Scharlatane, Betrüger oder Partisanen der Wissenschaft?
Joachim Telle befasst sich mit deutschen Alchemikerdichtungen des 15. bis 17. Jahrhunderts
Von Jörg Riecke
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseUnter dem Motto „Alchemie und Poesie“ unternahm der am 13. Dezember 2013 verstorbene Frühneuzeitforscher Joachim Telle Expeditionen in von der Germanistik bis heute noch kaum erschlossene Regionen der deutschsprachigen Alchemikerdichtungen des 15. bis 17. Jahrhunderts. Die beiden Bände „Untersuchungen und Texte“, bilden so den Abschluss eines Lebenswerks, das Staunen und Bewunderung hervorruft. Kaum etwas könnte dieses Werk, aber auch den Wissenschaftler und Menschen Joachim Telle besser charakterisieren, als seine einleitenden Worte selbst: „Vereint wurden seit den 1970er Jahren an unterschiedlichen Orten publizierte Einzelstudien, doch handelt es sich um keine antiquarisch-stumpfe Wiedergabe verblichener Untersuchungen: Der in Alchemie und Poesie in den Blick gerückte Schriftbereich wurde von Literar-, Sprach- oder Wissenschaftshistorikern während der letzten Jahrzehnte wenn schon nicht ausdrücklich ignoriert, so doch nur selten betreten, so daß manche Studien in forschungsgeschichtlicher Sicht keineswegs ‚überholt‘ worden sind.“
Die Ausgabe enthält in diesem Sinne 27 Beiträge, die hier teils wieder abgedruckt, teils völlig neu gefasst und in einem Fall auch als „Originalbeitrag“ („Zu einer Lehrdichtung von Martin Sturtz“) für diesen Anlass verfasst wurden. Auch die wieder abgedruckten Texte wurden durch ausführliche Ergänzungen aktualisiert und um Hinweise auf neuere Forschungsliteratur – wo sie es denn gibt – erweitert. Die Abfolge der Studien richtet sich nach der Entstehungszeit der jeweils untersuchten Dichtungen. Den Anfang machen „Turba-Reimsprüche als Bildgedicht“. Entgegen älterer Anschauungen, die „Turba philosophorum“, ein arabisches Werk aus der Frühzeit der Rezeption der griechischen Alchemie im Islam, sei erst 1596 durch die Übersetzung des Magisters Lorenz Joha im deutschen Sprachraum bekannt geworden, kann Telle volkssprachige „turbahaltige Schriften“ schon im 15. und 16. Jahrhundert, etwa bei Hans Folz, nachweisen. Die „Keimzelle“ des erheblich erweiterten Beitrags bildet der Abschnitt „Ein allegorisches Lehrbild von der Elixiergewinnung“ aus Joachim Telles großer Untersuchung „Sol und Luna“ von 1980. Die Erweiterungen beziehen sich vor allem auf die Überlieferung, eine Textedition und eine Charakterisierung der Quellengruppe „Deutschsprachige Autoritätendichtung aus Alchemikerfeder“. Dazu gehören auch Aussagen wie: „In der von aufklärerischen Positionen geprägten Geschichtsschreibung fanden sich Alchemiker als ‚Narren‘, ‚Scharlatane‘ und ‚Betrüger‘ geächtet. Heute hingegen werden sie gelegentlich zu Partisanen der‚Wissenschaftlichen Revolution‘ stilisiert […]“. Solche Zuschreibungen wecken Neugierde auch bei Leserinnen und Lesern, die den Ereignissen der Frühen Neuzeit sonst ferner stehen. Und man könnte sich kaum einen besseren Führer durch die alchemischen Landschaften denken. Joachim Telle ist zudem ein glänzender Stilist. Eine Johann Fischart zugeschriebene Sentenz könnte auch sein Wahlspruch sein: „Entweder schreib /daß man versteh / Oder des Schreibens müssig geh“.
Den Abschluss bildet „Eine deutsche Alchimia picta des 17. Jahrhunderts. Bemerkungen zu dem Vers/Bild-Traktat ‚Von der hermetischen Kunst‘ von Johann Augustin Brunnhofer und zu seinen kommentierten Fassungen im ‚Buch der Weisheit‘ und im ‚Hermaphroditischen Sonn- und Monds-Kind“. Der zuerst 2004 erschienene Text wird durch zahlreiche Addenda erweitert und bezieht auch kritische Hinweise zum „esoterischen Milieu der Moderne“ und zum „esoterisch inspirierten“ alternativmedizinischen Schrifttum ein. Der Originalbeitrag „Zu einer Lehrdichtung von Martin Sturtz“ fasst auf wenigen Seiten das bisher gesicherte Wissen über den lange vergessenen „Transmutationsalchemiker“ und bergmännischen Praktiker Sturtz (1525-1597) zusammen, korrigiert dabei zahlreiche im Umlauf befindliche Fehldeutungen und druckt eine kurze, bisher fälschlich nicht Sturtz zugeschriebe Lehrdichtung zeichengetreu ab. Gleichermaßen kurz wie erhellend sind auch Hinweise zur Bedeutung einzelner frühneuhochdeutscher Lexeme, hier etwa zu samen, die diese Texte auch für Sprachhistoriker unverzichtbar machen.
Um die Herausgabe von Untersuchungen und Editionen zu den deutschsprachigen Alchemikerdichtungen in einen literaturhistorischen und europäischen Rahmen einzuordnen, müssen aber auch die im deutschen Sprachraum wirkenden Lehrdichtungen nicht-alchemischen Inhalts einbezogen werden ebenso wie die latein-, französisch-, englisch- und italienischsprachigen Alchemikerdichtungen.
Dieser Aufgabe haben sich Wilhelm Kühlmann („Wissen als Poesie. Zu Formen und Funktionen der frühneuzeitlichen Lehrdichtung im deutschen Kulturraum des 16. und 17. Jahrhunderts“) und Didier Kahn („La poésie alchimique dans l’Europe médiévale et moderne“) in kongenialer Weise gestellt. Berücksichtigt werden hier auch einzelne Hinweise auf die insgesamt noch schlecht erforschten alchemistischen Traditionen im östlichen Europa, etwa bei Nicolaus Melchior Cibinensis (= Hermannstadt) oder Michael Sendivogius (= Michał Sędziwój).
Joachim Telles daran anschließenden Vorbemerkungen zu seinen eigenen Texten streifen dann noch eine Reihe von „Desiderata“, etwa das Verhältnis von „Alchemikerdichtung und hermetischer Lyrik“ und beleuchten „Metaphern als kognitive Kraft“. Schon diese wenigen Stichworte deuten den weiten Horizont eines großen Gelehrten an. Sie münden in die Frage ein, ob und in welchem Maße die poetischen Elemente der Alchemikerdichtungen als Beispiele für Verfahrensweisen gelten können, die zeigen, wie das menschliche Erkennen funktioniert. Joachim Telle hat dazu eine Vielzahl von Hinweisen und Anregungen gegeben, die noch längst nicht ausgeschöpft sind. Zudem wurden manche noch immer unzureichend erforschten Lehrdichtungen, und Telle nennt in seinen Vorbemerkungen eine ganze Reihe, „zurückgestellt, damit der Band abgeschlossen werden konnte“. So ist man dankbar für zwei unvergleichliche Bände „Alchemie und Poesie“ und zugleich betrübt, dass Joachim Telle selbst diese Forschungen nicht mehr fortsetzen kann.
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