Dezidierte Politisierung

Annika Nickenig geht der Aneignung und Subvertierung pathologisierter Weiblichkeit in den Werken von Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts nach

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über die Jahrhunderte hinweg galten Frauen misogynen Männern als krankes Geschlecht, woran, so eine der frühen Thesen, die Gebärmutter schuld sei. Sie, so glaubten Ärzte des antiken Griechenlands, pflege im weiblichen Körper umherzuwandern und auf diese Weise allerlei Beschwerden zu verursachen. Eben von dieser kruden Annahme rührt die Bezeichnung her, die der bei Medizinern des Fin de Siècle wohl beliebtesten Diagnose, der Hysterie, den Namen gab, war das altgriechisch Wort für Gebärmutter doch hysteria.

Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts wiederum eigneten sich in ihren Werken die Vorstellung pathologisierter Weiblichkeit nicht selten subversiv an. Dieser „Wiederbelebung einer als pathologisch bezeichneten Heldin, die mit Merkmalen der Hysterie attributiert wird“, geht Annika Nickenig in ihrer Studie „Devianz als Strategie“ in Texten der Schriftstellerinnen Ingeborg Bachmann, Sylvia Plath, Marguerite Duras, Gisela Elsner, Toni Morrison und Christine Angot nach. Wie Nickenig zeigt, „entpuppt sich die Aktualisierung der Hysterie“ in den Texten der Literatinnen als „facettenreiche Möglichkeit, Devianz als Strategie gegen jene Normierungsbestrebungen einzusetzen, die im 20. Jahrhundert für die gesellschaftliche Pathologisierung von Weiblichkeit konstitutiv war“. Dabei weist die Autorin eine „zunehmende Verschiebung der Thematik in den Subtext der jeweiligen Romane“ nach.

Neu an Nickenigs Studie ist aber vor allem, dass sie ihr Augenmerk auf die „dezidierte Politisierung“ der „Parameter Krankheit und Geschlecht“ richtet. Dies eröffnet ihr die Möglichkeit, „in dem Verfahren der Wiederholung, Aneignung und Transformation ein ebenso strategisches wie politisches Moment“ zu erkennen. Schließlich geht es ihr darum zu zeigen, wie es den Literatinnen in ihren Texten gelingt, „die Wiederholung der Figur der kranken Frau produktiv zu machen und die daran geknüpften Zuschreibungen zu subvertieren“.

Titelbild

Annicka Nickenig: Devianz als Strategie. Aneignung und Subvertierung pathologisierter Weiblichkeit bei Autoren des 20. Jahrhunderts.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2014.
348 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783826049934

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