Briefeditionsprojekte als interdisziplinärer Treffpunkt

Zum Sammelband „Brief-Edition im digitalen Zeitalter“, herausgegeben von Anne Bohnenkamp und Elke Richter

Von Joseph WangRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joseph Wang

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vom 5. bis 7. Oktober 2011 fand in Weimar die Tagung „Brief-Edition im digitalen Zeitalter“ statt. 2013 erschien in Folge beim Verlag De Gruyter ein Beiheft zu editio mit dem gleichnamigen Titel; in diesem von Anne Bohnenkamp-Renken und Elke Richter herausgegebenen Sammelband sind die Beiträge der Weimarer Tagung zusammengefasst. Er umfasst neben einem Vorwort der Herausgeberinnen sechzehn weitere Artikel.

Im einleitenden Artikel von Ulrich Joost wird Auskunft über den zu diskutierenden Gegenstand des Buches gegeben. Der Autor von „Chatoullen …, welche den vertrauten Briefwechsel … enthielten“ umreißt jene Probleme, welchen die Herausgeberinnen und Herausgeber einer Briefedition heute begegnen. Dabei lässt Joost keinen Aspekt eines modernen Brief-Editionsprojektes aus. Er spricht die editionsphilologischen (u.a. die Frage nach der Vereinheitlichung der editorischen Zeichen) und technischen Schwierigkeiten (u.a. die Verwirklichung von Biografie-Datenbanken) ebenso wie literaturwissenschaftliche Aspekte des Brief-Begriffs (z.B. die Eingliederung des Briefs in eine Gattung) an. Außerdem diskutiert er Fragen der Finanzierung von Editionsprojekten, des Umgangs mit Verlagen und der Ausbildung künftiger Editorinnen und Editoren. Dass Joost hierbei v.a. die Briefe aus dem 18. Jahrhundert, dem sogenannten Jahrhundert des Briefs (bzw. des Briefeschreibens), im Auge hat, spiegelt den Fokus der Tagung wider; die Probleme und Fragen, die er aufwirft, tauchen aber ebenfalls beim Edieren der Briefe anderer Zeitabschnitte auf.

Wie sich die Briefeditionen von Editionen anderer Textgattungen unterscheiden, zeigen jene Artikel, die sich vorrangig mit speziellen Problemen im Umgang mit Briefen beschäftigen.

In „Goethes Briefhandschriften“ digital belegt Richter anhand der Briefe Goethes an Charlotte von Stein die These, dass nicht nur der Brieftext allein, sondern auch die materielle Beschaffenheit des Briefs eine große Rolle in der Kommunikation spielt: Welche Art von Papier verwendet der Schreiber? Wie ist die räumliche Anordnung des Textes? Eine gänzlich auf Text basierende Edition kann die „Materialität“ des Briefs nur unzureichend wiedergeben. Um dieses Manko auszugleichen, könnten die Editorinnen und Editoren zusätzlich zum Brieftext auch Faksimiles anbieten. Diese Vorgehensweise birgt jedoch, so Richter, ihrerseits Tücken: Bestimmte Artefakte (z.B. der Abdruck des Archivstempels oder die Signatur), die in einer Edition normalerweise vernachlässigt werden, stehen den Leserinnen und Lesern zur Verfügung und können zu ihrer Verwirrung beitragen.

Neben Vorstufen können Briefe – im Gegensatz etwa zu den Manuskripten – auch Beigaben (Geld, andere Briefe, Manuskripte etc.) beinhalten. Jochen Strobel plädiert in „Der Brief als Prozess“ für die Aufnahme von Briefvorstufen in eine digitale Edition, und nennt hierfür drei Beispiele, in denen die Mit-Veröffentlichung der Briefvorstufen Erkenntnisgewinn bringt. Gabriele Radecke („Beilage, Einlage, Einschluss“) diskutiert darüber, ob Beigaben in einem Brief mitediert werden sollten. Sie gliedert die Beigaben dabei in Beilagen (jene Beigaben, die vom Absender für den Empfänger vorgesehen sind), Einlagen (jene Beigaben, die von einem Dritten über den Absender für den Empfänger bestimmt sind) und Einschlüsse (jene, die vom Absender über den Empfänger für einen Dritten bestimmt sind). Diese feine Unterscheidung kann, so die Autorin, den Editorinnen und Editoren dabei helfen, die Entscheidung für oder gegen die Aufnahme einer Beigabe in die Edition zu rechtfertigen.

Welche Freiheiten sich die Editorinnen und Editoren in ihrem Umgang mit Brieftexten erlauben, zeigt Bernd Füllner in dem Beitrag „Textverlust und Textlücken in Briefen Heinrich Heines“. Da von den Briefen des Autors mehrere Ausgaben existieren, stellen sie das ideale Untersuchungsobjekt für den Umgang der Herausgeberinnen und Herausgeber mit Textverlusten dar. Ein ähnliches Problem sind die nachträglichen Eingriffe der Verwandten und der Korrespondenzpartner in den Brieftext. Hiermit beschäftigt sich neben Füllner auch Burghard Dedner („Zu einigen Besonderheiten der Briefkommentierung“). Dabei dienen Dedner Briefe Georg Büchners als Beispiel.

Die konkrete Art und Weise, wie ein bestimmtes Editionsprojekt durchgeführt wird, ist ebenso Gegenstand einiger Beiträge. In „Vom Brief zum Werk“ beschreibt Ulrike Leuschner die Erstellung einer Edition der Briefe Johann Heinrich Mercks. Und die Edition der Briefe Karl Ferdinand Gutzkows wird von Wolfgang Rasch, Wolfgang Lukas und Jörg Ritter („Gutzkows Korrespondenz“) vorgestellt.

Magdalene Heuser in „Sie sehen mich als Representand Ihres Publikums, EN GROS genommen“ zeigt, dass Briefeditionen eine wertvolle Quelle für die philologische Forschung darstellen. Sie schildert den spannenden Briefwechsel Therese Hubers mit Autorinnen und Autoren der Zeitschrift „Morgenblatt für gebildete Stände“ und mit dem Verlag Cotta. In diesem Briefwechsel sind Debatten über Annahme bzw. Ablehnung von eingereichten Beiträgen dokumentiert.

Manfred Koltes leistet mit seinem Beitrag „Probleme der Retro-Konversion“ quasi eine Geschichtsschreibung der Editionsphilologie. Durch den Wandel der Zeit musste das Team, das seit den 1980er Jahren Briefe an Goethe in einer Regestausgabe erschließt, mehrmals seine Arbeitsweise ändern. Dabei musste stets sorgfältig darauf geachtet werden, dass die zuvor geleistete Arbeit nicht (gänzlich) verloren geht.

Das digitale Zeitalter bietet zusätzliche Werkzeuge für die Edierenden. So wird die Recherche nach Personen wesentlich durch Online-Datenbanken erleichtert. Angela Steinsiek („Alles Wikipedia?“) und Andreas Mielke („Ein Textilfabrikant, ein Theaterdirektor …“) schildern ihre Erfahrungen mit diesen. Mielke nutzt bei der Kommentierung der Briefe Richard Wagners unterschiedliche Recherche-Möglichkeiten (z.B. „World Biographical Information System“). Steinsiek stößt hingegen im Zuge der Bearbeitung der Jean-Paul-Briefe auf eine zweifelhafte Biografie in der Wikipedia. Die Autorin warnt daher vor unkritischer Übernahme unsicherer Quellen.

Rainer Falk („Crowdsourcing“) erläutert einen interessanten Neuansatz für Editionsprojekte. Als Crowdsourcing wird das Heranziehen von Freiwilligen bezeichnet, die unentgeltlich Aufgaben im Projekt übernehmen. Nicht ohne Ironie zieht Falk das bekannte Crowdsourcing-Projekt Wikipedia zu Rate, um die Definition des Begriffs anzugeben. Anhand zweier Projekte („Transcribe Bentham und Nachlass Friedrich Nicolai online“) zeigt der Autor zudem auf, dass sich hiermit auch wissenschaftlich gute Resultate erzielen lassen. Falk macht aber darauf aufmerksam, dass für das Gelingen eines Crowdsourcing-Projektes die geringe Einstiegshürde für die freiwillige Arbeit maßgeblich ist.

Damit die digital verfügbaren Daten nicht bloß für eine Edition verwendet werden, sondern auch unter Computern ausgetauscht werden und somit mehreren Editionen zur Verfügung stehen, müssen die Daten bestimmte technische Standards erfüllen. Auf diese technischen Details geht Johannes H. Stigler in seinem Beitrag „Anmerkungen zu einem generischen Verständnis des Begriffs ‘Digitale Edition’“ ein.

Gelingt es, die Daten aus einzelnen Brief-Editionen zu verbinden, so entsteht daraus ein größerer Corpus, ein „Netzwerk von Briefen“. Just diese Idee erläutert Wolfgang Bunzel in seinem Beitrag „Briefnetzwerke der Romantik“. Der Autor schildert darin seine Vorstellung einer projekt-übergreifenden Datenbank der Briefe und verspricht sich dadurch nicht nur bessere Recherche-Möglichkeiten, sondern auch die Verwirklichung einer „Universalphilologie“.

Man kann nicht auf alle von Joost angesprochenen Fragen eine Antwort in diesem Sammelband finden. So ist es bedauerlich, dass Verlage in diesem Band zu kurz kommen. Dadurch, dass die Editionen online allen Leserinnen und Lesern kostenlos zur Verfügung stehen, verändert sich die Rolle der Verlage in solchen Fällen. Man fragt sich, wie diese – wenn überhaupt – in ein Editionsprojekt so eingebunden werden könnten, dass alle Beteiligten Nutzen daraus ziehen können. Leider beantwortet nur Jutta Weber („Briefnachlässe auf dem Wege zur elektronischen Publikation“) diese Frage in Ansätzen.

Kongressakten haben im Allgemeinen einen schlechteren Ruf, denn von Natur aus variiert die Qualität ihrer Beiträge. Wenn aber die Anordnung der Beiträge gelingt, werden in ihnen unterschiedliche Sichtweisen zu einem Thema einander gegenübergestellt. Wer auf der Suche nach Zugängen zum Thema „digitale Briefedition“ ist, der wird beim vorliegenden Band fündig. Hier zeigen die einzelnen Editionsprojekte ihre unterschiedlichen Lösungsansätze bei ähnlichen Problemstellungen. Das bunte Bild wird dadurch ergänzt, dass zu diesem Thema mehrere Wissenschaftsdisziplinen ihre Sichtweisen beitragen, darunter die Editionsphilologie, die Informatik und das Bibliothek- bzw. Archivwesen. Autorenhinweise am Ende des Sammelbandes würden diese Vielfalt an Stimmen noch besser zur Geltung bringen.

Mit der Aneignung der sich rasant weiterentwickelnden digitalen Methoden können wir die Fortschritte in der Editionsphilologie schon jetzt nicht mehr im Einzelnen fassen. Mit dem vorliegenden Band bieten die Herausgeberinnen diesbezüglich Abhilfe. Es ist ihnen gelungen, verschiedene Editionsprojekte so zusammenzutragen und zu dokumentieren, dass ein kleiner Überblick zu Editionen der Briefe des 18. und des 19. Jahrhunderts entsteht. Ihnen gebührt der Dank für diesen wertvollen Beitrag für die Wissenschaftsgeschichte.

Titelbild

Anne Bohnenkamp-Renken / Elke Richter (Hg.): Brief-Edition im digitalen Zeitalter.
Beihefte zu Editio.
De Gruyter, Berlin 2013.
247 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110289183

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