Väter und Töchter

Matthias Schwartz hat das erste Grundlagenwerk zu sowjetischer Abenteuerliteratur und Science-Fiction vorgelegt

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Sowjetunion hatte keine Zukunft, wie man weiß. Zukunftsromane hingegen hatte sie schon. Ihnen und der sowjetischen Abenteurliteratur hat der Slawist Matthias Schwartz nun eine umfangreiche Untersuchung gewidmet und damit selbst weithin unerforschtes Neuland betreten. Denn weder „in den einschlägigen Literaturgeschichten“, noch „in der internationalen Forschungsliteratur zur russischen Literatur“ ließ sich Näheres zur „Relevanz und der Popularität“ von russischer Abenteuerliteratur und der dort als Wissenschaftliche Fantastik firmierenden Science-Fiction finden. Diese Forschungslücke für die Zeit von der Oktoberrevolution 1917 bis hin zum Sputnikflug Ende der 1950er-Jahre zu schließen, hat sich Schwartz zur Aufgabe gestellt. Er bemeistert sie, indem er die um beide Genres geführten Debatten rekonstruiert, „ausgewählte, für die Etablierung dieser Literatur maßgebliche Werke“ vorstellt und sie „in Beziehung zur kulturellen und literaturpolitischen Lage jener Jahre“ setzt, um „zu analysieren, wie die außerliterarische Wirklichkeit in den Werken reflektiert wird“.

Schwartz zieht drei Quellenkorpora heran. Zunächst einmal natürlich denjenigen der literarischen Texte selbst, wobei er soweit wie möglich auf die „Originalausgaben aus der jeweiligen Untersuchungsperiode“ zurückgreift. Sodann eine umfangreiche Palette zeitgenössisch publizierter Debattentexte wie „Rezensionen, Kritiken, Artikel, Aufsätze, Essays, Reden, Prosaskizzen oder auch Briefwechsel“. Den dritten Quellenkorpus bieten nichtpublizierte Archivalien, namentlich „die Bestände des Schriftstellerverbandes der UdSSR und der für Abenteuerliteratur zentralen Verlage“ Detgiz und Detizat.

Schwartz’ Einführung der beiden Genres Abenteuerliteratur und Science Fiction beziehungsweise Wissenschaftliche Fantastik rechtfertigt sich nicht zuletzt dadurch, dass sich letztere als Genre erst gegen Ende der 1920er-Jahre „stärker von der klassischen Abenteuerliteratur“ zu emanzipieren vermochte. Ein Prozess, der von Schwartz ebenso nachgezeichnet wird wie die sich ändernden literarpolitischen Maßgaben von Funktionären der KPdSU. Dabei hatte sich das kommunistische Regime zunächst einmal mit der die Revolution überdauernden Beliebtheit auseinanderzusetzen, der sich die Abenteurliteratur aus West-Europa und den USA zur Zeit des Zarenregimes erfreute.

Vor allem die von der tatsächlich existierenden US-amerikanischen Detektei Pinkerton inspirierten Hefte um den fiktiven New Yorker Detektiv Nat Pinkerton fanden bis in die 1920er-Jahre auch in der jungen UdSSR reißenden Absatz. Dies veranlasste Anfang der 1920er-Jahre Nikolaji Bucharin zu der Forderung, die sowjetische Literatur solle einen kommunistischen Pinkerton“ schaffen. Sein Wort hatte Gewicht. Denn er war Mitglied des Politbüros und Herausgeber der Parteizeitung Prawda. So wurden „sogenannte ‚kommunistische Pinkertons‘ bis zum Ende der 1920er-Jahre zum Synonym für die postrevolutionäre Abenteuerliteratur“. Im Jahre 1928 allerdings befahl ‚Väterchen‘ Stalin die als „‚Großen Umbruch‘ verharmloste „gewaltsame Industrialisierung und Kollektivierung des Landes“, in deren Verlauf nicht nur mehrere Millionen Kulaken ihr Leben ließen. Bucharin, der sich gegen Stalins Anordnung gewandt hatte, wurde politisch kaltgestellt und „die Literatur- und Kulturpolitik radikal umgebaut“. Wurde Abenteuerliteratur zunächst nur als „eskapistisches und weltfremdes Genre scharf kritisiert“, so „kam die Auflösung und Zentralisierung aller literaturpolitischen Institutionen bis 1932 schließlich einem weitgehenden Verbot von Abenteuerliteratur gleich“. Mitverantwortlich hierfür war Maksim Gork’ji, ein mit dem Leninorden ausgezeichneter Romancier, der selbst als Mitglied des Zentralkomitees politische Verantwortung trug.

Auf dem Ersten Sowjetischen Schriftstellerkongress der UdSSR wurde 1934 unter seiner Ägide eine Literatur verlangt, welche die „exotischen Expeditionen in andere Welten“ durch eine sogenannte „wissenschaftlich-künstlerische Literatur“ ersetzte. Sie sollte „die Abenteuer der neuen Zeit auf den Großbaustellen des Sozialismus suchen“ und „Akkordarbeit, Produktionsrekorde und technisch-wissenschaftliche Wunder in den Mittelpunkt des Sujets stellen“, wie Schwartz formuliert.

Allerdings, so zeigt er, wurden diese Vorgaben gelegentlich unterlaufen oder doch nur mit Abstrichen erfüllt. Und selbst in dem „ideologisch und ästhetisch stark regulierten Literaturbetrieb“ der dreißiger Jahre waren „an den ‚Rändern‘“ noch immer „durchaus divergierende und heterogene Poetiken in begrenztem Sinne möglich“. Gerade für sie interessiert sich Schwartz. Daher richtet sich seine Aufmerksamkeit – abgesehen von wenigen Ausnahmen wie etwa Ilia Ehrenburg – „nicht auf kanonisierte Autoren“.

Bei einigen der heute nicht selten weithin vergessenen und von Schwartz wiederentdeckten SchriftstellerInnen der untersuchten Genres „nahm“ der stalinistische Terror „in Wundergeneratoren zur Wiederbelebung der Toten und Verschwörungsgeschichten um gefährliche Grenzgebiete“ dem Autor zufolge „teils fantastische, teils paranoide Formen an“. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg ließen die Literaturschaffenden „ausländische Spione und Diversanten“ nicht mehr wie noch in der Zwischenkriegszeit „im eigenen Land“ auftreten, sondern schickten sie „nach außen“, wo sie sie „abenteuerliche Spionagegeschichten“ erleben ließen.

All dies und einiges mehr legt Schwarz in großer Ausführlichkeit dar. Wenn ein Wehrmutstropfen in dem Meer an Informationen unangenehm hervorschmeckt, dann vielleicht der, dass Schwartz ganz überwiegend Werke männlicher Literaturschaffender heranzieht. Dies mag allerdings auch dem Umstand anzulasten sein, dass ihre Zahl die ihrer Kolleginnen weit überwogen haben dürfte. Jedenfalls muss man eine Weile Ausschau halten, bis man in Schwartz‘ Studie eine im Abenteuer-Genre tätige Autorin stößt wie die unter dem Pseudonym Džim Dollar veröffentlichende Marietta Sergeevna Šaginjan, der Schwartz allerdings immerhin nicht nur ein kleines Unterkapitel widmet, sondern darüber hinaus einige ihrer Werke genauer vorstellt.

Wie nicht anders zu erwarten, sind nicht nur die VerfasserInnen der sowjetischen Abenteuer und Science-Fiction-Literatur ganz überwiegend männlichen Geschlechts, sondern auch die ProtagonistInnen – zumindest sofern sie heldenhaft oder besonders schurkisch agieren.

Frauen lassen einige der Autoren hingegen gerne ein Schicksal als Opfer männlicher Gewalt erleiden. Michail Gireli etwa, lässt einen verrückten Wissenschaftler zuerst in die Seele „seiner Assistentin Sifjia, dann in die seiner Ehefrau Ol’ga eindringen, was ihm zwar ein stark erotisch kodiertes Vergnügen bereitet, diesen aber den Tod bringt“. Der Schriftsteller Nikolaj Alexandrovič Karpov wiederum bringt seinem schurkischen Professor Mongomeri dessen „rebellische Tochter“ als „weibliches Opfer“ dar, während Sergej Michailowič Belajaev einen ebenfalls „verrückten Professor“ und „machtgierigen Bösewicht“ seine Tochter immerhin ‚nur‘ gefangen halten lässt.

Emanzipatorische Frauenfiguren haben hingegen Seltenheitswert. Man müsste schon auf Dunja aus Pavel Andreevič Bljachins Jugendroman „Die roten Teufelchen“ oder die unter Pseudonym veröffentlichte „Mess Mend“-Trilogie der bereits erwähnten Autorin Marietta Sergeevna Šaginjan rekurrieren, in deren Bänden die Verwandlungskünstlerin Vivian Orton einen „Rachefeldzug“ inszeniert. Andererseits lässt die Autorin Lenin die kommunistische Sache in der gleichen Reihe auch schon mal mittels einer – wie Schwartz formuliert – „telepathischen Manipulation der Dinge und Menschen“ vorantreiben.

Schwartz entwirrt die zahlreichen und nicht selten ineinander verschlungenen Entwicklungslinien der in der UdSSR umkämpften Genres Abenteuerliteratur und Science Fiction und zeichnet sie nachvollziehbar nach. Dabei bietet er zudem eine schier unglaubliche Informationsfülle zahlreicher literarischer und literarpolitischer Details. Ergänzt wird dies alles durch etliche erhellende Analysen einzelner Werke. Auch die Aufgabe, die Ergebnisse seiner herkulischen Arbeit abschließend auf wenigen Seiten konzis zusammenzufassen, hat er mit Bravour bewältigt. Den Wunsch, sich mit den literarischen Primärtexten aus anderen als wissenschaftlichen Gründen befassen zu wollen, vermag das Buch hingegen nicht zu wecken. Dies aber dürfte auch schwerlich eine der Intentionen seines Autors gewesen sein.

Titelbild

Matthias Schwartz: Expeditionen in andere Welten. Sowjetische Abenteuerliteratur und Science-Fiction von der Oktoberrevolution bis zum Ende der Stalinzeit.
Böhlau Verlag, Köln 2014.
684 Seiten, 89,90 EUR.
ISBN-13: 9783412210571

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