Sinn tötet
John Ashberys Langgedicht „Flussbild“ lässt alle Fragen offen
Von Matthias Friedrich
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn einer Galerie steht ein Betrachter vor einem surrealistischen Gemälde. Nicht das Nähertreten erleichtert die Beschäftigung damit, sondern die Distanz. Doch die Striche werden sich trotzdem nicht zusammenfügen, keine Geschichte offenbaren. Denn der amerikanische Lyriker John Ashbery ist kein Erzähler. In seinem 1991 erstmals erschienenen, jetzt auf Deutsch vorliegenden Langgedicht „Flow Chart“ entwirft er eine ganze Sammlung unterschiedlicher Bilder, es liegt ihm jedoch fern, dazu eine Interpretation anzubieten. Dem Leser ist es selbst überlassen, welche davon ihn interessieren und welche nicht.
Als lose strukturierende Elemente erscheinen in diesem Text, der in sechs Kapitel unterteilt ist, immer wieder die Wörter „Brücke“ und „Fluss“. Der Leser darf einen Blick in den reißenden Strom der Metaphern riskieren, obwohl er skeptisch sein mag. Ashbery versucht, dieses Zögern in seinem Text nachzubilden. Er will Dinge aufhalten, bevor sie verschwinden; gleichzeitig gibt er sie frei. Das erlaubt ihm, ein Konzept von Kohärenz zu unterlaufen: „Glaubst du, es besteht ein Zusammenhang zwischen dem und dem, was vorher geschah?“
Ashbery lesen heißt, den Faden verlieren zu wollen. Denn die Suche nach dem Sinn dieses Gedichts wäre unvorteilhaft, da es lediglich „Marginalien“ hervorhebt. Der Leser ist in der Folge völlig auf sich gestellt; stilistische Fallhöhen sind wichtiger als Stabilität. „Obwohl der Sonne knusprig verkohlte / Eingeweide hinter jenen Gipfel gesackt sind, hat bisher niemand einen Anspruch auf / die erstaunliche Summe angemeldet, welche der Sachverwalter verspricht. Weißte, kein / Minnesänger brach je einen Eid“.
Mit diesem ästhetischen „Plan“ macht sich der Autor unangreifbar. Einerseits kann man ihm vorwerfen, beliebig zu sein, andererseits ist er nicht beliebig genug, weil das „Flussbild“ nicht in alle Winkel auswuchern kann. Im begrenzten Rahmen des Buches stellt Ashbery aber klar, dass er nicht Herr im Hause seiner Dichtung ist, was den Text in Bewegung setzt. Er wendet sich gegen jede Literatur, die einen ganz bestimmten Inhalt vermitteln will, und dürfte damit viele Leser abschrecken. Wer sich jedoch darauf einlässt, empfindet mitunter Freude daran, sich dem Bilderstrom zu überlassen, den Sinn dabei jedoch zu vergessen.
Matthias Göritz und Uda Strätling versuchen, diese Problematik in ihrer Übersetzung zu bedenken. Sie schaffen es, den ständigen Wechsel stilistischer Register auch im Deutschen wiederzugeben; die weitschweifige Gedichtstruktur bewältigen sie ohne weiteres. Allerdings geben sie vor allem Fachausdrücke wörtlich wieder („dislocation“ wird zu „Dislozierung“) oder verwenden Genitive oft in altmodischer Form (z. B. „heaven’s summit“ als „des Himmels Zenit“). Gelegentlich passieren den Übersetzern auch stilistische Patzer, wenn etwa Ashberys „replacement-sun“ auf einer „Sonnenersatzbahn“ davonfährt oder wenn sich ein schlichter „someone“ in einen „dünne[n] Mann“ verwandelt.
Solche Fehler sind zwar ärgerlich, im Großen und Ganzen ist es aber auch deutschen Lesern möglich, das surrealistische Sammelsurium an Bildern, Strichen und Fragmenten zu betrachten (obwohl Textverständnis hier nicht gefragt ist).
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