Die dunkle Seite der Schweiz

Über Flavio Steimanns Roman „Bajass“

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Friedrich Dürrenmatt ist tot, aber die literarisch anspruchsvolle Kriminalgeschichte aus der Schweiz lebt, so etwa in dem Roman „Bajass“ des 1945 geborenen Autors Flavio Steimann. Zeitlich geht Steimann allerdings noch etwas weiter zurück als sein berühmter Landsmann. Sein schmaler, aber sprachmächtiger Roman spielt etwa um die vorletzte Jahrhundertwende. Das gibt dem Autor die Gelegenheit, das Geschehen an einer gesellschaftlichen Bruchstelle anzusiedeln und diese auch durch sprachliche Besonderheiten deutlich zu machen, die wohl teilweise, aber nicht nur auf das Lokalkolorit zurück zu führen sind. In die „ärmlich rurale Welt“ einer kleinen Landgemeinde, die seit Jahrhunderten Bestand hat, dringt unaufhaltsam die industrielle Moderne vor mit ihren Dampfzügen, Aeroplanen, Telegrafenmasten und den Ahnungen von Freiheit und einem besseren Leben.

Albin Gauch ist Polizei-Ermittler und steht kurz vor dem Ruhestand. Ihn peinigt indes seit einiger Zeit die Angst vor einer tödlichen Erkrankung, die ihn auch zunehmend am Sinn seines Tuns zweifeln lässt. Da wird ein altes, kinderloses und ziemlich isoliert lebendes Bauernpaar tot aufgefunden, auf archaische Art erschlagen mit einem Beil. Reichlich desillusioniert und mit einem deutlichen Hinweis auf Alfred Döblins fast zeitgleich erschienene Novelle inspiziert der alte Kriminalist den Tatort: „Eines zeige sich immer wieder, meinte er sodann, das krumme Holz Mensch sei zu mancherlei fähig, und so sehe es eben aus, wenn mehr als Butterblumen ermordet würden.“

Die Ermittlungen verlaufen schleppend. Der Täter hat möglicherweise einen Fußabdruck und einen Hirschhornknopf, aber nirgendwo verwertbare „Papillenspuren“ hinterlassen. Die Bauern der Gegend zeigen sich ebenso wenig interessiert an der Aufklärung des Falles wie der Pfarrer. Den Hinweis auf in der Nähe lagernde Zigeuner nimmt wiederum Gauch eher unwillig zur Kenntnis und verbucht ihn unter die landläufige Fremdenfeindlichkeit. Die ganze Umgebung des Falles scheint eingetaucht in eine Nebelwelt von Abwehr und Verdrängung. Da findet Gauch bei seinen Nachforschungen im Haus der Opfer die Fotografie eines etwa dreizehn jährigen Jungen, auf deren „Rückseite mit einem harten Bleistift ein einziges Wort geschrieben steht: „Bajass“. Der namenlose Junge auf dem Foto wirkt auf Gauch wie die „leichte Beute in einem üblen Spiel, das er so nicht hatte spielen wollen – überlistet und nun in seiner Drangsal gefangen wie der Vogel auf dem Leim.“ Und allmählich durchschaut Gauch dieses „üble Spiel“ und das Motiv des Täters. Um diesen allerdings überführen zu können, entschließt sich der Autor und mit ihm sein Protagonist zu einem radikalen und völlig überraschenden Szenenwechsel. Gauch verfolgt nämlich den vermuteten Täter auf einem Ozeandampfer, der, wie die Titanic, Kurs auf New York nimmt. Hier nun kann der Kriminalist gleichsam unter einem Vergrößerungsglas die Gesellschaft des Fin de siècle beobachten, die, wie wir wissen, ihrem Untergang entgegen taumelt. So echauffiert man sich beim „Kapitänsdinner“ und beschimpft das Personal als „Schmutzfinken“: „Am saubersten seien noch die Schweizer, aber auch nur gerade jene, die ein Art Deutsch sprächen.“ Gauch gelangt bei seinen Recherchen aber auch zu den Menschen des Unterdecks, armen Auswanderern, die dem Elend des europäischen Kontinents zu entkommen suchen. Dort unten, im Bauch des Schiffes, erlebt er also hautnah eine Klassengesellschaft, in der wir den wahren Grund für die kriminelle Untat vermuten dürfen. Als er den Täter bereits überführt hat, dem wie selbstverständlich das Schafott winkt, trifft Gauch eine folgenschwere Entscheidung, die hier allerdings nicht verraten wird.

Wie jede gute Kriminalstory ist „Bajass“ ein Roman über die Fähigkeit, die Indizien beziehungsweise Zeichen richtig zu deuten. In Zeiten des Umbruchs, und darin liegt die Aktualität der Geschichte, heißt dies aber auch, dann die richtige Entscheidung zu treffen.

P.S.: Als „Bajass“ wird im Alemannischen ein Clown, mehr noch ein Hanswurst bezeichnet, auf den man ungestraft einschlagen darf. Mit seiner Titel-Metapher fokussiert der Roman die dunkle Seite der Schweizer Geschichte ebenso wie die der westlichen Welt insgesamt. Eine zivilisierte Gesellschaft allerdings darf die nicht ganz unbeliebte Verhaltensweise, Schwächere gnadenlos auszunutzen und damit zu demütigen, nicht tolerieren, wenn sie sich und ihre Werte nicht selbst aufgeben will.

Titelbild

Flavio Steimann: Bajass. Roman.
Edition Nautilus, Hamburg 2014.
128 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783894017972

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