Vom Heraus- und Hineinlesen

Über eine aufgebrachte Rezension von Martha B. Helfers „Das unerhörte Wort“ und wie man die Studie über Antisemitismus in der Literatur sachlich bewertet

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Martha B. Helfer ist promovierte Germanistin an der Rutgers University-New Brunswick. In das „Das unerhörte Wort“ beschäftigt sie sich mit latentem Antisemitismus in kanonischen Texten deutscher Sprache: unter anderem Lessings „Nathan der Weise“, Annette von Droste-Hülshoffs „Die Judenbuche“ und Franz Grillparzers „Die Jüdin von Toledo“. Die bisher einzige Rezension der kürzlich erschienenen Übersetzung formuliert scharfe Kritik.

Die „Vorwürfe“

Edwin Baumgartner macht Helfer in seiner Rezension in der Wiener Zeitung mehrere „Vorwürfe“, wie er selbst es formuliert. Er beginnt damit, dass Helfer nur deutsche und österreichische Klassiker untersuche, womit das Versprechen auf dem Buchdeckel nicht eingelöst werde: „Immerhin lautet der Untertitel der Untersuchung: ‚Antisemitismus in Literatur und Kultur‘. Er suggeriert eine nationenübergreifende Auseinandersetzung.“ Eine Recherche des originalen Titels wäre hilfreich gewesen: Er lautet „Legacies of Anti-Semitism in German Literature and Culture“. Auch der deutsche Leser kann durch die Lektüre des Klappentextes oder einen Blick auf die biographischen Daten der Autorin schnell erkennen, dass es sich um die Studie einer Germanistin handelt. Die Verfasserin hat sich auf deutschsprachige Literatur und Kultur spezialisiert, weshalb sie auch nur diese untersucht. Nirgendwo kündigt sie eine interkulturelle Herangehensweise an.

Ausgehend von dieser falschen Voraussetzung geht Baumgartner noch weiter: „In Zusammenhang mit dem allgemein formulierten Untertitel bedeutet das allerdings nichts anderes, als dass Antisemitismus ausschließlich ein Charakteristikum der deutschen und österreichischen Literatur ist.“ Das ist eine gewagte Unterstellung. Die Autorin kommt gar nicht auf die Idee, ihre Beschränkung auf deutschsprachige Literatur zu begründen. Es ist schlicht und ergreifend ihr Arbeitsgebiet. Auch die Ausweitung auf die „Kultur“ findet Baumgartner problematisch: „Hier deutet Helfer an, die genannten Autoren seien die Eckpfosten, an denen sich eine insgesamt antisemitische Kultur festmachen lässt.“ In der Tat: Helfer sieht den literarischen Text auch als „Ausdruck kultureller Vorstellungen“. Das ist eine theoretische Prämisse, die sie gleich zu Beginn sehr deutlich macht. Man mag diesen Literaturbegriff nicht teilen, ebenso wenig ist er aber wirklich problematisch.

Baumgartners Stoßrichtung wird deutlich, wenn er Helfer in den Kontext der Goldhagen-Debatte stellt. Das Buch lese sich „wie ein exemplifizierender Appendix“ zu Goldhagens These, der Holocaust sei von den meisten Deutschen aus einem spezifisch deutschen Antisemitismus heraus willentlich mitgetragen worden. Eine solch geradlinige Argumentation weist Helfer für ihre Studie jedoch ausdrücklich zurück: „Das heißt weder, dass die gesamte deutsche Literatur antisemitisch ist, noch, dass sich der Holocaust in der hier untersuchten Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts schon unausweichlich abzeichnet. Ich glaube das nicht, und ich habe entsprechende Thesen in diesem Buch auch nicht vertreten. Wer ‚Das unerhörte Wort‘ als ‚noch weiteres Buch über den Antisemitismus‘ ansieht, das ‚beweisen‘ wolle, dass deutsche Autoren und deutsche Texte antisemitisch seien, und das literarische Konstruktionen der Blut-und-Boden-Ideologie des Dritten Reiches nachvollziehe oder nachvollziehen wolle, hat mich völlig missverstanden.“ Angesichts dieser Deutlichkeit fragt man sich, wie Baumgartner die Autorin dennoch so missverstehen konnte. Sein Untertitel lautet polemisch: „Wenn man hineinliest, was man herauslesen möchte: Martha B. Helfer unterstellt Schiller und Lessing antisemitische Tendenzen.“ Ist es nicht vielmehr er, der „hineinliest“? Der – vielleicht aufgrund ihrer Nationalität – der amerikanischen Wissenschaftlerin eine anklagenden Ton unterstellt, eine Argumentation der Schuldzuweisungen?

Worum es eigentlich geht

Martha B. Helfers Studie ist bei genauerem Hinsehen in sich kohärent. Alle Antworten auf problematische Fragen nimmt die Autorin schon vorweg. Es geht ihr vor allem um eine Lektüre „kanonischer Texte in ihrem vollen Umfang“: Sie möchte antisemitische Strukturen aufdecken, die unter der Textoberfläche liegen. Ihre eng an den Texten entwickelten, sehr ungewöhnlichen Interpretationen sind bewusste Dekonstruktionen. Gerade vermeintlich toleranzfördernde Texte wie Lessings „Nathan der Weise“ will sie gegen den Strich lesen und latente antisemitische Gehalte offen legen: „Entscheidend ist nicht, ob meine Deutung richtig ist, sondern ob sie im Angesicht des Textbestandes richtig sein kann.“

Ihre Definition von Antisemitismus in der Literatur bleibt  sehr allgemein. Entscheidend ist, dass sie diese Tatsache selbst reflektiert und begründet: „Diese fehlende linguistische Präzision ist jedoch weniger eine Schwäche des Projekts als vielmehr dessen wichtigstes Anliegen. Sie macht deutlich, dass eine Haupteigenschaft des literarischen Antisemitismus seine Unbestimmtheit ist.“ Keine der Analysen ist deshalb wie die andere. Zwar ist „Jüdischsein“ in allen Primärtexten ein zentrales Thema, doch Helfers Lesart wird an den jeweiligen Besonderheiten des Textes entwickelt. 

Manches Mal entstehen dabei gewagte, bewusst provokante Interpretationen („Weil ich kanonische Texte untersuche, werden meine Deutungen vielen nicht passen, und das wollen sie auch nicht.“). Lessings „Nathan der Weise“ wird beispielsweise als Text identifiziert, in dem es um das Hinterfragen gängiger Gattungen, Kategorien und Denkmuster geht. Deshalb, so Helfer, stelle der Text seine eigenen Behauptungen jederzeit selbstreflexiv in Frage. Gerade die Ringparabel interpretiert sie vor diesem Hintergrund um: Indem Nathan zwei der Ringe als Kopien ausweist, existiere eben doch einer, der der echte Ring sei: „Durch seinen ursprünglichen Status stellt der Jude eine Bedrohung der Integrität der christlichen und der muslimischen Gesellschaften dar, deshalb bleibt er von der Blutsverwandtschaft der natürlichen Familie am Schluss des Dramas ausgeschlossen.“ Nathan täusche insofern eine Antwort nur vor, dazu noch in Verbindung mit einem finanziellen Hilfsangebot und trete also wieder als berechnender Betrüger, als Klischee eines Juden, auf. Deshalb bliebe er bis zum Schluss von den übrigen Figuren isoliert.

Dass Lessings Text als „projüdischer“ intendiert war, ist Helfer bewusst. Die Intention des Autors spiele keine Rolle: „Denn absichtlich oder nicht, die antijüdischen Aspekte dieser Texte stellen einen kritischen Moment in der Geschichte der Herausbildung der Rhetorik des Antisemitismus dar.“

Bezieht man Helfers Prämissen in die Beurteilung ihrer Studie ein und betrachtet ihr Ziel, erweisen sich ihre Argumentationen also als reflektiert und begründet. Es gibt aus ihrer Perspektive keine bewusste Autorinstanz und keine endgültige Bedeutung, sondern immer nur eine Möglichkeit der Bedeutung, die es offenzulegen gilt. Problematisch an dieser wie an vielen anderen der Dekonstruktion geschuldeten Interpretationen ist, dass mit der Unangreifbarkeit der Verlust von Anschlussfähigkeit einhergeht. Helfer entwickelt keine Definitionen, die man vielleicht kritisieren, aber auch verwenden, diskutieren oder weiterentwickeln könnte. Letztlich sind ihre Analysen zwar intelligent, aber genauso unhinterfragbar wie unwiederholbar.

Vielleicht muss man beim Thema Antisemitismus hier stehen bleiben, weil die Rationalisierung eines irrationalen Phänomens Grenzen kennt. Literaturwissenschaftler, Kritiker und Editionsphilologen sind dazu angehalten, problematische Gehalte und „hintergründige Formen des Antisemitismus“ kenntlich zu machen. Nicht mehr und nicht weniger als das hat Martha B. Helfer getan.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Martha B. Helfer: Das unerhörte Wort. Antisemitismus in Literatur und Kultur.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Christophe Fricker.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
256 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783835312951

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