Geisterhafte Routen

Hans Christoph Buch folgt in seinem neuen Essayband „Boat People. Literatur als Geisterschiff“ unerlösten Seelen übers Meer

Von Christof BultmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christof Bultmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 „Die Leiche“, hat Jacques Derrida einmal mit Blick auf Marx geschrieben, „ist vielleicht nicht so tot, wie die Beschwörung uns weismachen will.“ Im Gegenteil: Alle Formen der Geisterbeschwörung wie auch die Trauerarbeit sind zunächst eine Form der Rückversicherung – eine Rückversicherung, dass der Tote nicht wiederkehrt. Man baut den Untoten eine Gruft, deren Schlüssel man in Händen hält, um sie an einem Ort fern der Gesellschaft festzuhalten. Wer aber ohne die ständige Angst vor ihrer Heimsuchung sein will, der muss, so könnte man mit Derrida sagen, lernen, mit den Gespenstern zu leben.

Der Schriftsteller Hans Christoph Buch ist einem solchen Gespenst schon mit fünf oder sechs Jahren begegnet. Natürlich war das in einem Märchen – in Wilhelm Hauffs „Geschichte vom Gespensterschiff“ – und der Untote gewissermaßen der Prototyp aller Untoten: der Kapitän des berüchtigten „Fliegenden Holländers“, jenes unglückseligen Handelsschiffes, das zu endloser Reise auf den Weltmeeren verdammt ist. Hauff spart darin nicht an Gruseleffekten, das Deck des Schiffes ist mit Blut überströmt, der Kapitän an den Mast genagelt, seine Augen sind starr. Der Schrecken kann für den kindlichen Leser aber auch eine Entlastung sein: Am leichtesten lebt es sich mit Gespenstern eben in der Literatur.

Ob das ein Initiationsereignis für Hans Christoph Buch gewesen ist, bleibt der Spekulation überlassen. Eher en passant erwähnt er die kindliche Lektüre in seinem neuen Essayband „Boat People. Literatur als Geisterschiff“ (2014), der sich ausgehend von seinem Erscheinen in Hauffs Märchen mit den zahllosen Revenants des Holländers beschäftigt, die durch die Werke Heinrich Heines, Richard Wagners oder auch Franz Kafkas irrlichtern. Dabei sind sie auch dem Schreiben Hans Christoph Buchs nicht fremd, die literarischen Widergänger und unerlösten Geister, die zu einer ruhelosen Reise über den Globus verdammt sind.

Gustav von Achenbach etwa, Protagonist der Erzählung „Tod in Habana“ (2007), ist ein so deutlicher Widergänger Aschenbachs aus Thomas Manns „Tod in Venedig“, dass einem der fehlende Konsonant nicht weiter auffallen muss. Etwas an dem Kultursoziologen Achenbach jedoch, der mit Kuba ein Land bereist, in dem die Geister der Revolution noch heftig spuken, lässt auch an den Kapitän des „Fliegenden Holländers“ denken: das graue Haar vielleicht, der leidende Ausdruck im Gesicht und die „von Computerbildschirmen ermüdeten Augen“. Ganz sicher aber die eigene Heimatlosigkeit, der Achenbach nach dem Zusammenbruch aller Revolutionsträume im morbid-maroden Kuba begegnet.

In Achenbach könnte man allerdings auch einen Widergänger Hans Christoph Buchs erkennen, der seinerseits zu den rastlos Reisenden in der deutschen Literatur gehört. Der Essayband „Blut im Schuh“ (2001), der Berichte von Kriegsschauplätzen wie in Ruanda, Sierra Leone, dem Kosovo und Tschetschenien versammelt, ist längst ein Klassiker auf dem Feld der literarischen Reportage. Auch hier geht es bisweilen gespenstisch zu, weil der Korrespondent am eigenen Leib erfahren muss, wie sich die Kriegsrealität zunächst nur durch die Verzerrungen des abendländisch-kolonialen Blicks mitteilt.

Über den „Fliegenden Holländer“ und das Motiv der unendlichen Reise ist nun einiges schon geschrieben worden. Der Philosoph Manfred Frank hat es bereits Ende der 70er-Jahre als Zeichen des neuzeitlichen Bruchs mit der christlich-religiösen Vorstellung der zyklisch geschlossenen Lebensreise gelesen, die durch linearen Fortschritt und infinitesimale Expansion ersetzt wird. Dass sich darin zugleich die Bedingungen eines globalisierten Marktes spiegeln, darauf hat der Literaturwissenschaftler Burkhardt Wolf hingewiesen: Der untote Kapitän erscheint ihm als Homo Oeconomicus, als eine Art global player, der in der grenzenlosen Akkumulation und Zirkulation des Kapitals keine Erfüllung mehr finden kann.

Auch Hans Christoph Buch verleiht dem Motiv einen (post-)modernen Sinn, der sich mit „grenzenloser Zirkulation“ auf den Punkt bringen ließe. Denn das ruhelose Umhergeistern der Totenschiffe durch die Literaturgeschichte verdankt sich, so Buch, einer eher unbewussten oder gar ungewollten Fortschreibung des Kanons, „so als schrieben die Gedichte und Geschichten sich von selber fort“. Sie ist also das Ergebnis einer gespenstischen Eigenaktivität der Zeichen, die sich dem steuernden Eingriff des Autors letztlich entzieht.

Und so folgt Buch in „Boat People“ nicht nur den Hauptrouten des Kanons, er lässt sich auch auf Nebenwege und Querverbindungen ein. Von Hauffs „Gespensterschiff“ führt der Weg nicht nur in die Säulenhallen der abendländischen Kultur, zu Heinrich Heine, Richard Wagner und Thomas Mann, er führt auch zu Sindbad und den Märchen aus „Tausendundeine Nacht“ oder zum Totenkult im alten Ägypten, dessen Pharaonengräber eine verblüffende strukturelle Ähnlichkeit mit der maritimen Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen Leben und Tod haben.„Boat People“, das sind aber eben auch die Menschen des 20. Jahrhunderts, Nomaden und Gestrandete nach dem Zusammenbruch der Ideologien. Die Matrosen an Bord der Kriegsschiffe im Ersten Weltkrieg etwa, wie sie in Reinhard Goerings Drama „Seeschlacht“ dargestellt werden. Oder die beiden Kriegsversehrten in Jens Rehns Schlauchboot-Endspiel „Nichts in Sicht“. Wie auch die Schiffbruchsopfer bei Peter Weiss, Hans Magnus Enzensberger und Günter Grass. Oder – ein Beispiel aus der jüngeren Gegenwartsliteratur – der Binnenschiffer in Gert Loschütz’ meisterhaftem Roman „Dunkle Gesellschaft“, den das Totenschiff unter anderem auf niedersächsischen Gewässern heimsucht.

Versammelt unter einem Titel, der eher an die „Boat People“ heutiger Tage denken lässt, an die Passagiere afrikanischer Flüchtlingsboote vor den Küsten Europas, haftet der Auswahl sicherlich etwas Willkürliches an – zumal Buch ohne starke These arbeitet, die das gespenstische Korpus zusammenhält. Der Autor ist hier ganz Schriftsteller, nicht Wissenschaftler, und die einzelnen Werke sind Fundstücke, chronologisch geordnet, aber inhaltlich teils nur sehr assoziativ verbunden.

Doch genau darin liegt auch der Reiz dieses trotz seiner thematischen Fülle so schmalen Büchleins. „Boat People“ ist nicht nur ein Detektor geisterhafter Bewegungen in der Literatur, es liest sich zugleich wie ein Arbeitsbuch kommender Schriften. Es ist dieser Charme des Unfertigen, der Buchs Essay auszeichnet, der mit Unschärfen arbeitet und Vagheiten, die Platz lassen für imaginative Ausarbeitung – schon allein, weil die ewige Wiederkehr des Geisterschiffs über Epochen- und Kulturgrenzen hinweg immer neue Möglichkeiten der Dechiffrierung bietet. „Boat People“ jagt ein Phantom, und seine irrlichternde Körperlosigkeit ist die seines fortwährend unfassbar bleibenden Gegenstands.

Und so liefert „Boat People“ auch ein Stück über die Hybris des Fortschritts, die Irrfahrten einer um das Versprechen der Erlösung gebrachten Diesseitigkeit und die innige Verquickung von Tod und Begehren. Der Effekt, den der Essay dabei erzielt, ist im besten Sinne museal. Nicht nur, weil jedem Kapitel der Abdruck eines Gemälde vorangestellt ist, von Caspar David Friedrichs „Auf dem Segler“ bis Horace Clifford Westermanns „The Dance of Death“. Sondern weil Buch die Werke in ein luftiges Arrangement bringt, ohne ihnen allzu viel theoretisches Gepäck aufzuladen. Das aber ist ein Medium, in dem die Geister zu sprechen beginnen.

Titelbild

Hans Christoph Buch: Boat People. Literatur als Geisterschiff.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2014.
127 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783627002077

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