Von Politischem und Privatem

Arthur Larrue ermöglicht mit seinem Debütroman „Wojna“ einen authentischen Einblick ins Russland der Putin-Ära

Von Rebecca JunglasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rebecca Junglas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das politisch-gesellschaftliche Porträt des zeitgenössischen Russland in Form eines Romans zu entwerfen, ist ein kühnes Vorhaben. Dieses Vorhaben auf kaum mehr als 100 Seiten umzusetzen, ist umso kühner. Doch genau an dieses Experiment wagt sich der Franzose Arthur Larrue mit „Wojna“ (im Original „Partir en Guerre“), in diesem Jahr in deutscher Übersetzung bei Wagenbach erschienen, heran.

Wer also bei einem Roman mit Namen „Wojna“ (dt. „Krieg“) das bildgewaltige Monumentalepos des großen Meisters der russischen Erzählkunst vor Augen hat, wird (zumindest vom Umfang des Werkes) enttäuscht sein.

Eine einzige verregnete Herbstnacht in Sankt Petersburg bildet den Rahmen der Erzählung, zu deren Beginn sich eine der realen Person Larrue nicht unähnlich scheinende Erzählerfigur aufmacht, in der leerstehenden Wohnung einer Freundin zu übernachten. Die Wohnung aber findet er nicht leer, sondern besetzt von der anarchisch gegen die russische Staatsmacht agierenden Künstlergruppe Wojna, die sich dort (ironischerweise handelt es sich ausgerechnet um eine Wohnung in der Mirstraße) eingenistet hat.

Der Leser wird für die Dauer besagter Nacht zum Zeugen des Lebens im Untergrund, das die Mitglieder von Wojna führen. Und dieses Leben gleicht durchaus einem Leben im Zustand des Krieges: keine digitalen Kommunikationsmittel, keine Wintermäntel, nicht einmal genügend saubere Unterwäsche gibt es da.

Auf der reinen Handlungsebene passiert nicht eigentlich viel. Die vier Aktivisten, inklusive Kleinkind Kasper, essen gemeinsam das, was eben gerade da ist, rasieren sich Bärte ab, weil sie jede Woche ihr Äußeres verändern müssen, um nicht Gefahr zu laufen, verhaftet  zu werden, und schmieden Pläne. Teilweise sind die Szenen, wie Larrue in seiner Vorbemerkung anklingen lässt, mehr oder weniger unverändert der Realität entlehnt, was sie dem Leser umso erschreckend glaubwürdiger erscheinen lässt.

In welchem Krieg sich die Künstler befinden, wird bald deutlich: Eigenständiges Denken ist in ihrem „Land der Möglichkeiten“, so eine Bezeichnung Putins, nicht erwünscht. Wer damit beginnt, wird zum Gejagten. Der Staat wird aufrechterhalten durch das Prinzip der Schreckensherrschaft. Und den Tyrannen dieses Systems will Wojna ihre Allmacht streitig machen, indem sie verhöhnt und ins Lächerliche gezogen werden soll.

Diese Staatsmacht wird im Roman repräsentiert von Sergeant Komarow, der eine schlaflose Nacht in seinem Büro verbringt, weil er dazu abkommandiert ist, für die Zerschlagung der Gruppe Wojna zu sorgen, obwohl doch eine heimliche Sympathie seinerseits für deren Aktionskunst erkennbar wird.

Eine zweite Widersacherin Wojnas ist die sich sehnsüchtig an Sowjetzeiten zurückerinnernde Anna Zobonka, die auf ihre Weise ebenfalls eine typische Repräsentantin des Landes ist, eine, deren Stolz und Selbstwertgefühl zeitgleich mit der UdSSR dahinschwinden mussten. Sie nun beobachtet in dieser Nacht Wojna durch das Fenster ihrer Küche. „Ihr Fenster zur Welt befand sich in einem toten Winkel, zwischen zwei Schatten eingezwängt.“

Larrues Sprache ist einfach, ohne sich ins Dumpfe zu verirren, ebenso wie seine – größtenteils chronologische - Erzählweise. In seinen wirkungsvollen Momenten schafft es der Roman, die Aktionen Wojnas in eine Sprache zu kleiden, die deren Balance aus Komik und Ernst, aus Nonsens und politischem Statement kongenial widergibt. So heißt es in Bezug auf den riesenhaften 65 Meter-Phallus, den Wojna – auch außerhalb der fiktiven Welt des Romans – auf eine Petersburger Zugbrücke konterfeite: „Schon der Wahnsinn, dieser Penis, der direkt vor den Büros der Polizei aufragte und so die Staatsmacht herausforderte. Wojna hatte das Herzstück der russischen Krankheit verhöhnt. Wojna hatte einem Penis einen anderen entgegengestellt. Wojna hatte zwei brunftige Gorillas aufeinanderprallen lassen.“

Verweise auf andere, ebenfalls vor dem Zeitraum des Erzählten angesiedelte Aktionen des Künstlerkollektivs, dessen Kampf gegen die russische Regierung ausdrücklich gewaltfrei geschehen soll, verbleiben jedoch auf der Ebene reiner Nacherzählung und ihr etwaiger Sinn bleibt undurchsichtig. Inwiefern, so könnte sich der ein oder andere Leser fragen, macht es das Establishment lächerlich, wenn eine Dichterin namens Lena ein rohes Hühnchen klaut, indem sie es sich in die Vagina einführt?

Vereinzelt - interessanterweise sind es diejenigen Stellen, an denen die Fiktion am erkennbarsten überwiegt - leuchten schließlich kunstfertig illustrierte, das erzählerische Potential Larrues andeutende Miniaturszenen auf: Etwa, wenn der Sergeant Komarow beim Anblick des Bildes seiner – einst so geliebten – Tochter , offenbar in russischer Tracht, plötzlich und ohne erkennbaren Grund von blankem Ekel übermannt wird. Oder wenn die verrückte Alte Anna Zobonka die Erinnerung an zwei Männer, die einzigen, mit denen sie je schlief und von denen sie einst misshandelt wurde, in Form von langsam verwesenden Fleischkonserven in ihrem Vorratsschrank bewahrt. Mit dem festen Vorhaben, eines Tages ihre Abscheu zu überwinden und sich die Konserven endlich zu Gemüte zu führen.

Es wäre lohnenswert gewesen, solchen Figuren und ihrer Zerrissenheit, die sich (auch in Bezug auf ihr Land) an wenigen Stellen andeutet, mehr Raum und somit Tiefe zu verleihen.

„In Russland kratzt man früh ab, aber dafür ist es nie langweilig.“ – Larrue oder vielmehr die von ihm entworfenen Figuren scheuen sich nicht, mit „diesem verfickten Land“ scharf ins Gericht zu gehen. Schmutzig, kalt und unwirtlich werden seine Umrisse gezeichnet. So unwirtlich, dass hier nicht einmal Basilikum recht gedeihen mag und das Petersburger Leitungswasser die, die es trinken, auf Lebenszeit inkontinent werden lässt. Es ist ein Land, in dem Homosexuelle geächtet und Frauen zu Gebärmaschinen degradiert, nach ihrem „Borschtsch, ihrem Becken und ihren Fähigkeiten beim Schwanzlutschen“ beurteilt werden.

Den teils über die Grenze des Vulgären hinausgehenden Tonfall des Originals übermittelt die deutsche Übersetzung von Max Stadler treffend, ohne gekünstelt zu wirken. Bis auf wenige Kleinigkeiten – wie etwa, dass aus einem „sablé nantais“ des Originals im Deutschen ein, wenn auch bretonischer, „Butterkeks“ wird, der beim deutschen Leser nicht die intendierte Assoziation des Kreisförmigen hervorruft – liegt hier eine durchaus gelungene Übersetzung vor. So hat der deutsche Leser auch das Glück, dass der Name der Künstlergruppe „Wojna“ von Stadler wieder ins Russische rückübersetzt wurde, wird sie dem französischen Leser doch durchgängig, sich anpassend, als „Guerre“ präsentiert. Da hätte Larrue seinen Lesern ruhig etwas mehr Reflexionsvermögen zutrauen können.

Ein weiterer geschickter Kniff des Übersetzers besteht darin, aus den „chéries“, wie Larrue sie bezeichnet, „Täubchen“ werden zu lassen, die dem deutschen Leser als gängige russische Koseform, vor allem aus der Übertragung der Werke Tschechows ins Deutsche, bekannt sein dürften.

Angenehm ist auch der Ausgang des Romans, der nicht zum illusionistischen Märchen ausartet, sondern mit der angedeuteten Zerschlagung Wojnas – aus reiner Verbitterung verraten von Anna Zobonka - schließt.

„Für Mut bezahlt man mit einem Teil seiner selbst“, heißt es in diesem Kontext. Das hat Larrue, der tatsächlich einige Monate mit den Künstlern im Untergrund gelebt hat, nach der Veröffentlichung von „Wojna“ auch am eigenen Leib erfahren müssen: Nicht nur seine Stelle als Dozent an der Petersburger Universität wurde ihm gekündigt, auch seine Aufenthaltsgenehmigung für das Land hat er verloren. Schon allein vor diesem Hintergrund ist die Lektüre lohnenswert.

„Wojna“ ist mit Sicherheit kein Roman, der mit erzähltechnisch-stilistischen Neuerungen aufwartet oder eine schillernd virtuose Sprache birgt. Dennoch ist dieser Roman lesenswert, weil er den Blick (wenn man auch immer einbeziehen sollte, dass dieser Blick aus einem bestimmten Winkel heraus geworfen wird) auf ein „Land, das von Angst zerfressen ist“ und dessen innere Strukturen im Westen auf viel Verwirrung stoßen, in einer Weise offenlegt, in der kein Nachrichtenmagazin und keine Zeitung, nur die Kunst, die Literatur es vermag. Indem nämlich, das Private mit dem Politischen geschickt verwoben, im Kopf des Lesers aus dem Parti ein Totum wird.

Dieses Ganze, so wird manch ein Leser wünschen, hätte noch ein wenig umfangreicher sein können, doch vielleicht kann man Larrue, was das betrifft, zugutehalten, dass es so bald womöglich keinen Frieden geben wird.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Arthur Larrue: Wojna. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Max Stadler.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2014.
103 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783803132604

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