Die Stimme des weißen Südafrika

Zum Tod von Nadine Gordimer

Von Simone FrielingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Frieling

1.

Am Sonntag, den 13. Juli 2014, ist die neunzigjährige Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer in Johannesburg gestorben. Sie ist die erste und einzige Nobelpreisträgerin Südafrikas gewesen. Im Ausland hoch geschätzt, stand man ihr im eigenen Land oft gleichgültig bis skeptisch gegenüber. Feinde hatte sie bis zuletzt unter konservativen Apartheid-Befürwortern, die sich noch einmal 2006 mit Häme zu Wort meldeten, als Gordimer in ihrem Haus von schwarzen Einbrechern überfallen worden war, aber auch unter ANC-Mitgliedern und der heutigen Regierung des Präsidenten Jacob Zuma. Denn Gordimer hatte sich nicht vereinnahmen lassen, weder von dem Apartheidregime, noch vom ANC, dessen Ziele sie teilte, ohne die Art ihrer Durchsetzung immer zu billigen. Ihr wiederum warfen ANC-Mitglieder vor, in ihren Büchern zu wenig politisch zu sein und die Missstände nicht scharf genug kritisiert zu haben. Gordimer hatte sich aber nie als politische Schriftstellerin definiert, sondern als Beobachterin zwischenmenschlicher Beziehungen. Sie kämpfte auf ihre Weise gegen das Unrechtsregime der Apartheid.

In Interviews der vergangenen Jahre war ihre Resignation über die Zustände Südafrikas deutlich herauszuhören. Gordimers Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben in ihrem Land und eine untadelige demokratische Regierung haben sich auch nach fünf freien Wahlen nicht erfüllt; in ihrem letzten Roman von 2012 „Keine Zeit wie diese“ rechnet sie hart mit dem Land ab, das sie liebte – und das sie bei allen Konflikten als ihre Heimat ansah.

2.

Die Lieblingsschriftstellerin Nelson Mandelas widmete ihr Leben und Werk dem Kampf gegen die Apartheid. Obwohl ihre Familie als Weiße in Südafrika alle Privilegien besaß und ihre Eltern den täglichen Rassismus gegen Schwarze als selbstverständlich ansahen, lösten die Verhältnisse bei Nadine Gordimer schon in der Jugend Entsetzen aus. Hineingeboren in die Dekadenz der Kolonialära, erlebte sie in der Mitte des 20. Jahrhunderts, nachdem 1948 die Partei der burischen Nationalisten an die Macht gekommen war, die Verfestigung des Apartheidregimes, die zur Verschärfung des Rassenkonflikts führte. Gordimer wurde in Südafrika lange mit Publikationsverbot belegt, das erst 1981, auf Grund internationaler Proteste, denen sich zum Beispiel Heinrich Böll und John Fowles anschlossen, aufgehoben wurde. Sie wurde als Schriftstellerin die bekannteste weiße Gegnerin der Apartheidpolitik.

1923 in Springs in der Provinz Gauteng geboren, die in den 30er Jahren das größte Goldfördergebiet der Welt war, erlebte Gordimer von Kindheit an die Härten gegen Schwarze. Weiße besaßen die Minen, Schwarze arbeiteten in ihnen, Weiße lebten in Villen, Schwarze zurückgedrängt in Bergwerkssiedlungen aus Bretterverschlägen.

Gordimers Mutter Hannah, geb. Meyers, war als Sechsjährige mit ihrer jüdischen Familie aus England nach Afrika gekommen, ihr Vater Isidore als Dreizehnjähriger aus dem Grenzgebiet zwischen Litauen und Lettland. Seine Muttersprache war Jiddisch, seine geringe Schulbildung hatte er in deutscher Sprache erhalten. Er arbeitete als Uhrmacher bei einem Juwelier in Springs, sein Verdienst reichte eben, um eine Familie zu ernähren. Er stand damit auf einer unteren sozialen Stufe und legte umso mehr Wert auf die Abgrenzung gegen Schwarze. Der Tochter wurde im Elternhaus eingeschärft, schwarze Wohngegenden zu meiden und „niemals aus einer Tasse zu trinken, aus der zuvor unsere Dienstbotin getrunken hatte“.

Beide Eltern nahmen am jüdischen Gemeindeleben der Kleinstadt nicht teil. Nadine Gordimer besuchte eine private Klosterschule. Sie fing früh zu schreiben an und veröffentlichte als fünfzehnjährige Schülerin ihre erste Erzählung in der liberalen Johannesburger Wochenzeitung „The Forum“. An der Witwatersrand University studierte sie Geisteswissenschaften, wurde dort mit dem afrikaansen Schriftsteller Uys Krige bekannt, in dessen Literaturzeitschrift sie publizierte. Nach einem Jahr brach sie das Studium ab und widmete sich ganz dem Schreiben. 1948 zog sie nach Johannesburg und heiratete 1949 in erster Ehe Gerald Gavronsky, einen Zahnarzt. In zweiter Ehe verband sie sich 1954 mit dem Galeristen Reinhold Cassirer, der aus einer berühmten deutsch-jüdischen Familie stammte und 1935 aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflohen war. Im Jahr 1955 wurde der Sohn Hugo geboren, mit dem zusammen Nadine Gordimer 1984 die Filme „Choosing for Justice“ und 1999 „Berlin-Johannesburg“ drehte. Zu letzterem erklärte sie in einem Interview mit dem Deutschlandradio Berlin: „Es ist ein Zufall der Geschichte, ein Teil der seltsamen Geschichte des 20. Jahrhunderts, denn in beiden Städten gab es eine eigenartige gesellschaftliche Verformung: In Berlin wurde die Stadt mit einer Mauer geteilt – aus ideologischen Gründen. Und in Johannesburg war auch die Stadt geteilt – aus rassischen Gründen“.

Gordimer engagierte sich seit den 50er Jahren in der Anti-Apartheid-Bewegung und dem damals noch verbotenen ANC, dessen Mitglied sie 1990 wurde. Ebenso setzte sie sich für die Bekämpfung des HIV-Virus ein, der unter Schwarzen in Südafrika bis heute grassiert.

In den 60er und 70er Jahren lehrte Gordimer an verschiedenen amerikanischen Universitäten. Als die ersten freien Wahlen 1994 in Südafrika stattfanden, wollte der ANC Gordimer als Kandidatin aufstellen. Sie lehnte ab, da sie Künstlerin und keine Politikerin sei.

3.

Nadine Gordimer war eine produktive Autorin. 15 Romane, über 200 Kurzgeschichten und zahlreiche Essays gehören zu ihrem Werk. Die frühe, aus Büchern gewonnene Erkenntnis, dass es eine andere,  bessere Welt als die Südafrikas während der Apartheid geben müsse, wurde zum Ur-Motiv ihres Schreibens. Ihr Werk steht in der Tradition des psychologischen Realismus des 19. Jahrhunderts. Die größte Aufmerksamkeit hat Gordimer mit ihren Romanen gefunden, deren erster unter dem Titel „The Lying Days“ 1953 erschien.

In ihren Erzählungen, die als eigenständiger Band zum ersten Mal 1949 erschienen, wendet sie sich auf unspektakuläre Weise dem Leben in Südafrika zu. Leise und ironisch, aber ohne jede Polemik, entwickelt sie Alltagsgeschichten, deren politischer Hintergrund immer gegenwärtig ist. Ähnlich wie ihre amerikanischen Kolleginnen Anne Tyler und Alice Munro ist sie eine präzise Beobachterin kleiner menschlicher Dramen. 

Zu den bekanntesten Werken Nadine Gordimers zählen „A World of Strangers“ 1958 (Fremdling unter Fremden) und „Burger’s Daugther“ 1979 (Burgers Tochter). Als eines ihrer radikalsten gilt „July’s People“. Der Roman nimmt zeitgeschichtliche Veränderungen vorweg, die etwa zehn Jahre später eintraten, und von denen man annehmen kann, dass Gordimer sie für zwangsläufig hielt. Der Roman konstruiert eine Welt, in der sich das Herrschaft-Diener-Verhältnis verkehrt, über das Gordimer in mehreren Romanen erzählt, um Machtverhältnisse zu entlarven. Der schwarze Hausboy July flieht mit der fünfköpfigen Familie seines Dienstherren aus Johannesburg vor bewaffneten schwarzen Rebellen, um die weiße Familie im Busch in Sicherheit zu bringen. Dort leben die Smales in absoluter Abhängigkeit von Julys Dorfgemeinschaft. Obwohl sie sich bemühen, den schwarzen Bewohnern nicht zur Last zu fallen, in dem sie alles Notwendige für ihren Erhalt tun, werden sie nur gelitten. July, der eine Zeit lang noch ein dienstbarer Geist zu sein scheint, nutzt die veränderten Machtverhältnisse zu seinen Gunsten aus. Die Familie Smales wird durch die neue Konstellation dazu gezwungen, ihr Verhalten gegenüber July in der Vergangenheit zu reflektieren. Ihr Selbstverständnis war das liberaler Bürger, jetzt müssen sie erkennen, dass auch sie sich der Mechanismen bedienten, die Schwarze unterdrückten und demütigten.

Der Entwicklungsroman „Burger’s Daughter“ von 1979 (Burgers Tochter) gilt als eines der Meisterwerke Gordimers und ist, wie sie selbst sagt, ihr liebstes Kind. Der Roman zeichnet das Porträt einer sensiblen weißen Frau, Rosemarie Burger, deren Vater, Lionel Burger, als Kommunist und Regimegegner in Südafrika bespitzelt, verhört und zu lebenslanger Haft verurteilt wird, in der er stirbt. Die Figur des Vaters ist stark angelehnt an die historische Person Bram Fischers, der ein prominenter Führer der Kommunistischen Partei Südafrikas war und als Anwalt Berühmtheit erlangte durch die Verteidigung Nelson Mandelas und anderer ANC-Funktionäre, von denen er die Todesstrafe abzuwenden und in lebenslange Haft umzuwandeln verstand. Fischer verlor seine Zulassung als Anwalt, wurde 1966 selbst zu lebenslanger Haft verurteilt und starb 1975 im Gefängnis an Krebs.

Rosa Burger, Tochter eines politisch engagierten Ehepaars, wird durch den frühen Tod der Mutter und die Inhaftierung des Vaters gezwungen, ihr Leben mit vierzehn Jahren selbst in die Hand zu nehmen. Ganz im Sinne ihrer Eltern, die sie schon als Kind für die eigenen politischen Ziele herangezogen hatten, setzt Rosa ihr Werk fort. Sie kehrt nach einer Zeit der Selbstfindung aus Europa nach Südafrika zurück, um den Opfern der Soweto-Aufstände, meist Kindern, im Krankenhaus beizustehen, bis sie schließlich selbst ins Gefängnis kommt. Sie verzichtet „auf privates Glück“, um einen Beitrag zu leisten „zur Linderung des  kollektiven Leids“ der Schwarzen, ohne Parteiideologie, allein aus humaner Solidarität. Rosa Burgers Entwicklung in dem Roman besteht darin, dass sie immer mehr zur ‚wirklichen‘ Tochter ihres Vaters wird.

Einige Kritiker hatten vermutet, dass Nadine Gordimer nach Abschaffung der Apartheid, nach veränderten politischen Verhältnissen in Südafrika, ihr Thema verlieren würde und als Schriftstellerin nichts mehr zu sagen haben würde. Davon konnte keine Rede sein. Der Roman „None to Accompany Me“ 1994 (Keiner, der mit mir geht) zeigt an einem schwarzen Paar und einem aus dem Exil zurückgekehrten liberalen weißen, wie deformiert noch immer die zwischenmenschlichen Verhältnisse zwischen Weiß und Schwarz in Südafrika sind. Auch in dem 1998 erschienenen Roman „The House Gun“ (Die Hauswaffe) beschäftigte sich Gordimer mit den Nachwirkungen des Apartheidstaats. Deutlich lässt sie erkennen, dass die nun befreiten Menschen ihren Platz noch nicht gefunden haben.

Da sich die politischen Fragen für Gordimer bis zuletzt nicht erledigt hatten, handelt noch ihr letzter Roman „No Time Like the Present“ 2006 (Keine Zeit wie diese) wieder von Südafrika. Die Post-Apartheidgesellschaft, die Gordimer beschreibt, leidet unter Korruption, Bildungsmisere, Drogenproblemen, Streit über Landreformen und einem unendlichen Zustrom von Flüchtlingen aus Swasiland und Simbabwe. Am Ende des Romans verlassen die Protagonisten Steve und Jabulile Südafrika, um den Verhältnissen in der Heimat zu entfliehen. Die Kinder der Revolution wandern nach Australien aus. 

4.

Seit den 70er Jahren hat das Werk Nadine Gordimers internationale Anerkennung erfahren. 1974 erhielt sie für „The Conservationist“ (Der Besitzer) den Booker Prize, 1995 den Nelly-Sachs-Preis. 1991, ein Jahr nach der Freilassung Nelson Mandelas, wurde sie mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet: „für ihre epische Dichtung, die der Menschheit einen großen Nutzen erwiesen hat durch tiefe Einblicke in das historische Geschehen dazu beiträgt, dieses Geschehen zu formen“.

Südafrika hat eine leise, aber präzise Stimme verloren, die für die Zustandsbeschreibung einer problembeladenen Gesellschaft von höchstem Wert war. Mit dem Tod Nadine Gordimers ist ein schriftstellerisches Lebenswerk beendet, das unbestechlich und zutiefst menschlich war. Wer soll ihre Stimme ersetzen? Wen gibt es, der gleichermaßen Land und Leute liebt, obwohl er die vergangenen Jahre in einem Haus leben musste, das von Mauern und Stacheldraht gesichert war? Wer wird sich bis ins hohe Alter hinein um einen Ausgleich in der südafrikanischen Gesellschaft kümmern? Nadine Gordimer wird fehlen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz