Weltprozess nach dem Hiatus
Über Peter Sloterdijks „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne“
Von Roman Halfmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseGroß war die Enttäuschung eines Lesers, der sich von dem hier zu besprechenden Werk des ehemaligen Fernsehphilosophen und nun in den Status des Tagebuch schreibenden Nachdenkers über deutsche Befindlichkeiten aufgerückten Sloterdijk tatsächlich zu erfahren erhoffte, warum unsere Kinder so schrecklich sind: Denn schrecklich seien sie ja fraglos. Frage sich nur, warum sie es sind. Sloterdijk jedenfalls, so der Leser in der Folge so wütend, dass er seiner Wut in einer Amazon-Rezension (eine 1-Punkt-aber-nur-weil-0-nicht-geht-Bewertung) Luft machen musste, gebe keine Antwort, sondern nur Kauderwelsch von sich.
Der letzte Vorwurf des Kauderwelschens zumindest überrascht, kennt man doch seinen Sloterdijk und weiß also bereits vor der Lektüre, was einen erwartet: Sinnlos anmutende Abschweifungen im selbstverliebten Gestus des gebildeten Philosophen, der mehr Fremdwörter kennt als jeder andere, in unheiliger Allianz gepaart mit einem künstlerischen Anspruch, der zu einigen Kapriolen auf Kosten der Logik und einem, zugegeben, manchmal geradezu unerträglichen Geschwurbel führt. Beispiele? Okay, zwei bringe ich, die mich schaudern ließen: Da wird Kafkas Brief an den Vater zu einem „Hiroshima des genealogischen Intervalls“ und die griechische Mythologie ist „der archaische Jazz vom Chaos“. Dass dieser Stil die Argumentation beeinträchtigt, ist Sloterdijk schon so oft zum Vorwurf gemacht worden, da lohnt sich eigentlich kein Kommentar mehr. Man kennt ihn halt. Besagter Amazon-Leser wohl aber eher nicht, der sich daher im Zustand der Unschuld diesem Ungetüm von Buch gegenübersah – das kann man durchaus als sträflich naiv kritisieren.
So naiv also die Annahme, Sloterdijk könne oder wolle eine Frage wahrhaftig allgemeinverständlich beantworten, so gnadenvoll ist es letztlich, hat der werte Leser nicht nur nicht verstanden, warum nun die Kinder seiner Generation so schrecklich sind, sondern gleichfalls nicht nachvollziehen können, dass nicht nur die Kinder es sind, sondern sehr wahrscheinlich auch er selbst. Touché.
1.
Denn schrecklich seien ja, wie der Titel bereits aussagt, die Kinder der Neuzeit, der Moderne also, und damit alles, was hier so kreucht und fleucht. Und schrecklich sind sie, letztlich wir, da wir den kultur- sowie generationenstiftenden Kopiervorgang nicht mehr so vollziehen, wie dies vorher noch anstandslos getan wurde: „Frühe ‚Kulturen‘ […] erleben die unverhandelbare Notwendigkeit ihres Daseins in der von ihnen selbst generierten und ihren Teilnehmern ungefragt aufgedrungenen Überzeugung, daß die Lebensweise, die den Mitgliedern des Kollektivs eingeprägt wurde, es unter allen Umständen verdient, im Dasein der Nachkommen wiederholt zu werden. Wer einer Kultur in diesem Sinn ‚angehört‘, muß sich früher oder später dazu bereit erklären, eine durch Elternschaft zu bestätigende Besessenheit weiterzureichen. Was man von den Alten selber empfangen und erlitten hat, soll um jeden Preis in den Jungen fortleben“. „Kein Mensch der alten Welt“, fährt Sloterdijk fort, „hat dieses Axiom bezweifelt“.
Doch dann passiert etwas und mit diesem Etwas eine Zunahme der „Innovationstoleranz“, durch die das Originelle und Neue positiv konnotiert wird; und moderne Individuen a.k.a schreckliche Kinder entstehen: „Sie waren es, die ihre Herkunftskulturen mit unwillkommener Variation in Unruhe versetzten: in der Antike selten, im Übergang zwischen Mittelalter und Renaissance bereits in hoher Frequenz, in der Moderne chronisch und mit unbeirrbarer Angriffslust, um nicht von Angriffspflicht zu reden“. Beginnend also bei den wenigen Originellen der Antike findet eine Verstärkung des als „Kopierfehler“ bezeichneten „Austritt[s] des geistreichen Einzelnen aus der Menge der vom Herkommen Besessenen“ statt, bis am Ende „das Kollektiv in seiner Mehrheit nur noch ein Aggregat aus Deserteuren […] darstellt – womit die Definition einer modernen ‚Gesellschaft‘ geboten wäre“. Jenes „Ensemble der Geschöpfe des Diskontinuums [stellte] sich selber als die ‚bürgerliche Gesellschaft‘ vor“.
Das wäre es eigentlich schon: Die Hauptthese findet sich in wohltuend unprätentiöser Manier auf wenigen Seiten des fünften Kapitels ausgeführt. In der Folge greift die Argumentation so wortreich wie weit zurück, um die Genese dieses Austritts anhand von repräsentativen Fallbeispielen zu beschreiben, schrecklichen Kindern demnach, schrecklich deshalb, weil sie „aus der Art“ schlagen: Sokrates, Jesus, Napoleon – sie alle geben nach Sloterdijk einen Trend vor, der in der Folge als „Hiatus“ die Moderne als Bruch mit dem Tradierten etablieren wird und den etwa Madame de Pompadour, seine gegenwärtige Lieblingsfigur wohl, auf geradezu geniale Weise mit dem Bonmot von der Sintflut ausdrücke, die nach uns komme.
Angetrieben werde diese Entwicklung, die ja innerhalb relativ kurzer Zeit aus einigen wenigen Revolutionären eine Gesellschaft bestehend aus „Totengräber[n] des Habitus“ erstellt, von drei Faktoren: „[Z]um einen die Preisgabe eigener Überlieferungen aufgrund des Anschlusses an eine überlegene Zivilisation (Ökumenismus), zum anderen die erzwungene Teilnahme an der Hybridisierung von oben (Imperialismus), an dritter Stelle die Sezession einer Teilkultur von der Leitkultur unter dem Vorwand der Rückkehr zu den wahren Quellen (Reformation und Renaissance)“.
Mit weitreichenden Folgen, die jedoch zum Glück unter einer Formel gebündelt werden können, die da kursiv gesetzt lautet: „Im Weltprozeß nach dem Hiatus werden ständig mehr Energien freigesetzt, als unter Formen überlieferungsfähiger Zivilisierung gebunden werden können“. Hieraus leitet sich dann alles weitere ab, sei es ganz allgemein die „kulturelle Entropie […], die jeder Zeitgenosse seit dem frühen 19. Jahrhundert am Weltbefund unwillkürlich konstatiert“, sei es „das Hauptsymptom des beginnenden 21. Jahrhunderts, aktuelle Schulden mit neuen ‚Schulden‘ zu bezahlen“ – und so fort, wie Sloterdijk anhand von 25 Sätzen beschreibt, die insgesamt dazu dienen, das Walten der Asymmetrien als unkontrollierten Sturz in eine leere Zukunft zu bestimmen. Nicht hervorgerufen von den schrecklichen Kindern, sondern von ihnen als passive Opfer im Sinne eines somnambulen Zustandes nur vollzogen: Kein Wunder, dass Sloterdijk sich in seiner These zumeist auf die Termini evolutionärer Theorien beruft und zudem Gabriel Tarde und dessen Nachahmungsidee aufgreift, hat doch auch der Soziologe den nachahmenden Menschen als der mimetischen Tätigkeit nicht bewusst beschrieben. Der Mensch, so auch Sloterdijk, wiederholt immer, ist in sich und für sich ein Nachahmer, doch hat sich eben das Nachzuahmende gewandelt, ist nun nicht mehr das Tradierte, sondern das Aktuelle: „Durch die überwiegende Nachahmung des Neuen gerät das, was man das ‚kulturelle Erbe‘ die mehraktig bewährte Nachahmung nannte, in jähen Verfall und macht der einaltrigen Nachahmung, der Orientierung an aktuellen und unerwiesenen Mustern, Platz“. Von der Vergangenheit als Gegenstand und Quell der Nachahmung aufgrund obiger Tendenzen abgeschnitten, wiederholt der Mensch demnach nun – Moden. Ohne dies groß steuern oder gar beeinflussen zu können.
Mit den diagnostizierten Folgen.
2.
Was also tun? Wenn wir nun doch wissen, warum wir so schrecklich sind und welche Folgen dies hat? – Nun, Sloterdijk war sicherlich noch nie ein Denker der Hoffnung, ja, nicht einmal der Ausweg ist in seiner Argumentationshaltung als philosophisch grundierte und konkret fassbare Anweisung denkbar. Wie sollte dies auch der Fall sein, erwägt man die hier vertretene Position und Situation des Menschen: In zeitlicher Folge vor dem Hiatus ist er unreflektiert, ja letztlich Ich-los, einem System ständiger und stetiger Manipulation ausgesetzt, deren Wirkungen Sloterdijk immer wieder in geradezu verdächtiger, ja entlarvender Manier mit Termini des Brachialen, Zerstörenden zu beschreiben sucht: So sind alle Erziehungsmethoden letztlich „Dressuren“, nämlich „irreversibel, alternativlos und mit der Gewalt von Verhältnissen, in denen die Verneinung, die Auflehnung, die Innovation keine Brückenköpfe in unruhigen Einzelnen vorfinden“. Das ist nun nicht einmal mehr der somnambule Nachahmer Tardes, das ist das beschädigte, ja vollkommen vernichtete Individuum, welches mit Gewalt in den Konsens eingepflegt wird – wobei es unerheblich ist, ob dieser Konsens nun sinnvoll, sinnlos oder sinnwidrig ist. Der Hiatus nun, also der Bruch mit diesem zerstörerischen Erziehungssystem verändert diese Determination ja nur oberflächlich: Allein die Abweichung wird als „Trend zur Inklusion von Exkludierten“ zum Konsens – so verändert sich der Überbau, das von diesem bestimmte Individuum aber eben nicht.
Individualität ist nämlich letzten Endes, so kann man aus den knapp gehaltenen und doch recht widersprüchlichen Reflexionen immerhin ableiten, ebenfalls ein kopiertes Konstrukt; so heißt es: „‚Individuum‘ im spezifischen, nicht bloß generischen Sinn ist, wer im eigenen Dasein einen Kulturwandel austrägt“. Das, was man so landläufig als Individualität bezeichnet, ist Substrat des schon ausgeführten Bruchs mit der Traditionslinie, ja, ist dieser Bruch, da erst im Sprung über diesen der Funke moderner Individualität und also Ich-Erfahrung keimen kann: „Der wahre Name der Existenz lautet Einzigkeit“, erklärt Sloterdijk daher auch mit Verweis auf Max Stirner, denn: „Niemand denkt an mich so, wie an mich gedacht werden müßte, wenn ich wirklich existieren soll, außer ich selbst. Doch auch ich selber kann richtig an mich nur denken, wenn ich nicht länger von aufgelesenen Allgemeinheiten und infiltrierten Glaubensdogmen besessen bin“. Das schreckliche Kind ist also von sich besessen, indem es die Ich-Definition als Dogma nachahmt. Konsequent manifestiert sich das Individuum Sloterdijks in der vorläufigen Endform denn auch als existentieller Taschenspieler, nämlich als „sein eigener Maskenbildner“, da von Authentizität schon längst keine Rede sein kann und wohl selbst der innere Maskenbildner nur als Kopiermaschine fungiert. In der Kohorte sind derartige ‚Individuen‘ dann eine Gesellschaft von Egoisten, deren Egoismus aber im Grunde leer bleiben muss, wie letztlich alles leer ist.
Natürlich, es scheint Ausnahmen zu geben die gibt es ja letztlich immer, denn ohne diese Außenseiterfiguren wäre überhaupt keine Alternative möglich und damit auch ein Hiatus logisch nicht ableitbar. Das Vorbild Tarde rekurriert in seiner Nachahmungstheorie vorsichtig auf das Genie, welches sich der Wirkung der Nachahmungsstrahlen zu entheben vermag und als Außenseiter der Schüchterne genannt (vgl. Tarde, Gabriel: Die Gesetze der Nachahmung. Frankfurt: Suhrkamp 2009) – diese aus der Distanz betrachtet und so in die Lage versetzt wird, einen neuen Nachahmungsstrahl zu etablieren. Nicht als originäre Bewegung, sondern – „Es gibt nichts Neues in der Welt“, so auch Sloterdijk, „nur die Entfaltung präformierter Substanzen“ – als Transformation des Tradierten. Auch bei Sloterdijk existiert dieses Genie, welches sich „durch autodidaktische Ausbrüche aus den erworbenen Beengungen“ befreit. Wobei, wie auch bei Tarde und letztlich der Geniedarstellungen aller Zeiten, nicht ersichtlich wird, was diese „modellgebenden Zeitgenossen“ nun eigentlich antreibt: Nietzscheanische Übermenschlichkeit vielleicht? Wie gesagt, man erfährt es nicht, gleichwohl Sloterdijk sich ganz auf die Beschreibung dieser Extremnaturen versteift: Napoleon, Nietzsche und Goethe sie alle bevölkern den Diskurs und erstellen oder kommentieren den Hiatus, indes die Kohorte ganz klassisch hinterdrein trabt: besinnungslos, bewusstlos.
Was Sloterdijk hier erzählt, ist ja eigentlich die verschnörkelte sowie aufgeblähte Geschichte der Menschheitskatastrophe, die im Menschlichen selbst besteht: Ist doch der Mensch an sich im Grunde der Führung bedürftig, eine Führung, die von wenigen Einzelgestalten geleistet wird, doch nicht mehr ins Heil dringt, sondern von einem Dilemma ins nächste – auch das Genie selbst ist eben besinnungslos, obgleich auf einer höheren Ebene. Angesichts dieser durch Sloterdijks Denken durchtränkenden These wirkt es schal, empfiehlt er ganz am Ende des Buches den schrecklichen Kindern, sich zu beruhigen und also zu besinnen. Auf was? – Jenes sich nun einstellende Achselzucken markiert die Geste des Zynikers, der sich seines Zynismus nie bewusst wird.
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