Und die Kugel rollt

Über Stewart O’Nans Roman „Die Chance“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was vermag eine Ehe auszuhalten? Wo endet Verzeihen und wo beginnt Selbstverleugnung? Das mögen Fragen gewesen sein, die den US-amerikanischen Schriftsteller Stewart O’Nan bewogen haben, eine beinahe schon kammerspielartige Ehegeschichte zu schreiben, eine Art Endspiel zu inszenieren, das nicht die zerstörerische Wucht Richard Yates’scher Dramen aufweist, sehr wohl aber an dieselben gemahnt.

„Die Chance“ heißt denn auch der durchaus mehrdeutige Titel des neuen Romans, der sowohl auf das Glücksspiel verweist, mit dem Marion und Art Fowler ihre wirtschaftliche Situation final verändern, sprich: verbessern wollen. Der Titel weist aber auch und möglicherweise vor allem auf die erhoffte Rettung des privaten Zusammenhalts hin. Vor dreißig Jahren haben Art und Marion ihre Hochzeitsreise an die kanadischen Niagarafälle gemacht. Nun sind sie erneut auf dem Weg dorthin, vielleicht eine nostalgische Schwäche, vielleicht ein gutes Omen. Denn dort wollen sie, neben touristischen Tagesausflügen, den sprichwörtlichen großen Coup landen. In ihren Berufen sind Marion und Art mehr oder weniger gescheitert, als Opfer sowohl eigener Fehleinschätzungen, als auch der wirtschaftlichen Entwicklung.

O’Nans Roman ist an dieser Stelle natürlich auch ein Kommentar zur Zeit, denn die Fowlers sind arbeitslos, ihr Haus steht zum Verkauf, und die Kinder haben sie über die tatsächliche Situation nicht informiert. Weil sie auf dem Arbeitsmarkt ohne Perspektive sind, haben sie ihr gesamtes Bargeld in eine Sporttasche gepackt und eine teure Suite gebucht, um an besagtem symbolträchtigem Ort entweder ganz viel zu gewinnen oder den kleinen verbliebenen Rest eben noch zu verlieren. Beide befinden sich in einer Art Ruhe vor dem letzten Sturm, noch einmal wollen sie an das große Glück, das es doch nicht geben kann, glauben.

Doch an diesem Punkt unterscheiden sie sich in ihren Charakteren, denn während Marion diese ganze Aktion insgeheim als Irrwitz und Schnapsidee abzutun scheint, ist der in dieser Sache sehr naiv wirkende Art voller Tatendrang und Hoffnung. Hat er sich doch mithilfe verschiedener theoretischer Modelle auf das Abenteuer Roulette vorbereitet, so dass scheinbar nichts schief gehen kann. Marions Haltung erklärt sich jedoch auch noch aus einem anderen Grund. Die Eheleute haben nämlich vereinbart, dass sie sich – gesetzt den Fall, die Sache verläuft nicht wie gewünscht – im Anschluss an diesen Trip scheiden lassen. Zwar war ihre Ehe von Hochs und Tiefs geprägt, doch während er auch nach 20 Jahren noch immer Schuldgefühle wegen einer Affäre hat und deshalb noch immer versucht, Marion zurückzugewinnen, macht sie sich weniger Illusionen, versucht ihrerseits die immer wieder aufkommenden Erinnerungen an eine kurze Affäre mit einer anderen Frau zu unterdrücken. So hat jeder seinen Gefühlsballast zu tragen, den sie jedoch in dieser künstlichen, kulissenhaften Welt von Hotel, Spielcasino und Wasserfällen abzuschütteln versuchen.

Statt dessen nähern sie sich wieder einander an. An dieser Stelle knüpft Stewart O’Nan, der ein großartiger Chronist des Alltags und mehr oder weniger alltäglicher Menschen ist, an den Vorgänger „Emily allein“ an, in dem eine betagte Dame einen Neuanfang wagt. „Die Chance“ steht ohnehin in O’Nans Werk in einer Reihe mit Büchern, in denen der Autor zu ergründen versucht, welche Ereignisse Menschen in problematische Situationen gebracht haben und vor allem, mit welchen Gedanken, Gefühlen und Mitteln sie versuchen, sich diesen Situationen zu stellen. Das war so in seinem Debüt „Engel im Schnee“, natürlich auch in „Halloween“ und exemplarisch in dem schmalen Buch „Letzte Nacht“, das ebenfalls individuelle Nöte aufgrund wirtschaftlicher Veränderungen aufgreift.

Berührend wird O’Nans Literatur durch seine bemerkenswerte Fähigkeit, seine Protagonisten ganz normal wirken zu lassen. Sie reagieren wie Menschen aus Fleisch und Blut, haben nachvollziehbare Schwächen und Defizite. Dabei macht sich der Autor nie lustig über seine Figuren, erhebt sich nicht über sie, sondern akzeptiert ihr Verhalten, wodurch er sie dem Leser sehr nahe bringt. Das wird nie kitschig, wohl aber dann und wann melancholisch, was O’Nan jedoch mit einer Dosis Humor und Situationskomik auszubalancieren versteht. Brillant sind seine Dialoge, deren scheinbare Banalität die Alltäglichkeit der Geschichte perfekt transportiert, ohne sie jemals langweilig und dröge werden zu lassen. Im Gegenteil, der Leser ist – schon aufgrund des Topos Glücksspiel – permanent in einer Spannung, will wissen, wie das Spiel, vor allem aber auch wie Arts und Marions Leben weitergeht. Dem mittlerweile 53-jährigen Stewart O’Nan ist mit „Die Chance“ ein Roman gelungen, der im Regal gut neben den schon genannten Richard Yates, aber auch neben John Updike passt.

Titelbild

Stewart O'Nan: Die Chance. Roman.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Gunkel.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2014.
224 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498050429

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