Erst Tränen, dann Jubel

Schriftstellerinnen und Schriftsteller blicken auf europäische Städte im Sommer 1914

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hundert Jahre danach ist der Erste Weltkrieg einen Sommer lang allenthalben präsent. Kein Verlag, keine Zeitschrift, keine Zeitung und keine Rundfunkstation, die sich das Ereignis entgehen ließe. Die Schriftleitung der „Horen“ hatte die Idee, Autoren aus verschiedenen, am Geschehen von 1914 beteiligten Ländern um literarische Vergegenwärtigungen der Julikrise und der ersten Wochen des August zu bitten. Ausdrücklich sollten sie sich nicht als „dilettierende Hilfskräfte der Historiographie“ betätigen. Es mag „an der Zeit sein“, heißt es im Editorial, „noch einmal genauer hinzusehen, was und wie die Menschen in den unterschiedlichen Regionen Europas damals dachten, mit welchen Bildern, Überzeugungen, Phantasmen oder Ideologien sie sich in die Katastrophe begaben oder dieser zu entkommen suchten“. Darauf richten auch Historiker ihr Augenmerk, die allerdings in der Regel nicht so optimistisch sind, mit ihren Analysen „die Geister der Vergangenheit“ bannen zu können.

Programmatisch wird es, wenn eingangs gefragt wird, ob erst heute sichtbar werde, was schon den Zeitgenossen bewusst gewesen sei, was sie hätten erzählen können, aber nicht erzählt haben: „Hat sich das Wissen verändert, der Geist der Erzählung oder die Welt sowie der Blick auf sie?“ Das kann getrost mit Ja beantwortet werden. Nicht alle Beiträge warten jedoch mit Überraschungen auf. Manches ist eher konventionell geraten, hin und wieder wünschte man sich den professionell geschulten, auf genaue Kontextualisierung bedachten Blick von Historikern. Sonderlich innovativ ist es nicht, aus Zeitungssplittern Collagen zu fertigen. Das haben andere auch schon gemacht. Entsprechend gering ist der Zuwachs an Erkenntnis. Die Beobachtung, dass der Alltag der Menschen selbst im Moment des Kriegsausbruchs von Ungleichzeitigkeiten bestimmt war, ist uns wohlvertraut: Sondermeldungen, amtliche Bekanntmachungen und hurrapatriotische Leitartikel stehen neben Nachrichten aus der Welt der Fürstenhöfe, Ernstes neben Halbseidenem, praktische Winke für die Hausfrau neben Reklame, die sich nach und nach an die neuen Gegebenheiten anpasst. Schokolade wird nun in „feldpostmäßiger“ Verpackung angepriesen, Chiffre-Anzeigen, also Inserate ohne Namensnennung, werden untersagt.

Die andere Seite eines Patriotismus, der sich in Ausbrüchen von Begeisterung zu Gehör brachte, gleichviel ob geschrieben oder herausgebrüllt, waren jäh aufkeimende Phobien. In Leipzig verbot die Polizei der Australierin Ethel Cooper, auf Englisch zu telefonieren oder auf der Straße englisch zu sprechen, andernfalls müsse man sie ausweisen. Wie tief das Misstrauen gegen Fremde oder nur fremdartig Aussehende saß, zeigte sich daran, dass die Leute allenthalben Spione und Saboteure witterten. Das wuchs sich hier und da zur Hysterie aus, war diesseits wie jenseits der deutschen Grenzen anzutreffen und hatte für diejenigen, die der Verdacht traf, unangenehme Konsequenzen. Das reichte von Pöbeleien und Verhaftungen bis zur Androhung von Lynchjustiz. Automobile wurden auf den Chausseen angehalten und durchsucht, weil man darin Gold vermutete, das ins Ausland verschoben werden sollte. Durchgeführt wurden derlei Aktionen im Wege der Selbstermächtigung von aufgeregten Bürgern, die sich im Einklang mit staatlichen Maximen und Interessen wähnten. Dichter griffen zur Feder, um den Krieg kulturell zu überhöhen.

Auf den Plätzen und in den Straßen rotteten sich die Leute zu Tausenden zusammen, getrieben von Neugier und vaterländischem Überschwang. Der exaltierte Lärm der Stunde drängte die leiseren Töne, die Tagebüchern und Briefen anvertraut wurden, in den Hintergrund. „Trotz aller Begeisterung waren die Herzen das erste Mal beengt“, notierte am 4. August, als es ernst wurde, ein bayerischer Offizier. Unter den Jubel, der die ausmarschierenden Truppen begleitete, mischten sich die Besorgnisse der Zurückbleibenden, der Frauen, Verlobten, Freundinnen und Mütter. Tränen des Abschieds wurden abgelöst von solchen der Freude über eintreffende Siegesmeldungen und solchen der Trauer über die Gefallenen.

Zu den Glanzstücken der Sammlung zählen einige der Stücke, die von außerdeutschen Städten handeln. Erwin Mortier etwa erzählt von „Tanz und Verhängnis in Belgiens letztem Sommer“. Zunächst richtet er den Scheinwerfer auf das Treiben in Ostende, dem mondänen Badeort, den die ausländischen Feriengäste in Scharen verlassen. Der nächste Schauplatz ist Brüssel, wo König Albert I. unter dem Jubel der Bevölkerung den Willen bekräftigt, sich gegen die Verletzung der Neutralität durch die deutschen Armeen zur Wehr zu setzen. Die Kriegskredite werden von der Abgeordnetenkammer und vom Senat bewilligt, wie in Deutschland auch hier von den Sozialisten. „Wir sind gegen den Krieg“, erklärte der Vorsitzende Émile Vandervelde; „aber jetzt, da Belgien überrannt wird, sind wir gemeinsam bereit, unser Vaterland zu verteidigen.“

In der Hauptstadt gehen Scheiben zu Bruch, Kneipen, in denen deutsches Bier ausgeschenkt wird, und Geschäfte mit deutsch klingenden Namen werden demoliert und geplündert, Tages- und Wochenzeitungen, die sich bis dahin einer beispiellosen Pressefreiheit erfreuen durften, werden unter behördliche Kuratel gestellt. Am Schluss schwenkt der Autor zurück nach Ostende. An die Stelle der Badegäste sind nun „Flüchtlinge, Kriegsfreiwillige und Bürgergardisten aus dem Umland“ getreten. „Alle Zimmer sind besetzt, die Hotels sind überfüllt, aber nicht länger mit Königen und Präsidenten“, bilanziert Mortier: „Europas Urlaub ist vorbei.“

Überall da, wo die Geschichte in Geschichten und Episoden plastisch wird, wo Fiktion sich mischt mit den Realien, wird es spannend. Alison Louise Kennedy, um nur diese noch zu erwähnen, schreibt über Glasgow, wo sie, gebürtig aus dem schottischen Dundee, lebt: nicht über die Wochen des Juli und August, sondern über die Tage um den Jahreswechsel von 1913 auf 1914. Von dort blickt sie jeweils nach vorn, deutet das spätere Schicksal derjenigen an, die sie erwähnt. Die Autorin spinnt ein außerordentlich dichtes Gewebe von Personen, Institutionen, sozialen Strukturen und kulturellen Verhältnissen, konfessioneller Aufspaltung in Katholiken und Protestanten, noch heute sichtbar an den Fußballvereinen „Celtic“ und „Rangers“. Nirgends sonst in dem Band wird eine Stadt so intensiv porträtiert, so prall gefüllt mit Leben. Niemand, der in der trüben Nacht des 31. Dezember 1913 „durch die Straßen schlendert und die Menschen feiern hört“, schaut die Erzählerin voraus, „hat bisher erfahren, wie viel ein unsichtbarer Mond nützt, wie man stumm durch eisigen Schlamm kriecht in der neuen Art von Krieg“. Verblasst ist die Erinnerung an den Krimkrieg von 1853/56, mit dem sich die Väter und Großväter herumgeplagt haben, vergleichsweise frisch ist die an den Krieg gegen die Buren in Südafrika, aber dieser wurde ebenso wie jener siegreich zu Ende gebracht: „Gott lächelt gnädig über das Bedürfnis Seines Empires nach Land und Gold.“

Glasgow mit seinen 800.000 Einwohnern wird 200.000 Männer in den Schlund des „Großen Krieges“ schicken: „Zehntausende werden an Körper und Geist versehrt zurückkehren. Beinahe jeder Zehnte wird sterben.“ Ein Jahr später, am Sylvesterabend 1914, wird sich immer noch eine Menge Menschen in der Trongate, einer der ältesten Straßen der Stadt, versammeln, aber einige „werden das Khaki der Uniformen tragen“, so endet die Erzählung. Noch wirkt alles oder doch das meiste wie sonst auch, die Gewohnheiten des Alltags haben sich noch nicht gravierend verändert: „Das schlimmste Sterben hat gerade erst begonnen.“

Titelbild

Mit dieser Welt muss aufgeräumt werden. August 1914: Autoren blicken auf die Städte Europas.
Zusammengestellt von Netzwerk der Literaturhäuser.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
400 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783835314542

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