Im Zentrum der Kultur
Doerte Bischoffs Monografie über poetischen Fetischismus und den Kult der Dinge im 19. Jahrhundert
Von Franziska Bergmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn jüngster Zeit erfährt die materielle Seite von Kultur großes Interesse in den Geisteswissenschaften. Dabei rückt insbesondere die Frage nach der Welt der Dinge in den Fokus. Wurden Forschungen zur Bedeutung von Dingen für Gesellschaften der Vergangenheit und Gegenwart zunächst durch die Ethnologie, die Kulturanthropologie und die Archäologie geprägt, finden sich inzwischen auch zunehmend Studien aus dem Bereich der Literatur-, Film- oder Bildwissenschaften; Disziplinen also, die sich nicht mit realen Artefakten befassen, sondern vor allem Repräsentationen und imaginäre Entwürfe von Dingen in den Blick nehmen.
Eine Untersuchung, die jüngst erschienen ist und das Potenzial hat, zu einem Standardwerk literaturwissenschaftlicher Dingforschung zu werden, ist Doerte Bischoffs Monografie „Poetischer Fetischismus. Der Kult der Dinge im 19. Jahrhundert“. Im Anschluss an Walter Benjamins „Passagen-Werk“ legt Bischoff ihrer Studie die Prämisse zugrunde, dass sich die „Physiognomie der Moderne in den Dingwelten des 19. Jahrhunderts“ ablesen lässt, gilt das 19. Jahrhundert doch als eines, in dem sich die Objekte, mit denen man sich fortan in Westeuropa umgeben konnte, auf bisher nie gekannte Weise durch Industrialisierung, kapitalistischen Warenverkehr oder den anwachsenden Handel mit Produkten aus den Kolonien vermehrt haben. Ähnlich wie Hartmut Böhme in seiner einflussreichen Arbeit „Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne“ geht Bischoff davon aus, dass der moderne Umgang mit Dingen keineswegs nur einem aufgeklärten Prinzip unterworfen ist, sondern maßgeblich auch irrationale Dimensionen anzunehmen vermag. Dadurch entspricht die moderne Dingbeziehung in vielerlei Hinsicht jenen Praktiken, die in Westeuropa unter dem Begriff des Fetischismus vorzugsweise vermeintlich primitiven Kulturen oder perversen Individuen zugeschrieben wurden.
Literarische Texte, so zeigt Bischoff in ihrer luziden Studie auf, sind ein bedeutsames Medium, in dem das „Jahrhundert der Dinge“ mit seinem verdrängten fetischistischen Denken auf komplexe Weise reflektiert und verhandelt wird. Methodisch überzeugt die Studie vor allem deshalb, weil Bischoff ihre präzisen Lektüren von bekannteren und weniger bekannten Texten kanonischer Autoren (etwa Goethe, Hoffmann, Achim von Arnim, Stifter, Grillparzer oder Keller) im Sinne eines diskursanalytischen Vorgehens auf dialogische Weise mit wissenschaftlichen Diskursen aus dem Bereich der Ethnologie, des Materialismus und der Psychoanalyse über den Fetischismus verschränkt. Dadurch gelingt es Bischoff darzulegen, dass die Literatur auf vielschichtige Weise an der Wissensproduktion über Fetische und fetischistische Praktiken teilhat, und zwar nicht nur indem sie auf existierende Wissensbestände zurückgreift, sondern mitunter auch Aspekte des Fetischismus verhandelt, die sich erst zu einem späteren Zeitpunkt als konkretes Wissensfeld formieren.
Eine instruktive Lektüre von Kellers „Die Berlocken“ legt Bischoff im Kapitel „Das ‚Abwandeln‘ der Narrative: Übertragung von Fetischen und Historisierung von Fetisch-Diskursen in Kellers ‚Die Berlocken’“ vor, das hier exemplarisch beleuchtet sei. In dem Kapitel wird aufgezeigt, dass sich Kellers Novelle aus dem Zyklus „Das Sinngedicht“ als konzise Strukturanalyse verschiedener europäischer Fetischismusdiskurse verstehen lässt. So enthalte die Novelle Elemente anthropologischer und ökonomischer Fetischkonzepte, antizipiere aber auch Modelle des Fetischs, wie sie später im Rahmen der Psychoanalyse Freuds, Lacans oder Žižeks ausgearbeitet wurden. Die strukturanalytische Dimension, die Bischoff der Novelle hinsichtlich der Frage nach der polyvalenten Bedeutung und Theoretisierung des Fetischismus attestiert, ermögliche es Keller auf brisante Weise, Paradoxien, Ambivalenzen und Brüche europäischer Subjektivitätsentwürfe im 19. Jahrhundert herauszustellen; Entwürfe, denen maßgeblich koloniale und patriarchale Phantasien zugrunde lägen.
Mit dem Dingmotiv der titelgebenden Berlocken, auf die sich das fetischistische Begehren des Protagonisten Thibaut – Soldat zur Zeit der französischen Revolution – richtet, verweise die Novelle nachdrücklich auf eine zur Disposition stehende Maskulinität. Bischoff zufolge kommt in den Berlocken einerseits der Versuch des Protagonisten zum Ausdruck, seine männliche Identität zu stabilisieren, indem er sich zahlreicher Schmuckstücke schöner Frauen bemächtigt in der Hoffnung, darin materialisiere sich die weibliche Liebe zu ihm, „die Substanz, das Herz des Anderen“. Andererseits durchkreuzten die Berlocken ebendiese Männlichkeitskonzeption, weil die ostentative Zurschaustellung der trophäenartigen Dinge durch Thibaut einem bürgerlichen Geschlechterdiskurs zuwiderlaufe, der in Abgrenzung zum Ancien Régime Schmuck als Zeichen des effeminierten Adels diskreditiert, wodurch sich die vermeintlichen, von Thibaut am Körper getragenen Liebesgaben nicht mit der Idee einer authentisch-unmarkierten Männlichkeit zur Deckung bringen ließen.
Besonders deutlich werden die Berlocken als Zeichen instabiler Identität in der vom kolonialen Begehren Europas grundierten Begegnung Thibauts mit der Indianerin Quoneschi in Amerika. Beeinflusst vom Denken Rousseaus, malt sich Thibaut aus, in der Indianerin die Verkörperung einer ‚edlen Wilden‘ aufzufinden, um sie zu heiraten und sie als besonders extravagantes Schmuckstück seiner Sammlung der Pariser Gesellschaft präsentieren zu können. Keller verweist laut Bischoff in den Amerika-Szenen nicht nur auf die Widersprüchlichkeit der Aufklärung – obwohl Thibaut und seine Gefolgsleute in humanistischer Absicht in die Neue Welt reisen, werden die Ureinwohner/innen, wie die Metaphorik des Textes indiziert, von den französischen Revolutionären als tierähnliche Tauschobjekte wahrgenommen. Zugleich betont Bischoff, dass die Novelle Quoneschi als Figur entwirft, welche die klare Grenzziehung zwischen europäischem Eigenen und exotisch Fremdem irritiert. Quoneschis energischer Wunsch, in den Besitz von Thibauts Berlocken zu gelangen, lasse sich vom europäischen Selbst nicht als primitiver Dingbezug, als Zeichen radikaler Alterität abspalten. Vielmehr spiegele die Figur Thibauts eigenes fetischistisches Begehren, wodurch die Indianerin dem Europäer auf unheimliche Weise ähnlich werde.
Nicht nur die „Berlocken“-Lektüre, auch die anderen Textanalysen in Bischoffs wegweisender Studie machen deutlich, dass der fetischistische Dingbezug ein wesentliches Motiv der Literatur des 19. Jahrhunderts bildet. Dabei fungiert die Literatur als ein Medium, das auf kritische Weise jene Theoreme hinterfragt, die darum bemüht sind, den Fetischismus seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an den Rändern der Kultur anzusiedeln. Wie Bischoff überzeugend aufzeigt, gelingt es der erzählenden Literatur, die Verfahren, mit denen sich das europäische Subjekt von vermeintlich vormodernen Dingbezügen zu distanzieren versucht, auf vielschichtige Weise und im steten Dialog mit diversen wissenschaftlichen Diskursen eindringlich vor Augen zu führen.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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