Geschichten mit realistisch-surrealen Verdichtungen

Truman Capotes Storys komplett versammelt

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Truman Capote (1924-1984, eigentlich Truman Streckfus Persons) war einer der bedeutendsten US-Schriftsteller der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und gleichzeitig eine der schillerndsten Persönlichkeiten der New Yorker High. Er war der große Erzähler des amerikanischen Südens. Bereits sein erster Roman „Other Voices, Other Rooms“ (1948, „Andere Stimmen, andere Stuben“, 1950) machte den jungen Autor bekannt. Aufgrund seiner stilistischen und erzählerischen Brillanz sowie des damals anstößigen Themas der Homosexualität wurde das Debüt eine literarische Sensation.

Erzähltechnische Raffinesse zeichnet auch seine Kurzgeschichten aus, die ein Jahr nach seinem Erstling unter dem Titel „A Tree of Night and Other Stories“ erschienen, in deutscher Übersetzung erstmals 1957. Im Züricher Verlag Kein & Aber, der sich in den letzten Jahren um die Ausgabe der Werke von Truman Capote (darunter eine achtbändige Werksausgabe) verdient gemacht hat, ist nun eine Paperback(Pocket)-Ausgabe dieses Erzählbandes herausgekommen. „The Complete Stories“ präsentieren sich nicht nur in einer Neuübersetzung von Ursula-Maria Mössner sondern auch sechs bislang unveröffentlichte Erzählungen.

In diesen frühen Erzählungen schildert Capote unsentimental die Sehnsüchte und Fantasien von Jugendlichen und Außenseitern, aber auch ihre Einsamkeit und ihren Seelenschmerz. Die Kurzgeschichte „Miriam“, bereits 1945 in der Zeitschrift „Mademoiselle“ veröffentlicht, erzählt von der Zufallsbekanntschaft der 61-jährigen und einsamen Mrs. Miller und der zehnjährigen Miriam. Das selbstbewusste Mädchen zwingt der isolierten Witwe regelrecht seine Gegenwart auf. Miriam bringt nicht nur den Alltagstrott von Mrs. Miller durcheinander, sondern wühlt auch ihre Gefühlswelt auf. Dabei bleibt Capote zweideutig, sodass der Leser am Ende fragt: Ist Miriam Realität oder ein Phantom? Für diese psychologische Geschichte erhielt der fast noch jugendliche Autor den renommierten „O’Henry-Award“.

In der Titelgeschichte „Baum der Nacht“ trifft eine Studentin spätabends in einem überfüllten Zug auf zwei skurrile Typen. Die Begegnung mit dem unheimlichen Paar ist eine Reise ins Unbewusste und ruft bei ihr schreckliche Kindheitserinnerungen wach. Die Story „Der schwarze Mann“ („Master Misery“), mit 33 Seiten eine der längsten Geschichten des Bandes, erzählt von einer jungen Frau Sylvia, die ihre Träume wie andere Kunden an einen Schwarzen Mann verkauft, um ihr Leben besser in den Griff zu bekommen. Doch was macht dieser geheimnisvolle Geschäftsmann mit all den Träumen fremder Leute?

In „Das Schnäppchen“, eine der kürzeren Geschichten und erst 2004 veröffentlicht, trifft eine New Yorkerin nach vielen Jahren ihre frühere Nachbarin und kauft ihr einen abgetakelten Nerzmantel ab. Die ehemalige glamouröse Freundin ist inzwischen in den unteren Sozialschichten angekommen. Die letzte Geschichte „Yachten und dergleichen“ wurde erst 2012 entdeckt und schildert eine Episode einer Mittelmeer-Kreuzfahrt.

Capotes Protagonisten sind Menschen, die in kein Schema passen. Mit einer Mischung aus Humor, Tragik und Selbstironie schildert er deren Schicksal. Was alle Geschichten jedoch eint, ist deren realistisch-surreale erzählerische Verdichtung, gepaart mit Überraschungseffekten und Schlusspointen.

Titelbild

Truman Capote: Baum der Nacht.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Ursula-Maria Mössner.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2014.
464 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783036959207

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