Deutsche Behörden und der Holocaust

Neue Veröffentlichungen zur Geschichte des Nationalsozialismus

Von Kurt SchildeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kurt Schilde

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Ergänzung zu den im April 2014 vorgestellten Publikationen zur Geschichte des Nationalsozialismus in Berlin soll im folgenden auf weitere Studien zur Geschichte des Nationalsozialismus in Deutschland hingewiesen werden, die interessante Aspekte behandeln. Die meisten Darstellungen zum Thema orientieren sich bis heute an den Zäsuren 1933 und 1945. Gegen diese Beschränkung richten sich aber auch zunehmend Forschungen zur Vorgeschichte und den Nachwirkungen der NS-Geschichte. Als Beitrag zur Diskussion haben Birthe Kundrus und Sybille Steinbacher den Sammelband „Kontinuitäten und Diskontinuitäten“ herausgegeben. Die Sammlung von Fallstudien ist als 29. Band der renommierten Reihe „Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus“ erschienen und behandelt eine breite Themenpalette: Spielräume des Konsums, Kontinuitäten und Zäsuren in der Rezeption der Psychoanalyse (1926-1960) oder Geschichte der Individualität zwischen Weimarer Republik und Nachkriegszeit. Es wird auf Kontinuitäten der nationalsozialistischen Finanz- und Wirtschaftspolitik hingewiesen und das Verhältnis zwischen kolonialem Rassismus und dem nationalsozialistischen Antisemitismus untersucht.

Der den Themenschwerpunkt abschließende Aufsatz behandelt die Geschichte ehemaliger Nationalsozialisten im Parteiapparat der DDR. Die Studie von Rüdiger Bergien mit der Überschrift „Das Schweigen der Kader“ ist einer der interessantesten Beiträge zu den personellen Kontinuitäten in den Funktionseliten der SBZ/DDR. Der am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam tätige Wissenschaftler wirft den Blick auf die NS-belasteten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Apparats des SED-Zentralkomitees. Er fragt, wie es ab Anfang der 1950er-Jahre ehemaligen NSDAP-Mitgliedern gelungen ist, in diesem Apparat aufzusteigen. Einen plausiblen wichtigen Grund sieht er in dem Ausbau der Parteibürokratie zur „den Staat leitenden Steuerungsorganisation“, der mit einem enormen Personalzuwachs verbunden gewesen ist. Davon profitieren 54 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die das Deutungsmuster „retrospektiver Antifaschismus“ akzeptieren. „Diesem zufolge waren nicht nur diejenigen Antifaschisten gewesen, die den ,wahren Charakter des Faschismus‘ erkannt und sich – idealerweise noch vor Kriegsende, notfalls aber auch erst in sowjetischer Gefangenschaft – von ihm abgewandt hatten.“ Zu dieser Akzeptanz hat sicherlich auch beigetragen, dass ein ehemaliger Nationalsozialist drei Jahrzehnte lang die Kaderpolitik des ZK-Apparates koordiniert hat. Hinzu kommt – so eine der vier abschließenden Thesen – die bereits erwähnte schmale personelle Basis, die ermöglichte, dass „systemübergreifend aufstiegs- und einsatzwillige Kader“ bis in höchste Ämter aufsteigen konnten. Außerdem – so eine weitere These – spielt die Abwehr gegen Vorwürfe aus dem Westen eine wichtige Rolle. Die These endet mit der offenen Frage, „ob und inwieweit diese Konstellation als eine historische Ursache für die Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland gefasst werden kann“. Eine Antwort steht noch aus.

Abgerundet wird der Band mit einem interessanten „Fundstück“ von Julia Roos über Kontinuitäten und Brüche in der Geschichte des Rassismus am Beispiel der „Rheinlandbastarde“ aus einem privaten Briefwechsel. Es geht um Verunglimpfung unehelicher deutscher Kinder „farbiger“ alliierter Besatzungssoldaten nach dem Ersten Weltkrieg. Wie üblich enthält der wieder sehr informative Band eine Fülle an Buchbesprechungen, dieses Mal dreizehn.

Thematisch direkt daran an schließt sich eine Publikation über das Projekt „Rassismus und Antisemitismus in erziehungswissenschaftlichen und pädagogischen Zeitschriften 1933-1944/45. Über die Konstruktion von Feindbildern und positivem Selbstbildnis“. In einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Studie hat Benjamin Ortmeyer mit Katharina Rhein die Zeitschrift „Hilf mit!“ untersucht. Die Zielgruppe der vom Nationalsozialistischen Lehrerbund herausgegebenen Zeitschrift sind Schüler und Schülerinnen ab 11/12 Jahren gewesen.

Ortmeyer/Rhein erklären zunächst die Begrifflichkeiten Rassismus, Antisemitismus, Biologismus, Eugenik und setzen sich kritisch mit der NS-Terminologie auseinander. Einen großen Umfang haben die Richtlinien, zum Beispiel das Dokument „Vererbungslehre und Rassenkunde im Unterricht“ von 1935. Im Zusammenhang mit der Darstellung des Kontextes der Zeitschrift, die eine Auflage von fünf Millionen Exemplaren gehabt haben soll, sind drei Etappen zu unterscheiden: die Phase der Konsolidierung des NS-Systems 1933 bis 1935, die Festigung des Systems 1936 bis 1939 und die Kriegszeit 1939 bis 1944/45.

Die Artikel lassen sich grob in eindeutige NS-Propagandabeiträge, „eindeutig ideologisch geprägte NS-Artikel“ und „unpolitisch“ gehaltene Artikel unterscheiden. Aus nahe liegenden Gründen richtet sich das Untersuchungsinteresse hauptsächlich auf die rassistischen und antisemitischen Artikel. Dabei ist eine Feststellung bemerkenswert: In der Zeit des Zweiten Weltkrieges richten sich die Artikel „nicht mehr vorrangig gegen Juden in Deutschland“, sondern „gegen die Juden in den von NS-Deutschland bekriegten und überfallenen Ländern“. Allerdings ist generell festzustellen, dass „rassistische und antisemitische Inhalte und NS-Propaganda in dem Heften nicht im Vordergrund“ stehen.

Weiterhin analysieren Ortmeyer/Rhein Titelbilder und rassistische sowie antisemitische Denkfiguren. Leider ist die Abbildungsqualität durchgehend schlecht. Auch ist nach dem Sinn doppelter Abbildungen in unterschiedlich kleinen Formaten zu fragen. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass die Forschungsstelle NS-Pädagogik an der Universität Frankfurt am Main für wissenschaftliche Bibliotheken ein Faksimile aller Ausgaben der Zeitschrift in sieben Bänden mit mehr als 3.000 Seiten zusammengestellt hat.

Im Zentrum der Arbeit stehen die Analyse rassistischer und antisemitischer Artikel aus drei ausgewählten Jahrgängen und insbesondere die Einzelanalyse von ausgewählten Artikeln, darunter: „Deine Gesundheit gehört dem Volk“ (1933), „Zu welcher Rasse gehöre ich?“ (1935) und „Hinter der hohen Mauer“ (1938), in dem es um Patienten einer psychiatrischen Klinik geht.

Abschließend gehen Ortmeyer/Rhein zusammenfassend auf die Wirkung und Auswirkung der Indoktrination ein, indem sie auf die Erinnerungen prominenter Journalisten und Politiker rekurrieren. Die Studie verdeutlicht beispielhaft – leider aber mit vielen Wiederholungen – die Indoktrination deutscher Kinder und Jugendlicher.

Erst seit wenigen Jahren befindet sich das Agieren der Finanzbehörden in der NS-Zeit im Fokus der Zeitgeschichtsforschung. So hat im Sommer 2009 endlich das Bundesfinanzministerium eine Historikerkommission eingesetzt, deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Geschichte des Reichsfinanzministeriums untersuchen. Als erster Band einer geplanten Schriftenreihe ist die bereits im Wintersemester 2010/2011 an der Ludwig-Maximilians-Universität München abgeschlossene Habilitationsschrift von Christiane Kuller „Bürokratie und Verbrechen“ veröffentlicht worden.

Nach einem Überblick über die Geschichte der nach dem Ersten Weltkrieg 1919 entstandenen Finanzbehörden bis 1933 richtet sie das Augenmerk auf die Diskriminierung der jüdischen Bevölkerungsminderheit, die fiskalische Ausbeutung von Emigranten, die Rolle der Finanzbehörden bei der „Arisierung“ jüdischen Eigentums und die staatlich organisierte Ausraubung der jüdischen Minderheitsbevölkerung. Seit 1933 gilt als Praxis: „Die Auslegung der Steuergesetze nach nationalsozialistischer Weltanschauung.“ Durch diese „vorgeschaltete Generalklausel“ bilden die NS-Ideologie und der Antisemitismus die verbindliche Auslegungsrichtlinie. Eine wichtige Erkenntnis der Untersuchung von Kuller ist: „Je stärker Juden als Gruppe im Fokus der Finanzbehörden standen, umso mehr konnten auch antisemitische Ressentiments und stereotype Vorurteile Raum gewinnen.“ Das Personal des Reichsfinanzministeriums, der Mittelbehörden – der Oberfinanzpräsidenten – und der örtlichen Finanzämter ist eine antisemitische Verwaltung gewesen. Antisemitismus gehörte zum Arbeitsalltag. Erschwerend kommt hinzu: „Klassische bürokratische Prinzipien wie das Handeln ohne Ansehen der Person und eine sachliche Herangehensweise ohne persönliches Engagement begünstigten die Entwicklung einer mörderischen Dynamik.“

Eine Zäsur hat es 1945 bei der Verwaltung jüdischen Eigentums nicht gegeben: Wer in der NS-Zeit in einer „Vermögensverwertungsstelle“ eines Oberfinanzpräsidenten an der fiskalischen Ausraubung mitgewirkt hat, befasst sich ab 1945 in vielen Fällen nun mit der Rückerstattung des geraubten Eigentums. „Die Entzieher von einst waren nach der Zerschlagung der nationalsozialistischen Herrschaft für die Wiedergutmachung an deren Opfern zuständig. Ehemalige Verfolger und ehemalige Verfolgte begegneten sich in neuen Rollen: als Rückerstattungspflichtige und Rückerstattungsberechtigte.“ (S. 106)

Zum Abschluss ihrer Zusammenfassung betont Kuller, dass die Finanzverwaltung einen wichtigen Tragpfeiler der NS-Herrschaft gebildet hat: „Sie war maßgeblicher Akteur der Judenverfolgung und leistete einen essentiellen Beitrag zur Etablierung einer neuen nationalsozialistischen Gesellschaftsordnung. Beides stabilisierte die Funktionsfähigkeit der rassistischen Diktatur.“ Man darf gespannt sein, welche Erkenntnisse die angekündigte Erforschung der Geschichte des Reichsfinanzministeriums als Behörde, der Steuerpolitik, der Schuldenpolitik und der Rüstungs- und Kriegsfinanzierung noch ans Licht bringt.

Rechtliche Fragen sind das Metier von Rechtsanwälten. Im Zusammenhang mit der von Simone Ladwig-Winters im Auftrag der Berliner Rechtsanwaltskammer beziehungsweise Bundesrechtsanwaltskammer erarbeiteten Wanderausstellung „Anwalt ohne Recht“ (Berlin 1998), die 2011 im Düsseldorfer Justizzentrum gezeigt wurde, hat Susanne Mauss einen Regionalteil für den Oberlandesgerichtsbezirk Düsseldorf erarbeitet. Die Ergebnisse ihrer Nachforschungen mit dem treffenden Titel „Nicht zugelassen“ münden in einen fast 600 Seiten umfassenden Band mit biografischen Skizzen von jüdischen Juristen und Juristinnen: „Von den 199 Biografien in diesem Buch stellen 161 Biografien Rechtsanwälte und zwei Anwältinnen vor, 30 Biografien sind ausgewählten Referendaren und zwei Jurastudenten beziehungsweise –studentinnen gewidmet, deren Lebenslauf exemplarisch die Zeit der nationalsozialistischen Rassenpolitik in der Justiz verdeutlicht.“

Nach den üblichen einleitenden Bemerkungen und ausgewählten Gesetzesauszügen geht Mauss zunächst auf die Geschichte des Oberlandesgerichtsbezirks Düsseldorf ein, der die Landgerichtsbezirke Düsseldorf, Duisburg, Kleve, Krefeld, Mönchengladbach und Wuppertal umfasst.

Die Vorstellung der einzelnen Personen beginnt mit „A“ wie Siegfried Aron – geboren 1887 in Velbert und verstorben 1945 in Tröbitz/Schipkau auf dem Weg aus dem geräumten KZ Bergen-Belsen nach Theresienstadt – und endet mit „Z“ wie Leo Zuckermann – geboren 1908 in Lublin und mit seinen Eltern 1905 ins Deutsche Reich ausgewandert und verstorben 1983 im Emigrationsland Mexico. Die Zeit dazwischen spiegelt deutsch-deutsche Zeitgeschichte wieder: Als Jugendlicher in die Sozialistische Arbeiterjugend eingetreten, 1931 Referendar im Landgerichtsbezirk Wuppertal und 1932 juristische Promotion, Mitglied der SPD und dann der KPD, 1933 Flucht über Frankreich, New York, wieder Frankreich, Mexiko, Sowjetische Besatzungszone (Leiter der Präsidialkanzlei des Präsidenten Wilhelm Pieck), wegen eines angeblichen Fehlers entlassen, kurz darauf Flucht aus der DDR nach West-Berlin, wieder nach Frankreich und verstorben in Mexiko City.

Zu den Porträtierten mit interessanten Lebenswegen gehört auch Ossip K. Flechtheim (1909-1998), der 1931 als Referendar unter anderem am Amtsgericht Neuss tätig gewesen ist. Er promoviert 1947 an der Universität Heidelberg über die Geschichte der Kommunistischen Partei Deutschlands und wird „Vater der Futurologie“. Zu den eher unbekannt gebliebenen Personen gehört eine der wenigen Frauen, zum Beispiel Charlotte Grünebaum (1910-1957). Sie kann 1933 noch die erste juristische Staatsprüfung ablegen, aber in den Justizdienst aufgenommen wird sie nicht mehr. Grünebaum emigriert 1937 nach New York und 1938 nach Großbritannien und ändert nach der Heirat ihren ehelichen Namen Hachenburg in Hacket. Sie ist bereits mit 47 Jahren in London verstorben. Die mit zahlreichen Fotografien und Dokumenten versehene Publikation „Nicht zugelassen“ ist ein wichtiges Erinnerungswerk zur Geschichte des Nationalsozialismus im Rheinland und der Rechtsanwaltschaft.

Mit einem anderen Aspekt regionaler Geschichte hat sich Christiane Fritsche in ihrer voluminösen Untersuchung befasst und geschafft, auf fast eintausend Seiten die „Arisierung und Wiedergutmachung in Mannheim detailliert nachzuzeichnen“. Die Arbeit gliedert sich in zwei große Abschnitte. Zunächst geht es um die „Arisierung“ in den Jahren 1933 bis 1937 („Verdrängt und diskriminiert“), 1938 bis 1939 („Verkauft und ausgeplündert“) und 1940 bis 1945 („Enteignet und verwertet“). Es wird detailliert dargestellt, wie die mehr als 1.600 Betriebe und 1.250 Grundstücke „arisiert“ worden sind. Bemerkenswert ist unter anderem, dass „die Stadt Mannheim den gegen Juden gerichteten Reichsgesetzen oft einen Schritt voraus war“. Sie nennt die Namen der Akteure, nicht nur der Verfolgten, sondern auch der „Arisierer“ und der „aktiven Opportunisten“. So die Zuschreibung von Johannes Paulmann und Ulrich Nieß, die das Projekt begleitet haben.

Eine wichtige Informationsgrundlage bildeten die Entschädigungsakten. Die Studie fußt auf „100 Einzelfallakten aus dem Bestand Landesamt für Wiedergutmachung Karlsruhe im Generallandesarchiv Karlsruhe“. Daneben wurden 330 Rückerstattungsakten ausgewertet. Die weiteren eingesehenen Unterlagen befinden sich im Bundesarchiv Berlin, zum Beispiel die Überlieferung des ehemaligen Berlin Document Center (Reichskartei der NSDAP und Ortsgruppenkartei) und die erhalten gebliebenen Akten des Reichsfinanzministeriums. Besucht wurden weiterhin zahlreiche Landes-, Gemeinde- und Stadtarchive sowie Internetseiten.

Durchgesehen hat Fritsche auch die Mannheimer NSDAP-Zeitung „Hakenkreuzbanner“, die eine treibende Rolle eingenommen hat und zum Beispiel „praktische Tipps“ gegeben hat: Falls die Ehefrau eines Parteigenossen weiterhin in jüdischen Geschäften kaufe, „solle man der renitenten Gattin das Haushaltsgeld kürzen mit der Begründung: ,Wenn Du zum Juden läufst, weil er angeblich billiger ist, dann brauchst Du auch nicht so viel Haushaltsgeld, als wenn Du bei einem anständigen deutschen Kaufmann kaufst‘“. Ausführlich dargestellt wird die finanzielle Ausplünderung der Mannheimer Judenheit im Zusammenspiel von Finanzbehörden mit Polizei und Post, Notariaten und Handelskammer, NSDAP und Privatpersonen. Erschreckend ist, wie „mit einer nahezu atemberaubenden Geschwindigkeit […] weite Teile der Bevölkerung“ diese Ereignisse akzeptiert und sich daran beteiligt haben.

Im zweiten großen Abschnitt wird die „Wiedergutmachung“ zur Sprache gebracht. Zunächst erinnert Fritsche an in Mannheim überlebende und auf dem Erdball verstreute Mannheimerinnen und Mannheimer. Dann geht sie auf die Restitution und Entschädigung ein. Die Darstellung wird durch 26 Exkurse „aufgelockert“, in denen der biografische Hintergrund der dargestellten Verfolgungsmaßnahmen zur Sprache gebracht wird. Andere Exkurse befassen sich mit der „Arisierung“ von Unternehmen, zum Beispiel der von den beiden Brüdern Jacob und Hermann Hecht 1908 in Mannheim gegründeten Spedition Rhenania. Hermann Hecht ist es nach dem Ende des Nationalsozialismus gelungen – ein seltenes Beispiel – den Konzern wieder zu übernehmen.

Zu den bemerkenswerten Erkenntnissen von Fritsche gehört die festgestellte Tatsache, dass die meisten „arisierten“ Betriebe auch nach der Rückerstattung in den Händen der „Arisierer“ geblieben sind. „Damit wurden in ganz Deutschland die durch das Unrecht der Arisierungen geschaffenen Besitzverhältnisse zementiert“ – und sie sind es offenbar geblieben.

Die mit mehreren Fotografien und Abbildungen von Dokumenten versehene Untersuchung ist zwar bezogen auf Mannheim, sie ermöglicht aber – auch durch zahlreiche Verweise auf analoge Entwicklungen andernorts und andere (heutige) Bundesländer – viele Vergleichsmöglichkeiten. Die lesenswerte Studie wird mit einem persönlichen Resümee abgeschlossen. Darin erinnert sich Fritsche zum Beispiel an ihre Berührung, als aus einer Wiedergutmachungsakte ein „Judenstern“ herausrutschte und die „besondere Erfahrung“: ein Treffen mit der Tochter eines Mannheimer Juden.

Mit „Arisierungen“ und Täterschaft hat sich auch die gelernte Bankkauffrau und praktizierende Revisorin Ute Pothmann auseinandergesetzt. In ihrer 2011 an der Ruhr-Universität Bochum abgeschlossenen wirtschaftshistorischen Dissertation über die Deutsche Revisions- und Treuhand AG (Treuarbeit) kann sie im Detail nachweisen: Die ethischen Grundsätze der Wirtschaftsprüfung – Unabhängigkeit, Verschwiegenheit, Gewissenhaftigkeit, Eigenverantwortlichkeit, Unparteilichkeit – sind in der NS-Zeit dem verbrecherischen NS-Regime geopfert worden.

Die Historikerin hat ihre Studie in drei große Kapitel gegliedert: Nach der Darstellung der Entwicklung der Treuhandgesellschaften geht sie auf die Geschichte der Treuarbeit, ihr Personal, ihre Organisation und die Geschäftstätigkeit ein. „Bereits in Deutschland hatte die Treuarbeit bei der Prüfung jüdischer Unternehmen rassistische Kriterien in betriebswirtschaftliche Bewertungen umgesetzt und Wünsche regionaler NS-Parteiinstanzen vorbehaltlos unterstützt.“ Dies gilt umso mehr für die Ergebnisse der Analyse der prüferischen und treuhänderischen Tätigkeiten im Hauptkapitel. Sie ergibt den Nachweis der Täterschaft des Treuhandpersonals in den von Deutschland beherrschten Staaten Europas (Österreich, Sudetenland, Frankreich, Belgien, Niederlande, Norwegen und Ukraine). Insbesondere hat die Treuarbeit in diesen Ländern bei den „Arisierungen“ jüdischer Unternehmen die genannten ethischen Grundsätze nicht angewandt und zur „Etablierung nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik“ beigetragen.

Mit deutlichen Worten stellt Pothmann fest: Die Treuarbeit hat „ihre Prüfungsexpertise in den Dienst wirtschaftlichter Existenzvernichtung von Juden“ gestellt. Dieses Prozedere wäre noch für die bisher unbekannte Geschichte der übrigen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und Wirtschaftsprüfer zu untersuchen. Nach 1945 blieben die Vorstandsmitglieder – von einer Ausnahme abgesehen – weiterhin erfolgreich und gesellschaftlich anerkannt. Dem Schlusssatz der sehr verdienstvollen Untersuchung über die zum Ende des „Dritten Reiches“ größte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft im besetzten Europa ist zuzustimmen: „Das NS-Regime bedeutete für die Treuarbeit in berufsethischer Hinsicht eine Prüfung, die sie nicht bestanden hat.“

Was wäre die Erforschung der Geschichte des Nationalsozialismus ohne wissenschaftliche Qualifizierungsarbeiten? Ihre Bedeutung verdeutlicht einmal mehr die Habilitationsschrift von Edith Raim. Sie hat an einer Datenbank des Instituts für Zeitgeschichte „Die Verfolgung von NS-Verbrechen durch westdeutsche Justizbehörden seit 1945“ mitgearbeitet, in der alle Strafverfahrensakten zu dem Thema erfasst worden sind. Auf dieser Grundlage hat sie „Wiederaufbau und Ahndung von NS-Verbrechen in Westdeutschland 1945-1949“ untersucht. Das Ergebnis ihrer Arbeit ist im Sommersemester 2012 an der Universität Augsburg für ihre Habilitation eingereicht worden.

Ihre umfangreiche Darstellung gliedert sich in zwei große Teile: Zu Beginn stellt sie auf rund 500 Seiten den Wiederaufbau der deutschen Justiz in den Westzonen unter alliierter Aufsicht zwischen 1945 und 1949 dar. Im Anschluss geht sie auf den Beginn der Verfolgung nationalsozialistischer Gewalttaten in der amerikanischen, britischen und französischen Besatzungszone ein.

Etwa in der Mitte des 1237 Seiten umfassenden Werkes beginnt sie mit der Rekonstruktion antisemitischer Gewalttaten und der juristischen Ahndung dieser NS-Verbrechen. In ausführlichen Falldarstellungen beschreibt sie die – für die justizielle Ahndung relevanten – Ereignisse: Es beginnt mit Tötungsverbrechen am Beginn der NS-Herrschaft, Verbrechen an jüdischen Verfolgten und Verfolgung wegen „Rassenschande“, setzt sich in Ausschreitungen vor und nach den Novemberpogromen und anderen Verbrechen fort und endet mit der Schändung jüdischer Friedhöfe. Der Inhalt der Anklage- und Urteilsschriften wird ebenso ausführlich referiert wie aus den in Gerichtsakten beiliegenden Dokumenten zitiert wird – zum Beispiel Erinnerungen jüdischer Emigranten. Aus der Form der Darstellung ergibt sich ein lebendiges – wenn auch nicht immer widerspruchsfreies – Bild des jeweiligen Geschehens. Eventuell vorhandene Sekundärliteratur ist in der Regel nicht herangezogen worden – dann wäre wohl der Umfang der Studie ins Unermessliche angewachsen.

In einem weiteren Kapitel geht Raim auf die Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“ ein. Sie beginnt mit den frühen Verbrechen gegen politische Gegner 1933 einschließlich Prangermärschen und endet mit den Verbrechen in der Endphase des „Dritten Reiches“ 1944/45. Einer besonderen Betrachtung unterzieht sie die antijüdischen Pogrome im November 1938. Ausführlich wird auf die Täter (Herkunft, Alter, Berufe, Geschlecht und Rechtfertigungsversuche) und die Ahndung der Pogromverbrechen nach 1945 eingegangen und untersucht, inwiefern den Landgerichten die Aufklärung der Tötungen bei den Pogromen gelungen ist.

Als weitere Verbrechenskomplexe geht Raim auf die Ahndung von Denunziationen, Straftaten in Konzentrationslagern, Zwangssterilisierungen, „Euthanasie“, Deportationen in Konzentrationslager und den Beginn der Ahndung der Massenvernichtungsverbrechen in den vom nationalsozialistischen Deutschland besetzten Gebieten ein.

In ihrem Schlusswort erinnert sie an die „außerordentlich wohlwollende […] Haltung der Besatzungsmächte gegenüber der deutschen Justiz“ und deren Beharren, selbst den Tätern jene Rechtsstaatlichkeit zukommen zu lassen, die diese ihren Opfern verweigerten“. Als einen erstaunlichen Befund stellt sie fest, „dass es so viele strafrechtliche Verfahren in der Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland gegeben hat,“ deren erste schon kurz nach dem Ende der Kampfhandlungen begonnen haben. Die oft mit „ernsthafter Anstrengung“ begonnenen Ermittlungen erlahmten jedoch bald: unerfahrene Polizei, Schwierigkeiten bei der Suche nach Beschuldigten und ungünstige Arbeitsbedingungen der Justizbehörden: dazu zählen der Mangel an Glühbirnen und fehlende Heizmöglichkeiten ebenso wie Personalknappheit oder Mangelernährung.

Gegenüber den bis heute medial deutlich präsenteren alliierten Verfahren entfalteten die deutschen NS-Strafprozesse der 1940er-Jahre „keine vergleichbare Wirkmächtigkeit.“ Für diese wichtige Phase der juristischen Aufarbeitung der Vergangenheit kann die folgende Feststellung über die örtlichen Verbrechen als ein wichtiges Fazit gelten: „Die Täter waren örtliche Honoratioren, Arbeitskollegen, Bekannte, Freunde, Nachbarn, Familie: der SA-Hilfspolizist, der politische Gegner in Schutzhaft genommen und misshandelt hatte, der Arzt, der in Krankenhäusern Sterilisierungen bei Erbkranken und sogenannten Zigeunermischlingen durchgeführt hatte, der NSDAP-Funktionär, der Frauen wegen ihren Beziehungen zu Fremdarbeitern die Haare scheren ließ, der Nachbar, der den Juden nebenan zum Grundstücksverkauf genötigt hatte, die Denunziantin, die einen Untermieter an die Gestapo ausgeliefert hatte, der Arbeitsamtsangehörige, der Juden von der Zwangsarbeit freigestellt hatte, damit sie deportiert werden konnten, der Gastwirt, der den jüdischen Friedhof nach der Deportation der letzten ortsansässigen Juden als Hühnerhof benutzte, der NSDAP-Kreisleiter, der den Landrat erschießen ließ – all dass machte deutlich, wie viele Menschen sich an den Straftaten beteiligt hatten.“ Zur guten Lesbarkeit trägt die offenbare Neigung der Autorin zur Literatur bei, mit der sie Zitate von Lion Feuchtwanger, Franz Kafka und vielen anderen in ihren Text eingebaut hat. Ein (offenbar nicht vollständiges) Personenregister steht am Ende des Bandes.

Um Verbrechen und Gewalt geht es auch bei der letzten anzuzeigenden Studie. Als sich der Untergang des „Dritten Reiches“ immer deutlicher abzeichnet, ist die „Volksgemeinschaft am Ende“. Mit diesem Titel veröffentlicht Sven Keller seine 2010 an der Universität Augsburg abgeschlossene Dissertation „Gesellschaft und Gewalt – NS-Verbrechen in der Endphase des Zweiten Weltkrieges“. Buchstäblich in letzter Minute müssen tausende von Menschen mit ihrem Leben bezahlen, weil sie das Ende des Krieges herbeigesehnt haben oder ihre Mörder in ihrem Wahn nicht wahrhaben wollten, dass die „Volksgemeinschaft am Ende“ war.

In sieben Schritten untersucht Keller die Gewaltexzesse 1944/45: Er beginnt mit einem Überblick über die Verbrechen der Endphase und erläutert die Quellengrundlage seiner Arbeit: im Wesentlichen Strafurteile der Nachkriegsjustiz. Anschließend wird das NS-Krisenmanagement am Beispiel verbrecherischer Aktivitäten der Gauleiter und der NSDAP-Funktionäre beschrieben: Die Gauleiter agieren als Reichsverteidigungskommissare und gehören damit zu dem „Heer von Beauftragten, Generalinspektoren, Reichskommissaren und Sonderbevollmächtigten“ der NSDAP. Sie setzen zivile Standgerichte ein, bei denen „in der Praxis von der bestenfalls dürftigen Rechtsförmigkeit der Verfahren kaum etwas übrig“ blieb. Diese NS-Parteigenossen sind für viele Todesurteile verantwortlich – also Mörder.

Die nationalsozialistischen Verteidiger hatten keine Strategie, die ihnen angesichts der Übermacht der Alliierten und der zunehmenden NS-Müdigkeit der Bevölkerung auch wenig genutzt hätte. Im Untergang zeigten sich häufig Inszenierungen, die bis zum Suizid gehen konnten.

Die Gewalt in der Endphase des NS-Staates richtete sich gegen (auch vermeintliche) Feinde im Innern. Zur Brutalisierung haben entsprechende Erfahrungen der Täter in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten erheblich beigetragen: Wer beispielsweise schon in einer Einsatzgruppe massenhaft gemordet hatte, mordete mit wenig Hemmungen auch in der Heimat. Aber selbst der Schein der Rechtsförmigkeit durch Standgerichte ist in vielen Fällen nicht aufrechterhalten worden und individueller und irrationaler Gewalt gewichen. Dies ist das Thema des letzten Kapitels, in dem Keller nach dem „Sinn“ der vernunftlosen Gewaltexzesse fragt.

Die NS-Gesellschaft hat sich in eine „Untergangs- und Überlebensgesellschaft“ gewandelt. Die Bevölkerung wird zum „Mitwisser, ja Komplizen an den Massenverbrechen“ an der Heimatfront. „Die Aufforderung, ohne Umstände von der Waffe Gebrauch zu machen und umgehend zu schießen, wurde gängige Anweisung in Befehlen“. Die so mit lebensgefährlicher Entscheidungsmacht versehenen Parteigenossen „wussten, was von ihnen erwartet wurde – dass sich viele dennoch anders und vernünftig verhielten, widerspricht dem nicht“. Hier zeigt sich eine der Stärken der Arbeit von Sven Keller: Seine Differenzierung verdeutlicht, dass es nicht nur die eine Möglichkeit – das Morden – gegeben hat, sondern auch das Nichtmorden.

Die aktive Gewalt ist überwiegend von Männern ausgeübt worden, aber Frauen sind durchaus an Endphasenverbrechen beteiligt gewesen, „etwa in dem sie Deserteure, Zwangsarbeiter oder Häftlinge denunzierten, die daraufhin getötet wurden.“ Umgekehrt haben sich Frauen in großer Zahl an kollektiven Aktionsformen wie Demonstrationen für eine kampflose Übergabe beteiligt.

Die hier besprochenen Veröffentlichungen bringen viele bisher unbekannte Facetten der Geschichte des nationalsozialistischen Deutschlands ans Licht und beschreiben unterschiedliche Formen von Gewaltausübung. Sie bringen die Zeitgeschichtsforschung weiter voran und regen oft zu neuen Forschungsthemen an.

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Christiane Fritsche: Ausgeplündert, zurückerstattet und entschädigt. Arisierung und Wiedergutmachung in Mannheim.
Verlag Regionalkultur, Heidelberg 2013.
960 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783897357723

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Christiane Kuller: Bürokratie und Verbrechen. Antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis im nationalsozialistischen Deutschland.
Oldenbourg Verlag, München 2013.
480 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783486716597

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Benjamin Ortmeyer: Indoktrination. Rassismus und Antisemitismus in der Nazi-Schülerzeitschrift "Hilf mit!" (1933 - 1944) - Analyse und Dokumente -.
Unter Mitarbet von Katharina Rhein.
Juventa Verlag, Weinheim ; Basel 2013.
152 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783779928898

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Edith Raim: Justiz zwischen Diktatur und Demokratie. Wiederaufbau und Ahndung von NS-Verbrechen in Westdeutschland 1945-1949.
Oldenbourg Verlag, München 2013.
1200 Seiten, 148,00 EUR.
ISBN-13: 9783486704112

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Sybille Steinbacher / Birthe Kundrus (Hg.): Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Der Nationalsozialismus in der Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
206 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783835313026

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Susanne Mauss: Nicht zugelassen. Die jüdischen Rechtsanwälte im Oberlandesbezirk Düsseldorf 1933–1945.
Klartext Verlagsgesellschaft, Essen, Ruhr 2013.
594 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783837507348

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Sven Keller: Volksgemeinschaft am Ende. Gesellschaft und Gewalt 1944/45.
Oldenbourg Verlag, München 2013.
497 Seiten, 59,95 EUR.
ISBN-13: 9783486725704

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Ute Pothmann: Wirtschaftsprüfung im Nationalsozialismus. Die Deutsche Revisions- und Treuhand AG 1933–1945.
Klartext Verlagsgesellschaft, Essen 2013.
312 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783837509854

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