Auf der Suche nach dem Vater-Land

Thomas Medicus berichtet über seine Heimatstadt in Mittelfranken

Von Martin SchönemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Schönemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Heimat. Eine Suche“, das neue Buch von Thomas Medicus, Journalist und Sozialwissenschaftler, befasst sich mit mit der Heimatstadt des Autors, Gunzenhausen, und zwar auf eine sehr persönliche Weise. Medicus geht von seinen Kindheitserinnerungen aus. Er beschreibt den Blick aus den Fenstern seines Elternhauses auf die historische Altstadt, die manchmal merkwürdig anmutenden Anmerkungen der geliebten, im gleichen Hause lebenden Großmutter, die verschlungenen Wege zwischen den Gärten hinter den Häusern in der Innenstadt.

Gleich darauf kontrastiert der Autor diese Erinnerungen mit Erkenntnissen, die er später als Erwachsener gewonnen hat: In dieser Stadt fand im März 1934 ein Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung statt, das den gerade an die Macht gekommenen Nazis sehr gut in den Plan passte. Sie hatten hier eine aggressive antisemitische Grundstimmung der Bevölkerung ideal für ihre Zwecke nutzen können, auch wenn sie damals noch bemüht waren, diese vor der Weltöffentlichkeit zu verschleiern. In den eingangs beschriebenen Gartenwegen wurde ein Mann zu Tode gehetzt, ein weiterer nahm sich angesichts der auf ihn losstürzenden Meute das Leben. Der eine Generation später geborene Thomas Medicus erfuhr als Kind und Heranwachsender nichts davon, was sein Vater, seine Großeltern damals erlebt hatten – entsprechend mussten auch die Andeutungen seiner Großmutter ihm mysteriös bleiben. Erst Jahrzehnte später las er bei W. G. Sebald von den „Gunzenhausener Vorfällen“ und begann zu verstehen.

Noch später erfuhr Medicus, dass auch sein eigener Großvater dabei eine Rolle gespielt hatte: Er hatte als ansässiger Arzt die beiden Todesopfer zu obduzieren. Diese überraschende Erkenntnis über die eigene familiäre Verstrickung inspirierte den Autor zu diesem Buch. Es bedurfte allerdings eines weiteren Anstoßes, damit die Arbeit beginnen konnte: Eine Freundin erzählte Medicus, dass Jerome D. Salinger, der von ihm verehrte Autor des „Catcher in the Rye“, kurz nach Kriegsende einige Zeit in Gunzenhausen gelebt, dort vielleicht sogar an seinem berühmten Roman geschrieben hat.

Der Autor verknüpft diese drei verschiedenen Themen – Erinnerungen an seine Kindheit in den sechziger Jahren, das Progrom von 1934 und seine Folgen, Salingers Europa-Einsatz als Soldat und Geheimdienstmitarbeiter um 1945 – zwanglos miteinander. Und obwohl all das auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun hat, ergibt sich so ein stimmiges Porträt der Stadt Gunzenhausen im 20. Jahrhundert: das Bild einer mittelfränkischen Provinzstadt – bieder-protestantisch, antisemitisch und den Nationalsozialisten zugeneigt, später geschichtsvergessen. Das Milieu, in dem Medicus hier aufwuchs, ist von geistiger Leere und Schweigen geprägt. Kein Wunder, dass er nach dem Abitur für immer aus der Stadt verschwand.

Erst in neuerer Zeit, seit den achtziger Jahren lässt sich, so Medicus, in Gunzenhausen eine Tendenz zu größerer Weltoffenheit ausmachen. Er verdeutlicht anhand zweier atmosphärischer Eindrücke, die er als fremder Besucher in der einstigen Heimat erfährt: Einerseits gibt es da jetzt den Altmühlsee, einen Stausee, der die Umgebung Gunzenhausens deutlich verändert hat. Die jährlichen Überschwemmungen mit ihrem Schmutz und den in der Folge fauligen Wiesen sind verschwunden, stattdessen kam die Moderne mit Wasserwirtschaft und Arbeitern aus anderen Regionen. Überraschend modern und aufgeräumt – das ist das zweite Erlebnis – wirkt heute auch die Villa, die Salinger einst in Gunzenhausen bewohnte: Medicus findet bei seinen Nachforschungen hier eine Rechtsanwaltskanzlei vor, die aktuelle Kunst in ihren Räumen beherbergt und fremde Besucher wie ihn freundlich aufnimmt. Stärker allerdings als diese eher oberflächlichen Symptome fällt ins Gewicht, dass auch das Progrom von 1934 inzwischen durch Gunzenhausener Heimatforscher bearbeitet wurde. Die Aufarbeitung der Ereignisse wurde nicht von außen aufgezwungen, sondern geschah durch die Bürger selbst. Angesichts dieser Tatsachen wird dem Besucher Medicus die Versöhnung mit der Heimat leicht. Er kann seiner Vaterstadt am Ende bescheinigen, dass sie die dunklen Zeiten überwunden hat.

Dennoch bleibt diese Aussöhnung des Autors mit seiner Geburtsstadt merkwürdig distanziert. Nicht nur, dass der Anstoß, sich Gunzenhausen wieder zu nähern, von außen kommt, nicht nur, dass seine ersten Besuche dort von großer Distanz zeugen – auch als er Aufnahme findet, etwa in der Salinger-Villa oder auch bei den Heimatforschern, die das Pogrom von 1934 aufgearbeitet haben, bleibt Medicus in seiner Suche freundlich-distanziert, fast brav. Zwar nimmt er die Fäden gewissenhaft auf: Er betreibt Forschungen zu jüdischen Bürgern Gunzenhausens, nimmt Kontakt zu Nachkommen auf, im ehrlichen Bemühen um eine Versöhnung. Er entdeckt auch Genaueres über die Rolle seines Großvaters, soweit es sich aus Archiven schließen lässt. Danach hat der Großvater korrekt gehandelt und – soweit unter dem offensichtlichen Druck der Nazi-Obrigkeit möglich – sachlich richtige Obduktionsberichte abgeliefert. Eine emotionale Annäherung an seinen Großvater, seinen Vater, seine Heimatstadt gelingt Medicus dennoch nicht. Was er herausfindet, geht kaum über das allgemein Bekannte hinaus, eine Vertrautheit mit Gunzenhausen stellt sich nicht ein.

Wirklich frei und leidenschaftlich schreibt der Autor dagegen in den Passagen, in denen er seinem erklärten Ersatzvater Salinger in die USA folgt, dessen amerikanischer Heimatliebe nachspürt – weit weg von Gunzenhausen also. Hier finden sich eindringliche Landschafts- und Milieuschilderungen, die Medicus kenntnisreich mit Motiven aus der amerikanischen Literatur verknüpft. Es entsteht eine lebendige, philosophisch tiefgründige, anteilnehmende Skizze vom Rückzug des Dichters in die ländliche Einsamkeit in New Hampshire.

Warum also kein Buch über Salinger, sondern eins über Gunzenhausen? Zu verstehen ist das, wenn man dieses Buch als notwendigen Teil einer Reihe begreift, als drittes von Medicus verfasstes Buch, das einer persönlich motivierten Vergangenheitsaufarbeitung dient. 2004 erschien zunächst „In den Augen meines Großvaters“. Hier ging es um seinen Großvater mütterlicherseits, einen Wehrmachtsgeneral, dessen vermutete Verstrickungen in Kriegsverbrechen Mutter und Großmutter schuldbewusst verschwiegen, indem sie die Erinnerung an den im Weltkrieg Gefallenen aus dem Familiengedächtnis verbannten. Medicus holt das Andenken zurück, will Licht ins Dunkel bringen. Ihm gelingt es zwar nicht, Genaueres über die Schuld des Großvaters herauszufinden, er bemüht sich aber, dessen militärisch-elitäre Haltung zu rehabilitieren. In diesem Sinne ist vermutlich auch Medicus’ Kritik an der Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung zu verstehen. Auch sein nächstes Buch, die Biografie der Fliegerin Melitta von Stauffenberg, verfolgt dieses Ziel: Es stellt eine Frau vor, die demselben Milieu wie sein Großvater entstammte, die ebenfalls alles andere als eine ideologisierte Nazi-Anhängerin war, andererseits aber (wie auch Medicus’ Großvater) keinerlei moralische Skrupel hatte, sich in das System der Nazi-Machthaber zu integrieren.

Medicus‘ drittes Buch wendet sich nun endlich der väterlichen Seite zu: Vater und Großvater waren biedere kleine Leute. Der Großvater hat dem Druck der Nazis keinen Widerstand entgegengesetzt, wohl aber versucht, so anständig wie möglich zu bleiben. Von Kollaboration mit den Nazis, das lässt sich den Akten entnehmen, kann bei ihm keine Rede sein. Aber ihm fehlt der Glanz des anderen Großvaters, des Generals, von dem sich Medicus so fasziniert zeigt.

Es ist ein Akt familiärer Gerechtigkeit, dass Thomas Medicus in seinem neuen Buch auch dem anderen Großvater, dem biederen Arzt und Bürger, und seiner Stadt Gunzenhausen eine Recherche widmet. Schade nur, dass diese Recherche so brav und glanzlos ausgefallen ist.

Titelbild

Thomas Medicus: Heimat. Eine Suche.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2014.
285 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783871347610

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