Wenn die Suche nach Glück zur Farce wird

Über die Einsamen und Verrückten in Yasmina Rezas neuem Roman „Glücklich die Glücklichen“

Von Charlotte NeuhaussRSS-Newsfeed neuer Artikel von Charlotte Neuhauss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Drama ist ihre Leidenschaft, Prosa ihr neues Steckenpferd: Mit „Glücklich die Glücklichen“ (im Original „Heureux les heureux“) erscheint 2014 Yasmina Rezas neuer Roman in deutscher Übersetzung. Einmal mehr besticht die Schauspielerin und Schriftstellerin, die durch Dramen wie „Kunst“ und „Der Gott des Gemetzels“ zu internationalem Ruhm gelangte (letzteres wurde erst 2011 mit hochkarätiger Besetzung von Roman Polański verfilmt), durch ihre furchtlose Auslotung zwischenmenschlicher Beziehungen und ihre fast schon sezierenden Figurenanalysen. Und einmal mehr ist man durch ihren schwarzen Humor zwischen Lachen und Schrecken hin- und hergerissen.

„Glücklich die Glücklichen“ ist ein weiterer Versuch Rezas, der menschlichen Natur auf die Spur zu kommen. In einundzwanzig Episoden beleuchtet sie die Gedanken und Nöte unterschiedlichster Charaktere:  Ärzte, Journalisten, Sprechstundenhilfen, Rentner. Krebskranke und Gesunde. Auch Verrückte. Da ist zum Beispiel der tragikomische Fall des Schülers Jacob, der glaubt, Céline Dion zu sein, perfekt ihren Québecer Akzent imitiert und ständig einen Schal trägt, um seine Stimmbänder zu schonen. Der die Putzfrau für Oprah Winfrey hält und einen wildfremden Mann für seinen Toningenieur. Der sich auch nicht beirren lässt, als ihn seine verzweifelten Eltern in eine Klinik einweisen, und tapfer im Foyer steht, um ahnungslosen Besuchern Autogramme zu geben.

Überwiegend sind es jedoch alltägliche Begebenheiten, die Reza beschreibt und zugleich analysiert. Harmlose Szenen zwischen Eheleuten, die sich plötzlich zu Konflikten auswachsen und fundamentale Fragen aufwerfen. Dabei sind die Auslöser unscheinbar, fast lächerlich – wie bei Odile und Robert Toscano, die sich im Supermarkt darum streiten, welchen Käse sie kaufen, bis sie am Ende schweigend vor der Kasse stehen, ohne Käse, entfremdet. Es gibt nichts mehr zu sagen. Auf der Rückfahrt legt Robert eine CD mit sehnsüchtigen, portugiesischen Liedern ein, die ihm aus der Seele sprechen.

Voller Sehnsucht ist auch die Sprechstundenhilfe Virginie, die sich zum ersten Mal verliebt hat, in Vincent, den Sohn einer krebskranken Patientin. Und Philip, der verzweifelt nach dem namenlosen Ägypter sucht, den er eines Nachts entführt hat und von dem er sich erhofft, das „Leid der Liebe“ zu erfahren.

Es sind die Differenzen zwischen den Geschlechtern, die Reza offenlegt, die Streitereien zwischen Geliebten und Ungeliebten. Den Wunsch nach echter Nähe, und die Melancholie, wenn sich diese nicht einstellen mag, verbunden mit all den schwelenden Konflikten, den geheimen Träumen, Zweifeln, Trieben und Ängsten, die in unerwarteten Momenten hervorbrechen und uns vor Augen führen, wie schnell sich alles ändern kann. Wie schnell ein Käse zu einem Ehestreit führt, und wie schmal der Grat zwischen Vernunft und Wahnsinn ist.

„Bist du glücklich?“, wird eine Protagonistin an einer Stelle gefragt. Tatsächlich scheint diese Frage den gesamten Roman zu durchziehen, treibt sie doch Rezas sämtliches Personal um. Denn es sind ausschließlich Zweifelnde, Suchende oder mit den Gegebenheiten Hadernde, die hier beleuchtet werden. In diesem Sinne erscheint der Titel des Romans wie feine Ironie: Vielleicht gibt es sie, die glücklichen Menschen, aber Rezas Figuren scheinen allesamt nicht dazuzugehören. Sie streben nach Glück, aber sie erreichen es nicht. Sie bleiben immerzu auf der Suche, streitend, einsam, ratlos. Letztendlich sind es die kleinen Momente, an denen sie sich festklammern: Eine gemeinsame Fahrt im Aufzug, ein Ausflug ins Museum, ein Lied von Edith Piaf, das bis ins Treppenhaus schallt. Und vielleicht darf man vom Leben auch nicht mehr erwarten, vielleicht sollte man genau diese Momente, die ein bisschen heller sind als die anderen, Glück nennen.

Interessanterweise sind alle Charaktere auf irgendeine Weise miteinander verbunden, sei es durch Freundschaft, Familienbande oder ein Arbeitsverhältnis, sodass man mit jeder Episode mehr über die einzelnen Figuren erfährt. Werden sie dem Leser eben noch aus der Sicht eines Außenstehenden präsentiert, taucht er im nächsten Kapitel selbst in ihre Innenwelt ein, wodurch ein vielschichtiges Charakterbild entsteht, das die Abgründe zwischen menschlicher Fremd- und Selbstwahrnehmung bloßlegt. Zugleich wird man Zeuge von den Anstrengungen der Figuren, dieses Fremdbild zu beeinflussen, es den Erwartungen anzupassen, nicht unangenehm aufzufallen. Immer wieder aber bröckelt die Fassade und die Figuren geben sich ihren Emotionen hin, schreien, streiten  oder stopfen sich, wie in Raouls Fall, beim Bridgespiel vor Wut eine Karte in den Mund, weil seine Frau nicht verstanden hat, welchen Zug er von ihr erwartete.

Die Figuren kommen und gehen. Irgendwann entsteht beim Leser der Eindruck, nicht einen Roman, sondern eine Theaterbühne vor sich zu haben, auf der sich die Darsteller im Flug ablösen, mal still und unauffällig, mal mit Furore.  Kaum ist von einer Figur beiläufig die Rede, tritt sie mit der nächsten Episode selbst ins Rampenlicht und trägt ihre Sicht der Dinge vor. Insgesamt erscheint der Roman überlegt konzipiert, geradezu durchkomponiert: Die Themen wechseln beständig, Paare alternieren mit Einzelpersonen, sodass keine Monotonie aufkommt. Hinzu kommen die plötzlichen Wechsel, die abrupten Enden und Anfänge, durch die der Leser immerzu aufs Neue mitten ins Geschehen geworfen wird. Er wird gefordert, muss sich zurechtfinden, auch mit den Dialogen, die durch nichts im Text gekennzeichnet werden. Dies alles lässt den Eindruck von Unmittelbarkeit entstehen und wirft die Frage auf, inwiefern Rezas Prosa durch ihr dramatisches Schaffen beeinflusst wird. Es würde nicht viel fehlen, an manchen Stellen plötzlich Regieanweisungen vorzufinden: Robert und Odile Toscano schweigend an der Kasse, während sich in ihrem Inneren die Emotionen überstürzen.

Bei der Fülle des Personals, so viel Potenzial an Themen und Facetten es auch bietet, bleibt jedoch eines auf der Strecke: Zwar werfen die Episoden durchaus Licht auf interessante Charakterstrukturen, doch für die Konzeption komplexer Figuren und Handlungen fehlt der Raum. Nicht selten brechen Geschichten an einer Stelle ab, an der eine Fortsetzung wünschenswert wäre. So bleiben die Figuren und ihre Konflikte nur angedeutet, ihre Beziehungen umrissen. Es fehlt die tiefere Einsicht, die großzügigere Handlungsstränge und Details erlauben würden. Letztendlich werden dem Leser zahlreiche Bruchstücke des Lebens präsentiert, die eben genau das bleiben: Bruchstücke, kurze Einblicke, nicht mehr. Aber diese Einblicke bestechen durch ihre Treffsicherheit und Intensität, eingefangen durch eine prägnante Sprache, die auch in der Übersetzung nicht an Qualität verliert.

Bisher ist Yasmina Reza mit ihrer Prosa längst nicht so erfolgreich wie mit ihren Dramen, und auch „Glücklich die Glücklichen“ stieß nicht überall auf einhelliges Lob. Dennoch ist der Roman in seiner Originalität ein Schritt auf dem Weg, dies zu ändern, und weckt  den Wunsch nach mehr. Bis dahin verbleiben wir bei den Einsamen und Verrückten, den Odiles, Raouls und Jacobs, in deren Leben wir dank Yasmina Rezas scharfem Blick für einen kurzen Moment eintauchen dürfen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Yasmina Reza: Glücklich die Glücklichen. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2014.
176 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446244825

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