Der ‚polymorph sinnliche‘ Charakter kindlicher Sexualität
Zum von Ilka Quindeau und Micha Brumlik herausgegebenem Sammelband „Kindliche Sexualität“
Von Heinz-Jürgen Voß
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseUntersuchungen zur kindlichen Sexualität orientieren sich in der Regel an der Sexualität der Erwachsenen. So werden meist Handlungen als ‚sexuell‘ erfasst und klassifiziert, die in Verbindung mit der genitalen Sexualität Erwachsener gesehen werden, wobei in aktuellen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Erwachsenensexualität selbst die nicht-genitalen Formen der Lustgewinnung und Erregung meist mit Genitalien in Bezug gesetzt werden. Kindliche Sexualität wird im Vorgriff einer Erwachsenensexualität verstanden, quasi als eine psychologische sexuelle Entwicklung, in der das Ziel bereits vorgegeben ist.
Eine solche Perspektive ist wissenschaftlich – und für die Praxis – in vielerlei Hinsicht problematisch. So wird etwa sexueller Missbrauch von der Erwachsenensexualität her gedacht und hiervon ausgehend grenzverletzendes Verhalten beschrieben und problematisiert. Damit wird die Rolle des Kindes und seiner Sicht von vornherein marginalisiert, und die klare Kategorisierung von Verhaltensweisen als ‚sexuell‘ und ihre von weiterem sozialen Bindungsverhalten abgelöste Untersuchung verstellen möglicherweise kindlicher Sexualität adäquate pädagogische und therapeutische Konzepte für Situationen, in denen sich Kinder in existenzieller Not fühlen oder über das gewöhnliche Betreuungsmaß hinausgehende Hilfe benötigen. Gleichzeitig werden – wie etwa durch die Übertragung des an Erwachsenen(sexualität) orientierten medizinischen ICD-10-Index deutlich wird – solche Verhaltensweisen als ‚auffällig‘ eingestuft, die von den Beobachtenden mit in der Gesellschaft marginalisierten Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen assoziiert werden. In den Fokus von Untersuchungen zu sexuellen Auffälligkeiten gerät aus dieser Blickrichtung etwa, wenn ein Junge gern Kleider trägt oder Zärtlichkeit mit anderen Jungen sucht, anstatt dass man hier wertschätzend begleitete und stattdessen grenzverletzende und gewaltförmige Verhaltensweisen gegenüber anderen Kindern kritisch diskutierte und dagegen pädagogische Hilfestellungen entwickelte. Auch könnte es angezeigt sein, sexuell grenzverletzendes Verhalten nicht isoliert zu betrachten, sondern im Zusammenhang mit allgemein aggressivem Verhalten zu analysieren – und sich damit auch der Aufladung des Sexualitäts-Diskurses zu entziehen. Die Frage ist dabei schon, warum sehr unterschiedliche Verhaltensweisen – einerseits Nähe und Intimität und andererseits Aggressivität und Gewalt – aktuell allgemein unter dem Begriff der ‚Sexualität‘ verhandelt werden, anstatt beispielsweise Intimität und Nähe – und in dieser Hinsicht ‚Sexualität‘ – im Kontext mit Freundschaft; Zärtlichkeit zu untersuchen, hingegen die sexuell motivierte Gewalt den Betrachtungen zu Gewalt zuzuschlagen. Damit könnte das normierte Muster, in dem so gegensätzliche Handlungen (Nähe vs. Gewalt) in einer Verhaltensweise (Sexualität) zusammengefasst werden – ein Modell, das zudem erst seit der europäischen Moderne in dieser Weise besteht –, partiell gesprengt werden, und es würde möglich werden, andere Lösungswege als die bisher dominant verhandelten in den Blick zu bekommen.
Der Band Kindliche Sexualität, herausgegeben von Ilka Quindeau und Micha Brumlik, leistet in dieser Hinsicht bereits einiges für differenziertere Betrachtungen, und die hier gebündelten Beiträge eignen sich gut, einen Einblick in die widersprüchlichen Ansätze zur Beurteilung kindlicher Sexualität, auch mit Blick auf verschiedene Handlungsfelder, zu gewinnen und konkrete Fragestellungen zu formulieren, die kindliche Sexualität – und Kinder insgesamt – ernst nehmen.
Homologes und heterologes Modell kindlicher Sexualität
Zentraler Angelpunkt des Buches ist die Unterscheidung des homologen und des heterologen Konzepts kindlicher Sexualität. Gunter Schmidt arbeitet die zentralen Kennzeichen prägnant heraus: „Die Vertreter des homologen Modells betonen strukturelle Ähnlichkeiten von Kinder- und Erwachsenensexualität, sehen vor allem quantitative Unterschiede, interessieren sich für die erwachsenentypischen, para-adulten Formen kindlicher Sexualität als Vorformen späterer Sexualität und erforschen entsprechend sexuelle Reaktionen (Erektion, Erregung, Orgasmus), sexuelle Verhaltensweisen (Masturbation, sexuelle Handlungen mit anderen) aber auch psychosexuelle Phänomene (Phantasie, sexuelle Attraktion) und soziosexuelle Aspekte (Verlieben, Schwärmen) von Kindern. […] Die Vertreter der heterologen Sicht, vor allem Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen, bestehen dagegen auf der Besonderheit und auf der strukturellen wie qualitativen Unterschiedlichkeit der infantilen Sexualität. Sie sei polymorph sinnlich, ziemlich unersättlich und durchlaufe quasi naturhaft vorgezeichnete Phasen von den oralen Lüsten (Hautkontakt, Reizung der Mundschleimhaut, Lutschen, Saugen, Verschlingen, Zerbeißen) über die analen Lüste (Reizung der Analschleimhaut, Maximierung des Gewinns aus Zurückhalten und Loslassen) bis zu den phallischen Lüsten genitaler Stimulation.“[1] Die heterologe Sicht wurde wesentlich von Sigmund Freud geprägt, der „die Berechtigung, diese Formen der Sinnlichkeit ‚sexuell‘ zu nennen, […] aus der Annahme [nimmt], dass sie energetisch aus der gleichen Quelle wie die spätere Sexualität gespeist werden: vom Sexualtrieb, der Libido.“[2] Ilka Quindeau arbeitet in ihrem Beitrag einige zentrale Perspektiven von Freuds Konzept heraus und diskutiert sie für die Praxis. Detaillierter und im Gesamtkonzept dargestellt finden sich die Ausführungen mittlerweile im – empfehlenswerten – Band „Sexualität“, den Quindeau 2014 im Psychosozial-Verlag veröffentlicht hat.
Interessant an der heterologen Perspektive ist, dass hier der prozesshafte Charakter der psycho-sozialen Entwicklung des Kindes im Mittelpunkt steht. Orale Stimuli, die unter anderem mit der Nahrung und dem Saugen an der mütterlichen Brust beziehungsweise mit Reizungen der Mundschleimhaut verbunden sind, führten dazu, dass das Kind Zufriedenheit erlebe und das Zufriedenheits- und Lustgefühl künftig im Saugen und Lutschen suche. Erregungs- und Lustempfinden entwickelten sich auch im Weiteren entlang den elementaren Grundbedürfnissen des Säuglings / des Kindes. Anal bildeten sich „durch die Entleerung von Blase und Darm […] erogene Zonen aus“[3]. Erst später in der kindlichen Entwicklung würden vom Kind auch die Genitalien als erogen erlebt und zu den zentralen erogenen Organen werden. Sigmund Freud entwickelte ein Phasen- beziehungsweise Stufenmodell, in dem auf die orale die anale und dann die genital-phallische Phase folgen. Aber wie Quindeau betont, ist „die Vorstellung von Stufen […] missverständlich, denn die Lust- und Befriedigungsmodalitäten der Phasen lösen einander nicht ab, sondern bleiben lebenslang nebeneinander bestehen, wenn auch in unterschiedlicher Bedeutung und Intensität.“[4] Entsprechend dieser Sicht speist sich die Erwachsenensexualität aus Lust- und Erregungserfahrungen, die auf die Kindheit zurückgehen; dennoch ist mit diesem Modell zu konstatieren, dass die kindlichen Regungen ‚sinnlich‘, ‚unersättlich‘ und in gewisser Weise ‚unspezifisch‘ erfolgen, wenn sie auch vom jeweiligen Kind – mehr oder weniger intensiv – gesucht werden. Auch sind, so Quindeau, die Lust- und Erregungserfahrungen nicht auf wenige Körperpartien beschränkt, sondern sie wirken vielseitig. Sie beträfen etwa auch die Haut und bildeten sich dort – wie in den übrigen ‚erogenen Zonen‘ – im Zusammenhang mit der Interaktion mit anderen Menschen, in Bezug auf die Haut etwa im Kontext der Körperpflege und der damit verbundenen elterlichen Zuwendung.[5]
Im Band Kindliche Sexualität wird neben der Unterscheidung des homologen und des heterologen Modells kindlicher Sexualität sowie der näheren Ausführung des psychosozialen Entwicklungsprozesses von Sexualität auch die gesellschaftliche Einordnung geleistet. So arbeitet Anja Tervooren – im Anschluss an Michel Foucault – heraus, dass die kindliche Sexualität bereits im 18. Jahrhundert unter besondere Beobachtung in der bürgerlichen Gesellschaft gerät, wenn auch erst später das klare Modell Sigmund Freuds folgt. Seit dem 18. Jahrhundert erschien eine Fülle an beratender Literatur und wurden medizinische Beobachtungen durchgeführt. Mit der gesellschaftlichen Einbindung kommt man zur zweiten Dimension der Ausprägung kindlicher Sexualität: Neben der zunächst auf sich selbst bezogenen Lustbefriedigung (wenn sie auch aus der Interaktion mit Menschen hervorgeht) steht gleichermaßen das Erlernen von gesellschaftlichen Normen: „Sexuelle Sozialisation vollzieht sich lebenslang und Kindheit und Jugend sind besonders ‚dichte Durchgangsstadien‘ des Erlernens von Sexualität. […] Kinder erwerben ein sexuelles Körperwissen und entsprechende emotionale Strukturen zunächst im Kontext der Sozialbeziehungen ihres familialen Umfelds. Im Kontakt mit Erwachsenen und anderen Kindern entwickeln sie Interaktionsstile und Orientierungen, die sich auf geschlechtsangemessenes Verhalten, Fühlen und entsprechende Modelle des Begehrens beziehen.“[6] Dabei „büffeln“[7] sie zum Beispiel die heterosexuelle Norm und das ‚Homosexualitätstabu‘, lernen im Umgang mit Gleichaltrigen aber teilweise auch, mit Norm und Tabu ironisch-spielerisch umzugehen. Tervooren diskutiert etwa für Berliner Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte, wie in der „Clique“ mit dem westlichen Homosexualitätstabu umgegangen wird und „aktive und passive sexuelle Rollen spielerisch“[8] eingenommen werden, „in das Spiel rund um homosexuelle Lust stimmen alle ein“[9].
Norm: Erwachsenennorm, Geschlechternorm
Norm ist bedeutungsvoll und sie führt dazu, dass bestimmte Verhaltensweisen unter Kindern von den Erwachsenen als problematisch eingeordnet werden. Ulrike Schmauch geht in ihrem Beitrag „homosexuelle[n] Gefühle[n] und Entwicklungen in der Kindheit“ nach. Sie zeigt auf, wie diese vielfältig vorhanden sein können und mit anderen Kindern erfolgen, aber auch gleichgeschlechtliche Empfindungen aus der Interaktion mit den Eltern erwachsen. Befragte Homosexuelle berichteten später häufiger von für sie besonders bedeutsamen gleichgeschlechtlichen Erfahrungen (Nähe) in der Kindheit, wobei auch hier die Frage ist, was „später verlötet und nachträglich sexualisiert, zu einer sexuellen Schlüsselszene“[10] wird. Interessant ist aber, wie bestimmte unter Kindern verbreitete Verhaltensweisen, die mit gleichgeschlechtlicher Nähe verbunden sind, sogleich in Richtung erwachsener Sexualität gelesen werden. Statt hier ‚polymorph sinnliches‘ Verhalten zentral zu setzen und gegebenenfalls für die Analyse das sich allmählich einprägende Homosexualitätstabu einzubeziehen, wird das kindliche Verhalten ausgehend vom Koitus Erwachsener interpretiert. Zu eilig wird auf diese Weise nahe und intime Freundschaft aufgelöst und in das Erwachsenenkorsett der Dualitäten homo versus hetero und Freundschaft versus Sexualität gedrängt. Ein möglicherweise gegenüber den Kindern und ihrem Verhalten nicht nur epistemologisch gewaltvoller Akt.
‚Problematischem sexuellen Verhalten‘ von Kindern und Jugendlichen und der Relevanz für die Kinder- und Jugendhilfe wendet sich Bettina Schuhrke ausführlich zu. Dabei listet sie zunächst die unterschiedlichen Klassifikationen, die von verschiedenen AutorInnen vorgeschlagen werden. Für die Bewertung von „sexuelle[m] Verhalten als psychische Störung“[11] orientierten sich die entsprechenden Fachdisziplinen unter anderem am internationalen Klassifikationssystem für ‚psychische Störungen‘ ICD-10, wobei dort für Kinder und Jugendliche einige Umwertungen vorgenommen würden. Zentral wird im ICD-10 dennoch an genitaler Sexualität orientiert: „Da der Beginn der sexuellen Funktion erst für das Jugendalter erwartet wird, würde ein Fehlen bestimmter Potentiale, etwa der Orgasmusfähigkeit oder des sexuellen Verlangens, in der Kindheit nicht als Störung angesehen, ganz im Gegenteil wären ausgeprägte sexuelle Funktionen eher verdächtig.“[12]
Einige der Diagnosen „verweisen“ hingegen „explizit auf den frühen Beginn“ in „Kindheit und Jugend“, etwa „F64.2, Störung der Geschlechtsidentität des Kindesalters“[13]. Damit sind wir einerseits – unter anderem bezüglich der Verhandlung von Orgasmusfähigkeit wird dies deutlich – bei einer homologen, auf die Erwachsenensexualität zielenden Sicht statt bei ‚polymorph sinnlicher‘ kindlicher Entwicklung, andererseits sind wir bei gesellschaftlichen Normen (Geschlechternormen). Von Selbstorganisationen von Trans*-Personen wird intensiv gegen die pathologisierende Zuschreibung ‚Störung der Geschlechtsidentität‘, bezogen auf Kinder und Erwachsene, angeschrieben.[14] Aber auch die vorangehende Einordnung ‚ausgeprägter sexueller Funktionen‘ als ‚verdächtig‘ kann schnell bei Eltern und bei Pädagog_innen und Therapeut_innen zu übergroßer Vorsicht gegenüber Nacktheit, Nähe und Zärtlichkeit führen, da gesellschaftlich gerade diese als ‚Sexualität‘ problematisiert werden und Broschüren zum offenen Umgang mit kindlicher und jugendlicher Körperwahrnehmung, Interaktion und Sexualität eher Ausnahmen sind.[15] Die mehr sozialwissenschaftlich orientierten Untersuchungen nutzen, über die ICD-10 hinaus, verschiedene Einordnungssysteme für problematische Verhaltensweisen. Schuhrke gibt darüber einen Überblick.[16] Hier ist anzumerken, dass die Aushandlung darum, welches Verhalten schwierig ist, dahin gehen sollte, insbesondere Gewalt, Bestechung, Drohung und Zwang zu problematisieren. Für die Entwicklung pädagogischer Konzepte wäre es überdies wichtig, nicht nur das heikle Verhalten im Blick zu haben und zu klassifizieren, sondern vornehmlich einen sensiblen Umgang der Kinder und Jugendlichen mit ihrem eigenen Körper, Nähe, Distanz, Intimität, Sexualität sowie das Erlernen sozialer Interaktion zu fördern – gewiss auch zum Hineinwachsen in das jeweils aktuell gültige gesellschaftliche Normgefüge. So gilt es, etwa Kinder und Jugendliche pädagogisch zum bewussten Umgang mit ihren Grenzen und denen anderer Menschen zu befähigen und – aktuell zunehmend – für den bewussten Umgang mit neuen Medien fit zu machen.
Auch die Darstellungen Schuhrkes geben einen Hinweis darauf, dass die Unterscheidung von sexuellen (gedacht im Sinne von: genitalen) Verhaltensweisen von anderen Auffälligkeiten im sozialen Umgang zu überdenken ist. So zeigen sich ‚sexuelle Symptome‘ oft mit ‚nicht-sexuellen‘, wie ‚aggressivem Verhalten‘, ‚dissozialem Verhalten‘ (Lügen etc.), ‚sozialer Unsicherheit‘ und ‚mangelndem / undifferenziertem Bindungsverhalten‘, assoziiert.[17] Sie betreffen also gerade auch Fragen von Nähe, Distanz und Zärtlichkeit. Gleichzeitig weist Schuhrkes – und auch das ist gegen pauschale Vorannahmen in der pädagogischen Praxis relevant – darauf hin, „dass sexuelle Symptome kein sicherer Indikator für einen sexuellen Missbrauch sind: 85 % derjenigen mit sexuellen Symptomen haben wahrscheinlich keinen Missbrauch erfahren.“[18] Insofern gilt es individuell mit dem Kind und den Eltern sowie gegebenenfalls weiteren Beteiligten über Umstände zu sprechen, warum nicht normgerechtes (sexuelles) Verhalten auftrete, und Handlungsmöglichkeiten und gegebenenfalls -notwendigkeiten zu diskutieren.
Wiederum im größeren gesellschaftlichen Kontext wendet sich Werner Schneider-Quindeau in seinem Beitrag Fragen von Normen zu. Er skizziert dabei christliche Perspektiven und wie diese zentral an der aktuellen westlichen Sicht auf Sexualität beteiligt sind. Allerdings verfehlt er die notwendige Differenzierung bereits mit der Anlage des Beitrags, wenn er die westliche Sicht zur universellen für die Weltreligionen erklärt, indem er schreibt: „Zur Sexualität haben Religionen in der Regel ein angespanntes Verhältnis. Es scheint so, als bestünde eine der wesentlichen Aufgaben religiösen Verhaltens in der Kontrolle, Beherrschung und Regelung der Sexualität.“[19] Für den christlichen bzw. christlich geprägt atheistischen westlichen Kontext lässt sich diese Aussage gut belegen, wenn auch Elemente der europäischen Moderne hinzuzunehmen wären, um das Regieren und Selbstregieren geschlechtlichen Handelns erfassen zu können. Die Universalisierung der These funktioniert hingegen nicht, und solche Beschreibungen wie die von Schneider-Quindeau scheinen nur möglich zu sein, weil es „offenbar jenseits der Vorstellungskraft“ liegt, dass Sex in anderen Religionen und „schon im vorkolonialen Islam ‚als etwas uneingeschränkt Positives gesehen‘ wurde“[20]. Die christlich-atheistische Sicht, in der Religion „auf der Abspaltung eines Bereichs des ‚Glaubens‘ von dem des profanen Lebens beruht[]“[21] und Lust und Sexualität dem „gefährlichen Bereich des Übels“[22] zugerechnet werden, wird von Mehrheitsdeutschen selten als partiale Perspektive westlich-kultureller Prägung verortet. Bereits 1990 kritisierten Jessica Jacobi und Gotlinde Magiriba Lwanga: „Frauen wie Männer wissen fast nie, was das spezifisch Christliche ihrer säkularen Kultur ist, weil es als quasi-natürlicher Zustand, als Selbstverständlichkeit oder als die kulturelle Normalität schlechthin empfunden wird.“[23]
Fazit
Die Lektüre des Sammelbandes Kindliche Sexualität ist äußert ertragreich. Die Beiträge sind fast durchweg auf einem sehr fundierten und reflektierten Niveau, zugleich kommt ein wichtiges und in der öffentlichen Debatte vernachlässigtes Themengebiet umfassend in den Blick. Gleichzeitig regt das Buch zu Diskussion und partiell zu Widerspruch an. Wichtig erscheint es, dass ausgehend von dem Band kindliche Sexualität nicht mehr genital fokussiert und lediglich als Vorgriff auf Erwachsenensexualität verstanden, sondern in ihrem – mit Freud – ‚polymorph sinnlichem‘ Charakter wahrgenommen wird.
Anmerkungen:
[1] Gunter Schmidt, S. 62.
[2] Ebd.
[3] Ilka Quindeau, in Sexualität, S. 43.
[4] Ebd.
[5] Ebd., S. 49.
[6] Anja Tervooren, S. 178.
[7] Nach: Gunter Schmidt, S. 65.
[8] Ebd., S. 180.
[9] Ebd.
[10] Ulrike Schmauch, S. 116.
[11] Bettina Schuhrke, S. 160.
[12] Ebd.
[13] Ebd., S. 161.
[14] Vgl. Allex, Anne (Hg., 2013): Stop Trans*-Pathologisierung: Berliner Beiträge für eine internationale Kampagne. AG SPAK.
[15] Vgl. etwa die guten Broschüren der BzgA: Liebevoll begleiten… Körperwahrnehmung und körperliche Neugier kleiner Kinder (Vom 1. Lebensjahr bis zur Einschulung), Über Sexualität reden… (Zwischen Einschulung und Pubertät) und Über Sexualität reden… (Die Zeit der Pubertät). Die Broschüren sind jeweils als pdf-Datei verfügbar und können gedruckt bestellt werden unter: http://www.bzga.de (Zugriff: 5.7.2014).
[16] Bettina Schuhrke, S. 157-160.
[17] Ebd., S. 170.
[18] Ebd., S. 171.
[19] Werner Schneider-Quindeau, S. 71.
[20] Çetin, Zülfukar / Wolter, Salih Alexander (2012): Fortsetzung einer ‚Zivilisierungsmission‘: Zur deutschen Beschneidungsdebatte. In: Çetin, Zülfukar / Voß, Heinz-Jürgen / Wolter, Salih Alexander (Hg.): Interventionen gegen die deutsche ‚Beschneidungsdebatte‘. Münster: Edition Assemblage, S. 33. Zitat im Zitat aus: Bauer, Thomas (2011): Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin: Verlag der Weltreligionen, S. 278.
[21] Ebd., S. 24.
[22] Vgl. ebd., S. 33.
[23] Jacobi, Jessica / Magiriba Lwanga, Gotlinde (1990): Was „sie“ schon immer über Antisemitismus wissen wollte, aber nie zu denken wagte. In: Sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis für Frauen e.V. (Hg.): Geteilter Feminismus: Rassismus – Antisemitismus – Fremdenhaß (beiträge zur feministischen theorie und praxis, 27). Köln: Eigenverlag, S. 97.