Tabula rasa am offenen Meer

Uwe Kolbes „Mein Usedom“ ist eine rasante Gedankenreise

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Schriftsteller kehrt zurück nach Usedom, jener Insel, an die er so viele Kindheitserinnerungen hat – an Doppelstockbetten in der Jugendherberge Trassenheide, an die Architektur, das „Laubsäge-Barock“, das Meer und das Mecklenburgische. Uwe Kolbe begibt sich in „Mein Usedom“ auf eine Suche; es ist die selbstvergewissernde Suche nach Herkunft und Erinnerungen. Der Schriftsteller „K.“ erinnert sich an sein erstes Gedicht, das er schrieb, nachdem er als 14-Jähriger in einer Winternacht allein mit beiden Beinen im Eiswasser stand. schwere Gedanken ergriffen den Jungen zwischen aufgeschobenen Eisschollen und im Angesicht der grünen Schwärze der Ostsee: „Mein Privileg war die Einsamkeit. Mein Privileg war: das Große und ich, miteinander im Zwiegespräch“.

Kindheit, Heranwachsen, Kunstausübung und die erste Liebe werden gestreift. Der Schriftsteller begibt sich auf eine Gedankenreise durch Raum und Zeit. In dieser erscheint ihm ein Wiedergänger in Gestalt von Wernher von Braun, dem Erfinder der V2-Rakete, eigentlich längst gestorben und dennoch „gegen alle Vernunft“ sein Begleiter durch die Erinnerungen. Wernher von Braun wirft dem Schriftsteller vor, er sei jahrelang kein Risiko mehr eingegangen und habe „den nebenbei erzeugten Scherbenhaufen verwaltet, dem hie und da Gedichte entsprossen“.

Schriftsteller und Raketen-Ingenieur beginnen einen Dialog, einen Streit über ihr Leben und die Entscheidung, Usedom zu verlassen und schließlich wieder zurückzukehren. Es fällt dem Leser dabei immer schwerer, dem rasanten Erzählfluss zu folgen. Bilder überlagern sich. Geschichte und Essay mischen sich. Halt bietet das durchgängige Sagen-Motiv der Stadt Vineta, jene Hafenmetropole an der Ostsee, deren Wohlstand die Menschen verdarb: „Warnzeichen erscheinen, der Untergang der Stadt wird prophezeit, doch alle machen weiter wie gewohnt“. Ein Sturm verschlingt schließlich die Stadt und ihre Bewohner.

Unter dem Titel „Vineta“ veröffentlichte der 1957 in Ost-Berlin geborene Autor Uwe Kolbe bereits 1998 einen Gedichtband und 2011 ein Buch mit erzählenden Essays. Kolbes Gedanken kreisen seit Jahren um die Sage von Vineta. Sie ist Metapher für die Suche nach Antworten im „Ausschnitt aus der großen Zeit, der das eigene Leben umfasst“; mit diesen Worten sucht auch der Erzähler in „Mein Usedom“ nach Antworten. Er sucht nach dem, was im alles verschlingenden Meer der Zeit, das alle Spuren im Sand wieder löscht, versunken ist. Die Suche fordert die Konzentration – die des Lesers wie auch die des Erzählers im Buch, den die Kraft zwischenzeitlich zu verlassen droht: „die Verbindung zu konkreten Örtlichkeiten an der Ostsee wie, mit gewisser Selbstverständlichkeit, Usedom oder den ihm vorgelagerten Untiefen war mir gleichgültig“. Poetisch habe das alles keinen Wert; jetzt gehe es nicht mehr um Lyrik, behauptet der Wiedergänger Wernher von Braun und betont: „Doch jetzt […] geht es […] um das besitzanzeigende Fürwort, von wegen ‚Mein Usedom‘ […]. Jetzt geht es darum, Klartext zu reden.“

„Was also ist Gegenwart?“, fragt sich der Erzähler und stellt die Frage seinem „Bruder im Zwiespalt“, Wernher von Braun. Gibt es eine Gegenwart in einem Reich der Projektionen, der Mythologie, der Spekulationen und am Ende der Poesie? Werke von Lyonel Feininger und Paul Cézanne werden genannt, und es werden Parallelen zu Caspar David Friedrich gezogen. Soll das der Klartext sein? Wird hier nur noch fantasiert? „Es ist schwierig, es ist ehrlich gesagt unmöglich, bei jedem neuen Schauen die Folie eines früheren fernzuhalten“, heißt es da. Beobachtung und Abstraktion, Poetisches und Polemisches finden zusammen. „Die Reset-Taste drückst du gern, vergisst aber immer, dass es ein Back-up gibt“, klagt Wernher von Braun in „Mein Usedom“.

Dieser Abfolge von Beobachtungen liegt ein faszinierender Fundus Uwe Kolbes zugrunde. Kolbe recherchiert mit großer Intensität geschichtliche Prozesse und versucht, dahinter die eigene Identität zu ergründen. Die Komplexität seiner Erzählung erschlägt den Leser förmlich. Das Statement des Kunstwerke betrachtenden Schriftstellers kann schließlich als Resümee gelten: „Wer sich diesen Teil des Gedächtnisses verfügbar und produktiv machen kann, ist ein Künstler“.

„Mein Usedom“ ist eine poetische Liebeserklärung an eine Insel und ein verwirrender Rausch zugleich: „Die menschliche Deutungsbereitschaft ist mächtig, gelegentlich übermächtig“. Es kommt aber nicht nur auf die Deutungsbereitschaft an, sondern auf den Weg, auf den der Leser geführt wird. Kolbe wendet sich geradezu ab. Das Buch ist wie ein Klappspaten, mit dem sich der Leser den Zugang zu einer Unterwelt selbst ausheben muss. Ein großer Happen Philosophie, über den der Schriftsteller zwar fabuliert, der aber nicht ohne Weiteres erfasst werden kann. „Mein Usedom“ ist das Gegenteil einer leichten Strandkorblektüre für den nächsten Urlaub. Ein beinahe unlesbares Buch.

Titelbild

Uwe Kolbe: Mein Usedom.
Mare Verlag, Hamburg 2014.
128 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783866481626

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