. H. Beck Wissen“ zum Thema erschienen sind: der neu verfasste Überblick zur Julikrise der englischen Historikerin Annika Mombauer und die ergänzte Neuauflage der erstmals 2003 erschienenen Gesamtdarstellung des in New York lehrenden Historikers Volker Berghahn. Mombauer, die unter anderem in Münster studierte und heute an der Open University in Milton Keynes arbeitet, hat sich intensiv mit Helmuth von Moltke dem Jüngeren in seiner Rolle als Chef des Großen Generalstabs befasst und 2002 mit „The Origins of the First World War. Controversies and Consensus“ bereits eine Studie zu Kriegsursachen und -ausbruch vorgelegt. Im vergangenen Jahr folgte eine entsprechende Quellenedition („The Origins oft he First World War: Diplomatic and Military Documents“). Berghahn hatte schon in den 1970er-Jahren zum Thema publiziert („Germany and the approach of war in 1914“, 1973) und sich darüber hinaus intensiv mit der Geschichte des Kaiserreiches befasst.

Die genannten Vorarbeiten prägen natürlich den Blick, der in den beiden Büchern auf das Thema geworfen wird. Für Mombauer ist das ihr Bezug auf die Arbeiten Fritz Fischers, der in „Griff nach der Weltmacht“ (1961) zunächst die deutsche Hauptschuld am Krieg herauszuarbeiten suchte und dem Deutschen Reich schließlich gar eine zielgerichtete Planung und Vorbereitung des Krieges unterstellte. In der „Fischer-Kontroverse“ gelang es, diese Thesen für die nächsten Jahrzehnte als gültige Interpretation in der deutschen Öffentlichkeit zu verankern, auch wenn ihre Zuspitzung und Radikalisierung in den Folgewerken „Weltmacht oder Niedergang“ (1965) und „Krieg der Illusionen“ (1969) weit weniger Anhänger fand. Die Wissenschaft hat daran schon lange Modifikationen vorgenommen, manches bestätigt, anderes mit guten Gründen hinterfragt. Auch Mombauer hat insgesamt einiges zur Nuancierung von Fischers in vielen simplifizierenden Thesen beigetragen. Im Grundtenor erweisen sich ihre Arbeiten gleichwohl als „infused with Fischer’s ideas“, so der britische Historiker Matthew Hughes in einer Rezension von „The Origins of the First World War“.

Dies gilt auch für das Buch zur Julikrise. Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn bleiben die Hauptverantwortlichen für die Eskalation der Krise, die unter „bewusste[r] Täuschung des Auslands“ auf einen Krieg hinarbeiteten. Hier sei „die Absicht, einen Krieg vom Zaun zu brechen, stärker und daher auch letztendlich ausschlaggebender“ gewesen – eine Ansicht, die mit Blick auf die Akteure in Paris und St. Petersburg durchaus hinterfragt werden kann, wie zuletzt Studien von Stefan Schmidt („Frankreichs Außenpolitik in der Julikrise 1914“, 2009) und Sean McMeekin („The Russian Origins Of the First World War“, 2011) belegten (gleichwohl besteht dabei stellenweise die Tendenz, auf der anderen Seite vom Pferd zu fallen und, gerade bei McMeekin, eine Art „Fischer für Russland“ zu geben). Letztendlich zeigten die politischen Führungseliten in allen beteiligten Ländern Interessen an einem militärischen Konflikt, waren täuschende Handlungen an der Tagesordnung – und auch in England standen in der Vorkriegszeit ganz andere als nur friedliche beziehungsweise reaktive Interessen im Zentrum des außenpolitischen Handelns, wie der Bonner Historiker Andreas Rose in seiner Dissertation „Zwischen Empire und Kontinent“ (2008) überzeugend herausgearbeitet hat. Deutlich wird bei alledem, „dass einfache Urteile über Schuld und Unschuld die Wirklichkeit dieser Krise verfehlen“, wie es Ende Juni Peter Graf Kielmansegg in einer interessanten Beleuchtung der Frage unter drei verschiedenen Blickwinkeln in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ formulierte: „Der Friede war niemandem unter den Regierenden so viel wert, dass er einen wirklichen Preis für ihn zu zahlen bereit gewesen wäre.“

Die Fischer’schen Annahmen der deutschen Hauptschuld stehen dabei im Kontext der genannten „Sonderwegsthese“, die ihre Hochphase in der Historischen Sozialwissenschaft der 1970er-Jahre erlebte. Auch Berghahn zeigt sich diesem Ansatz verpflichtet, wie er es 2003 erneut mit seiner Gesamtdarstellung des Kaiserreichs im Rahmen des Handbuchs der deutschen Geschichte, dem „Gebhardt“, bekräftigte. Zwar fand eine Reihe neuer Themen Eingang, „Berghahns Aufgeschlossenheit gegenüber der neueren Forschung [war] mit dieser thematischen Erweiterung aber auch schon erschöpft“ (Frank Decker). Ähnliches lässt sich für die Neuauflage des Weltkriegsbuches konstatieren. Eingangs erfolgt eine kursorische Betrachtung der aktuellen Neuerscheinungen besonders zur Julikrise, unüblich für das Reihenformat mit Fußnoten nachgewiesen. Hier erscheinen im Resümee „die Entscheidungsträger in Berlin und Wien wie auch jene in St. Petersburg“ (XVII) als die Hauptverantwortlichen, Paris und London kommen erst im späteren Kapitel zum Kriegsausbruch und auch dort nur am Rand vor. Für die Darstellung im Hauptteil beschränkt sich Berghahn auf ältere Untersuchungen. Deutlich wird dies auch an der Auswahlbibliografie, die sich auf die Literatur der 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahre konzentriert, und in der eher reflexhaften Gegenüberstellung einer Weltkriegsgeschichte „von oben“ und „von unten“, deren Verknüpfung mittlerweile längst zum Standard einer modernen Geschichtsschreibung gehört, wobei die Sensibilisierung für diese Themenfelder der entsprechenden Schule als wichtiges Verdienst anzurechnen ist. Nicht fehlen darf allerdings der Verweis auf den „preußisch-deutschen Militarismus“ und die „Notwendigkeit“ für England, diesen „ein für alle Mal in seine Schranken zu weisen“. Hier findet sich eine der Begründungen für jene „Moralisierung des Krieges“, wie sie die zeitgenössische englische und US-amerikanische Kriegspropaganda betrieben und die die Deutschen als zivilisationslose Barbaren darstellte, und wie sie im Nachgang der Fischer-Kontroverse auch in Deutschland zahlreiche Anhänger fand. Diese „Schwarz-Weiß-Version eines ,gerechten Krieges‘“ findet in der jüngeren Forschung allerdings keine Bestätigung, wie die Historiker Dominik Geppert, Sönke Neitzel, Cora Stephan und Thomas Weber Anfang des Jahres in der Tageszeitung „Die Welt“ zu Recht betonten.

Trotz dieser Einwände bieten die beiden besprochenen Bücher insgesamt – bei besonders für 1914 starker Konzentration auf die Rolle der Mittelmächte – einen zuverlässigen Überblick zu Kriegsausbruch und -verlauf, verbunden mit einem traditionellen Blick auf den Forschungsstand. Mombauer gelingt es gerade über zahlreiche (dem Format der Reihe entsprechend leider nicht nachgewiesene) Zitate, die Anspannung und den Handlungsdruck der Julikrise bei allen Akteuren greifbar werden zu lassen. Berghahn zeichnet eindrücklich die ungeheuren Ausmaße der Opfer an der Front, der Entbehrungen an der Heimatfront, der wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Krieges nach. Das Kapitel „Eine Verlustrechnung“ stellt diese Zahlen auf erschütternde Weise zusammen. Auch die Relativierung der lange als gesichert geltenden „Kriegsbegeisterung“ in den beteiligten Staaten durch die Forschung stellt er überzeugend dar. Darüber hinaus gehende neue Blicke auf Julikrise und Ersten Weltkrieg findet man allerdings, wenn überhaupt, eher am Rande.

Titelbild

Volker Berghahn: Der Erste Weltkrieg.
5., aktualisierte und ergänzte Auflage.
Verlag C.H.Beck, München 2014.
128 Seiten, 8,95 EUR.
ISBN-13: 9783406663659

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Titelbild

Annika Mombauer: Die Julikrise. Europas Weg in den Ersten Weltkrieg.
Verlag C.H.Beck, München 2014.
128 Seiten, 8,95 EUR.
ISBN-13: 9783406661082

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