Konservativ und radikal: Ricarda Huch, der weiße Elefant

Eine Dankrede aus dem Jahr 1981, neu veröffentlicht zum 150. Geburtstag der Schriftstellerin

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

„Ehret die Frauen! sie flechten und weben / Himmlische Rosen ins irdische Leben.“ Jawohl, das stimmt, unser Schiller hatte schon recht: Die Frauen nähren „das ewige Feuer schöner Gefühle mit heiliger Hand“. Aber was haben sie eigentlich zu unserer Literatur beigetragen?

Gewiss, Karoline und Bettina, Rahel und Dorothea, diese vieldiskutierenden und noch mehr korrespondierenden Frauen der Romantik dürfen wir nicht vergessen. Indes: Würden wir uns noch an sie erinnern, wenn es nicht die bedeutenden Männer gegeben hätte, mit denen sie befreundet und bisweilen auch verheiratet waren?

Anders verhält es sich mit Annette von Droste-Hülshoff, der großen Ausnahme. Ein Zeichen wäre es der literarischen Ahnungslosigkeit, wollten wir die Genialität dieser stillen und schwermütigen, dieser düsteren und dämonischen Frau verkennen. Doch auf dem Weg von der Droste über die Ebner-Eschenbach bis zu, sagen wir, Marie Luise Kaschnitz – wie viele nennenswerte deutsche Autorinnen gibt es da?

Findet sich aber in dem Zeitabschnitt von der Droste bis heute eine starke unabhängige Dichterin, dann ist es eine, die zwar herrliche Verse geschrieben hat, die sich aber eher anstaunen als ganz ernst nehmen ließ. Ich meine die exaltierte und extravagante Else Lasker-Schüler, die sich weigerte, die Welt zur Kenntnis zu nehmen, und stets in einem mehr oder weniger orientalischen Märchenreich lebte. […]

Nichts liegt mir ferner, als das Talent einiger origineller deutscher Schriftstellerinnen zu unterschätzen – man könnte hier noch Annette Kolb, Elisabeth Langgässer und Marieluise Fleißer nennen –, aber ich frage mich, ob es mit einer gewissen Weltfremdheit zu tun hat und mit der nicht immer, doch häufig auffallenden Abneigung gegen das Intellektuelle, dass sich gerade in den deutschsprachigen Ländern der Einfluss der schreibenden Frauen eher in Grenzen hielt. […] Es ist doch wohl kein Zufall, dass die einzige Frau, die als Politikerin und Publizistin Einfluss auf die Öffentlichkeit im spätwilhelminischen Deutschland ausüben konnte, eine polnische Jüdin war: Rosa Luxemburg.

Man sollte sich hüten, zur allgemeinen menschlichen oder weiblichen Misere zu stempeln, was natürlich nicht nur auf Deutschland zutrifft, was aber dennoch eine typisch deutsche Angelegenheit scheint. Dies jedenfalls meinte Thomas Mann, als er im Jahre 1924 eine Frau rühmte, die den gängigen deutschen Vorstellungen von einer Dichterin so gar nicht entsprach: Ricarda Huch. Aus Anlass ihres sechzigsten Geburtstags sagte er, dass sie hierzulande „zutraulicher verehrt werden würde, wenn sie dümmer wäre, wenn sie als reine Dichterin und Geschöpf des Unbewußten sich einfältig darstellte“. Thomas Mann feierte sie hingegen als eine „Herrscherin im Reich des Bewußten“, als eine große Intellektuelle.

Eine Intellektuelle? Eine geistreiche und gebildete Frau? Dann wohl, reden wir offen, auch etwas blaustrümpfig. So mochte sich mancher die Autorin umfangreicher und gelehrter Bücher denken. Doch nichts falscher als dies.

In ihrem Roman „Michael Unger“, 1903 erschienen, gibt es einen leitmotivisch wiederkehrenden Ausruf: „O Leben, o Schönheit!“ Der Held des Buches träumt vom Abenteuer eines freien und erfüllten Daseins, entschieden kehrt er seiner Heimat den Rücken und geht in die Schweiz. „Michael Unger“, dieser Roman voll Glückssehnsucht und Schönheitsrausch, voll Lebensenthusiasmus und auch Existenzangst, erzählt in der Geschichte des jungen norddeutschen Patriziersohnes zugleich die Geschichte der jungen Ricarda Huch.

Sie konnte es in ihrer Geburtsstadt Braunschweig nicht aushalten, auch sie hatte vom Vaterland genug, sie musste weg. Warum? „Im damaligen Deutschland“ – erinnert sich Ricarda Huch – „konnte man nur entweder Beifall klatschen zu dem, was die jeweiligen Regierenden anordneten, oder schweigend und verärgert, von allen verketzert, beiseitestehen.“ Also eine politische Emigrantin, die gegen die Verhältnisse im Kaiserreich rebellierte? Ganz gewiss, doch ist dies nur die Hälfte der Wahrheit. Die andere ist von persönlicher, intimer Art.

In ihrem Buch über die Romantik sagt Ricarda Huch der Karoline Schlegel eine Schwäche nach, die „ihr eigenstes Wesen ausmachte und zugleich ihre Stärke war, daß sie nämlich ohne Liebe nicht sein konnte“. So war auch sie, Ricarda Huch: ohne Liebe konnte sie nicht existieren.

Sie ist noch ein halbwüchsiges Mädchen, da verliebt sie sich in ihren erheblich älteren Vetter, den Juristen Richard Huch. Sie ist kaum neunzehn Jahre alt, da weiß sie schon, dass sie mit diesem und keinem anderen Mann zusammenleben will. Richard jedoch ist längst verheiratet, und seine Frau ist Ricardas ältere Schwester Lilly. Er will sich von ihr scheiden lassen, aber er zögert, er kann sich nicht entschließen …

Kurz, Ricardas Traum geht nicht in Erfüllung: Nach drei qualvollen Jahren muss sie sich von dem Vetter trennen, endgültig, so will es scheinen. Näheres hierüber findet sich in ihrem ersten Roman, den „Erinnerungen von Ludolf Ursleu“. Einige Jahre vor dem großen Buch des Lübecker Kaufmannssohns erzählt auch sie, die Braunschweiger Kaufmannstochter, vom „Verfall einer Familie“. Im Mittelpunkt: die elementare Leidenschaft einer jungen Frau zu ihrem verheirateten Vetter.

So verließ Ricarda Huch Braunschweig und Deutschland und ging dorthin, wo es nicht mehr ungewöhnlich war, dass eine Frau studierte – nach Zürich, wo übrigens wenig später eine andere eintraf, der die Flucht aus Warschau gelungen war und die nun in der Schweiz Nationalökonomie studieren wollte: Rosa Luxemburg.

Aber anders als Rosa Luxemburg hatte Ricarda Huch damals – wie sie selber sagte – noch „keine festen Überzeugungen, keine Grundsätze“. Was sich da bei ihr als Weltanschauung bemerkbar machte, das war nur, meinte sie, „eine Richtung auf das Leben, ich könnte auch sagen auf das Schöne, das Große …“ Richtung auf das Leben – das bedeutete zunächst die konsequente Ablehnung jeglicher Versponnenheit und Innerlichkeit. Im Unterschied zu den nicht zahlreichen schreibenden Frauen ihrer Generation wollte sie von femininer Weltfremdheit nichts wissen, dem Exaltierten misstraute sie allemal.

Von allen Romantikern liebt sie am meisten Novalis, weil er nicht zu jenen gehörte, „die die Augen an den Sternen hängend mit den Füßen durch den Sumpf waten“. Seine Philosophie sei wie seine Poesie: „erlernt im Leben und darin angewandt“. Sie bewundert den zarten Dichter, der sich, das imponiert ihr, der praktischen Laufbahn eines Bergbaubeamten gewidmet hatte. Auch sie, die vom Schönen und Großen träumt, sehnt sich nach dem Praktischen.

Nachdem sie das Studium beendet hat, arbeitet sie in Zürich als Bibliothekarin, dann als Lehrerin – und gibt nach einigen Jahren diese Tätigkeit doch auf: Sie siedelt nach Bremen über – und Bremen liegt nicht gar so weit von Braunschweig, wo Richard wohnt, der Vetter und Schwager. Die beiden treffen sich wieder, wieder werden Ehepläne geschmiedet, ja sie erwägen sogar eine gemeinsame Auswanderung nach Amerika. Und wieder wird nichts daraus. Ricarda scheint verzweifelt.

Aber in Wien lernt sie einen italienischen Arzt, Ermanno Ceconi, kennen – und schnell wird geheiratet. Nach wenigen Jahren trennt sie sich von Ceconi, und gleichzeitig lässt sich der Vetter und Schwager Richard Huch endlich scheiden, er ist frei, nichts steht dem Glück der beiden im Wege, Ricarda Huch kann den Mann heiraten, den sie seit fast einem Vierteljahrhundert liebt und den sie in vielen Gedichten – meist übrigens schlechten – immer wieder besungen hat. So hat sie 1907 (sie ist mittlerweile 43 Jahre alt) erreicht, wovon sie träumte.

Aber, ach, wir wissen es: Nichts ist riskanter, als die Erfüllung eines langjährigen Traums zu erleben. Kaum war die Ehe geschlossen, da häuften sich Schwierigkeiten, über die sich die Biographen Ricarda Huchs in dunklen Andeutungen ergehen. Sie selber hingegen sagte unmissverständlich, was geschehen war: Nichts Originelles. Es war nur eine Geigerin aufgetaucht, hübsch und jung. Ricarda und Richard Huch mussten bald wieder auseinandergehen. Nicht ihn habe sie geliebt, erklärte er, sondern ein „Phantasiegebilde“.

In ihrem Porträt der Karoline Schlegel heißt es: „Man darf sich nun aber nicht vorstellen, sie hätte jemals über einen geliebten Mann wirklich sich und die ganze Welt vergessen … Ihr aufmerksamer Geist blieb ihrer blinden, elementaren Leidenschaft ebenbürtig.“ Damit hatte Ricarda Huch zugleich die vielleicht wichtigste Eigentümlichkeit ihrer eigenen Person angedeutet.

Niemals vernachlässigt sie die Darstellung der Gefühle und Leidenschaften, niemals unterschätzt sie die Rolle des Triebhaften, des Unbewussten und Instinktiven. Wollten wir aber sagen, dies alles werde in ihrer Prosa einer ständigen intellektuellen Kontrolle unterworfen, so wäre dies nicht falsch, doch könnte man glauben, es gäbe bei Ricarda Huch gleichsam zwei verschiedene Elemente, die sich ergänzen, die sich gegenseitig prüfen und beaufsichtigen. Das eben trifft nicht zu.

Intuition und Reflexion bilden bei ihr eine unzertrennliche Einheit. Daher ist es auch so schwer, ja oft unmöglich zu entscheiden, welcher Gattung gerade ihre besten Bücher angehören. Wer hat sie geschrieben – eine Dichterin oder eine Wissenschaftlerin, eine phantasievolle Erzählerin oder eine exakte Chronistin? Ricarda Huch ist stets beides zugleich und auf einmal. Ihre Essays sind auch Geschichten und ihre Geschichtswerke auch Epen. Ihr Buch über die Romantik, um die Jahrhundertwende in zwei Bänden publiziert, macht dies auf beispielhafte Weise deutlich: Es ist ein fundamentales kulturgeschichtliches Dokument und ein literarisches Kunstwerk von großer Schönheit.

Georg Lukács hatte keineswegs übertrieben, als er feststellte, dass Ricarda Huchs Buch den wichtigsten Anstoß zur Wiedergeburt der Romantik gegeben habe. Wie war das möglich geworden? Wie konnte es einer noch jungen Frau gelingen, ein derartiges bahnbrechendes Werk zu schreiben?

Die zünftige Germanistik hatte die Romantik auf sträfliche Weise verkannt und vernachlässigt: In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts war sie fast schon in Vergessenheit geraten. Aber Ricarda Huch kümmerte sich nicht um die Regeln und Konventionen der Germanisten, sie ignorierte ihre Anschauungen und Prinzipien. Trotzig verfolgte sie ihren eigenen Weg: Sie griff auf die Schriften der Romantiker zurück, auf ihre vielen Briefe und auf andere, reichlich vorhandene Zeugnisse der Epoche, die oft gänzlich unbekannt geblieben waren.

Weit über Literatur und Kunst, über alles Ästhetische hinausgehend, war Ricarda Huch kühn genug, in ihre Darstellung jene wissenschaftlichen Disziplinen einzubeziehen, die mit dem Geist der Romantik zusammenhingen – von der Psychologie über die Volkskunde und die Symbolforschung bis hin zur Germanistik. Sie porträtierte nicht nur die Dichter der Epoche und ihre Frauen und Freundinnen, sondern auch die Mediziner und Naturforscher, die Theologen, die Gelehrten und die Politiker jener Jahre.

Über sie alle schrieb Ricarda Huch verständnisvoll, doch niemals andächtig. Sie wusste sehr wohl, was manche unserer Germanisten noch heute nicht zu wissen scheinen – dass nämlich Literaturbetrachtung unter keinen Umständen auf Kritik und Wertung verzichten kann. Sie zögerte nicht, auch die dunklen und dubiosen Seiten der Romantiker, auch ihre Schwächen und Makel in aller Deutlichkeit zu zeigen.

So zeugt dieses wahrhaft enzyklopädische und anmutige, ja unterhaltsame Buch von einer Tugend, die im geistigen Leben Deutschlands nicht häufig anzutreffen ist. Ich meine die Unabhängigkeit Ricarda Huchs. „Ich war“ – bekannte sie einmal – „ein geborener Protestant, mit einer Vorliebe für Revolution und Rebellion …“ Es sind die Volksführer und Freiheitskämpfer, die Anarchisten, Revolutionäre und Rebellen, mit denen sie sich immer wieder beschäftigte: Ihre Liebe galt den (in des Wortes weitester Bedeutung) Protestanten – von Luther und Tilman Riemenschneider bis zu dem von ihr bewunderten Freiherrn vom Stein. Sie schrieb über Garibaldi, über Bakunin und Lassalle und veröffentlichte gegen Ende der Weimarer Republik ein erstaunliches Buch über die Revolution von 1848.

Unverkennbar ist in allen ihren Arbeiten, was sie in hochherzigen Worten der großen Droste bescheinigt hat: die „Lust am Trotz und Stolz, der dem Schicksal den Handschuh hinwirft, am Zweifel, der an glühenden Pforten rüttelt, am Verneinen, am Sprung über die Schranken“. Wie in ihrem gewaltigen Buch über den Dreißigjährigen Krieg, einer poetischen Chronik und einem historischen Epos in einem, nimmt Ricarda Huch stets Partei für die Benachteiligten, für die Erniedrigten und Beleidigten, für die Besiegten.

Man hat sie als konservativ bezeichnet. Wenn das zutrifft, dann war sie freilich konservativ und radikal zugleich. Man hat sie als Neuromantikerin abstempeln wollen. Aber kein Vertreter der Neuromantik hatte so viel Sinn für die Realität der Gegenwart wie diese Frau. Denn ihre Lust am Widerstand wurde relativiert durch ihr betont bürgerliches Bewusstsein, ihr ausgeprägtes Pflichtgefühl.

Sie rühmt E. T. A. Hoffmann, weil sein Instinkt ihn wieder zur Wirklichkeit geführt habe und zum Alltagsleben: Diesem Interesse für das „Naheliegende, Gegenwärtige, Wirkliche“ sei es zu verdanken, dass Hoffmanns Werke nicht wie die der anderen Romantiker „an der Unermeßlichkeit des Planes zerrinnen“. Mit aller Entschiedenheit distanziert sich Ricarda Huch vom „einseitigen Ästhetizismus“ in der Literatur ihrer Zeit. Sie meint damit Stefan George und seine Anhänger.

Gegen George spielt sie Gottfried Keller aus, der sich als Staats- und Stadtbürger bewährt habe. Keller habe nicht zu jenen Künstlern gehört, „die sich vom öffentlichen Leben in einen Schlupfwinkel zurückziehen“.

Ricarda Huch lebte nie in einer Traumwelt oder einem Märchenreich, für sie kam ein elfenbeinerner Turm als Aufenthaltsort nicht in Betracht, die mannigfaltigen Schlupfwinkel übten auf sie keine Anziehungskraft aus. Im Jahre 1926 in die neugegründete Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste gewählt, nahm sie diese Wahl an und wirkte in den nächsten Jahren aktiv mit. Als im Frühjahr 1933 die Juden aus dieser Sektion für Dichtkunst entfernt wurden – es waren darunter Alfred Döblin, Franz Werfel und Jakob Wassermann –, als andere Schriftsteller wie Thomas und Heinrich Mann aus politischen Gründen unwillkommen waren, da hoffte man, sich weiterhin mit dem Namen Ricarda Huch schmücken zu können.

Es sei undenkbar – schrieb ihr der Präsident der Akademie, der Komponist Max von Schillings –, dass sie ausscheiden wolle. Dies sei allen klar, die „Ihre deutsche Gesinnung und nationale Einstellung aus Ihrer von uns verehrten Persönlichkeit und aus Ihrem künstlerischen Schaffen“ kennen. Offensichtlich kannte Schillings ihre Bücher nicht. Damals, als andere Mitglieder der Akademie es vorzogen, sich diplomatisch zu verhalten, entschloss sich Ricarda Huch zur unmissverständlichen Reaktion. Am 9. April 1933 schrieb sie an Max von Schillings: „Was deutsch ist und wie Deutschtum sich betätigen soll, darüber gibt es verschiedene Meinungen. Was die jetzige Regierung als nationale Gesinnung vorschreibt, ist nicht mein Deutschtum. Die Zentralisierung, den Zwang, die brutalen Methoden, die Diffamierung Andersdenkender, das prahlerische Selbstlob halte ich für undeutsch und unheilvoll.“ Der letzte Satz ihres Briefes lautet: „Hiermit erkläre ich meinen Austritt aus der Akademie.“

Ende 1934 erschien ein neues Buch von Ricarda Huch – der erste Band ihrer „Deutschen Geschichte“, gewidmet dem Römischen Reich Deutscher Nation. In zwei Kapiteln beschäftigt sie sich mit der Situation der Juden im Mittelalter.

Das eine Kapitel beginnt mit der Feststellung, es sei „kein Blatt in der Geschichte der Menschheit so tragisch und geheimnisvoll wie die Geschichte der Juden“. Mit auffallender Ausführlichkeit referiert Ricarda Huch hier vor allem jene Anordnungen und Sendschreiben, jene Maßnahmen der Päpste und Kaiser, der Fürsten, Bischöfe und Stadträte, die die Juden gegen ungerechte Behandlung in Schutz nahmen.

Im anderen Kapitel wird das Thema „Die Juden und der Wucher“ abgehandelt. Ricarda Huch weist nach, dass das Alte Testament den Juden den Wucher untersagt, dass sie zum Wucher von den Christen gezwungen wurden und dass ihnen oft keine andere Betätigung übrig blieb, weil sie weder Land und Boden besitzen noch ein Handwerk ausüben durften.

Vergeblich wird man in diesem historischen Werk auch nur die geringsten Zugeständnisse an den sogenannten Zeitgeist suchen. Charakteristisch ist vielmehr folgender Satz: „Die Judenverfolgungen des 14. Jahrhunderts wühlten auf, was an bestialischen Trieben in den Untiefen des deutschen Volkes sich verbarg, und offenbarten den Heroismus, dessen die Juden fähig waren.“

Die amtliche Reaktion auf Ricarda Huchs „Deutsche Geschichte“ ließ nicht lange auf sich warten. 1935 brachten die „Nationalsozialistischen Monatshefte“ eine Rezension, betitelt „Ein berühmter Name und ein unrühmliches Werk“. Gegen dieses Buch müsse sich „jeder freiheits- und ehrliebende Deutsche mit leidenschaftlicher Empörung zur Wehr setzen“. Aufschlussreich seien die Kapitel über die Juden: „Wahrlich, das ‚auserwählte Volk‘ kann sich keinen beredteren Anwalt wünschen, als diese Frau es ist. Alle ihre große Kunst bietet sie auf, um die Vorzüge und edlen Eigenschaften der Kinder Israels zu schildern.“ In der Zusammenfassung erklärt der Rezensent der „Nationalsozialistischen Monatshefte“: „Wir sehen in diesem Buch eine Beleidigung des deutschen Ehrgefühls. Wir sehen darin den deutschen Gedanken mit Füßen getreten … Wir zweifeln nicht daran, daß die Huch für dieses Werk ultra montes höchstes Lob ernten wird. Mag sie dann auch getrost ganz jenseits der Berge bleiben und dort die Blüten ihres Geistes verstreuen. Im Deutschland Adolf Hitlers ist für Magierinnen dieser Art heute kein Platz mehr.“

Noch konnte im Jahre 1937 der zweite Band der „Deutschen Geschichte“ in Berlin publiziert werden. Die Veröffentlichung des 1937 fertiggestellten dritten Bandes war nicht mehr möglich. Ihr nächstes Buch, ein kleiner Band mit Jugenderinnerungen, erschien 1938 – aber nicht in Deutschland, sondern ultra montes, in der Schweiz. Zugleich wurde gegen Ricarda Huch ein polizeiliches Ermittlungsverfahren „wegen Vergehens gegen das Heimtückegesetz“ eingeleitet, doch nach einigen Verhören wieder eingestellt. Hatte ihr Ruhm die Ankläger zurückschrecken lassen? Oder nahm man Rücksicht auf ihr Alter? Immerhin war sie längst über siebzig Jahre alt.

Aber Ricarda Huch hat sich nie zur Ruhe gesetzt, nie hat sie aufgehört zu schreiben. In ihren nach 1945 entstandenen Arbeiten gibt es keine Spur von Selbstgerechtigkeit oder gar Selbstmitleid. In einem Aufsatz aus Anlass des Neujahrstages 1946 sagte sie knapp: „Betrachten wir uns nicht als Opfer, sondern als solche, die mit der Hölle im Bunde waren.“

Als sich im Oktober 1947 die deutschen Schriftsteller aus Ost und West zum ersten Mal nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ zu einem gemeinsamen Kongress zusammenfanden – es war zugleich der vorerst letzte Kongress dieser Art –, wurde Ricarda Huch zur Ehrenpräsidentin gewählt. Als sie ans Rednerpult trat, erhoben sich die Versammelten von ihren Plätzen. „Ich hatte das Gefühl“ – berichtet sie in einem Brief –, „daß der weiße Elephant nicht nur angestarrt, sondern auch geliebt wurde.“ Sie starb wenige Wochen später, während der Arbeit an einem Buch, in dem sie jene Deutschen porträtierte, die gegen die nationalsozialistische Herrschaft gekämpft hatten.

Wenn Ricarda Huch, die Thomas Mann einst die erste Frau Deutschlands nannte, heute nicht nur berühmt, sondern auch, obwohl alle ihre Bücher zugänglich sind, fast vergessen ist, so zeugt dies vom gebrochenen Verhältnis der Deutschen zur besten deutschen Literatur, zur besten deutschen Tradition.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag ist die etwas gekürzte Fassung einer Rede, die Marcel Reich-Ranicki 1981 bei der Verleihung des Ricarda-Huch-Preises an ihn gehalten hat. Sie wurde unter dem Titel „Konservativ und radikal. Ricarda Huch, der weiße Elefant. Eine Dankrede“ zuerst in der Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. Juni 1981, Bilder und Zeiten, S. 3, veröffentlicht, später unter dem Titel „Ricarda Huch. Der weiße Elefant“ in: Marcel Reich-Ranicki: Lauter Lobreden. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1985, S. 23–36 (bei dtv 1992). Der willkommene Anlass, an Ricarda Huch zu erinnern: Sie wurde vor 150 Jahren, am 18. Juli 1864, in Braunschweig geboren. Sie starb am 17. November 1947 in Schönberg im Taunus. Wir danken Andrew Ranicki für die freundliche Genehmigung zur Nachpublikation.