Selbstporträt eines Schriftstellers in Tagebuchform
Erwin Strittmatters Tagebücher 1974-1994 beschreiben den Zustand seiner Welt jenseits des Literaturbetriebs
Von Manfred Orlick
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVor zwei Jahren, anlässlich seines 100. Geburtstages, hatte der Aufbau Verlag den ersten Teil „Nachrichten aus meinem Leben“ der bisher unveröffentlichten Tagebücher von Erwin Strittmatter (1912-1994) herausgebracht. Er umfasste den Zeitraum von Juli 1954 bis Ende Dezember 1973. Der Beginn der Tagebuchaufzeichnungen fiel mit dem Erwerb des Schulzenhofes bei Gransee zusammen, wo Strittmatter mit seiner dritten Ehefrau Eva („Evchen“) endlich einen festen Lebensort gefunden hatte.
Nun liegt unter dem Titel „Der Zustand meiner Welt“ der abschließende Band der zweibändigen Edition vor. Er bringt eine Auswahl der Tagebucheintragungen vom 1. Januar 1974 bis zum 26. Januar 1994, also wenige Tage vor Strittmatters Tod. Eine Auswahl deshalb, weil Strittmatters Tagebuchaufzeichnungen insgesamt 249 Hefte im DIN-A6-Format (ca. 20.000 Seiten) umfassen.
1974 befindet sich Strittmatter bereits im sechsten Lebensjahrzehnt, noch immer wird sein Alltag von den Pflichten des Schulzenhofs bestimmt, denen er die Zeit für seine literarischen Projekte abringt. Immerhin versteht er das bäuerliche Handwerk genau wie das Schreiben, und darauf ist er stolz. So hält er im Tagebuch beide Aspekte seines Alltages fest. Ergänzt werden diese Notizen über die Tagesabläufe von Naturbeobachtungen, Leseeindrücke oder Entwürfen literarischer Arbeiten.
In den 1980er- Jahren gibt es einen entscheidenden Einschnitt in den Tagesrhythmus: Strittmatter, inzwischen siebzig Jahre, fällt es immer schwerer, das Anwesen allein zu erhalten. Für zwei Jahre übernimmt sein Sohn Matthes zwar die Wirtschaft, aber langsam zerplatzt der Traum, dass einer der Söhne den Schulzenhof übernimmt. Darüber hinaus kommt es zu einer Entfremdung zwischen den beiden Eheleuten, auch diese Situationen und seinen Anteil an den Konflikten hält er selbstkritisch fest.
Daneben war Strittmatter ein Beobachter seiner Mitmenschen, die Tagebücher sind voll von solchen Beispielen. Mittelpunkt ist jedoch sein „literarisches Gewissen“. Immer häufiger setzt er sich mit den DDR-Verhältnissen kritisch auseinander. War er im ersten Band noch ein Verteidiger des sozialistischen Systems, das er zeitweilig als Funktionär mitgetragen hat, hält er sich jetzt aus „jedweder Ideologie“ heraus. Strittmatter ist aber kein passiver Beobachter – er positioniert sich, vertritt seine Ansichten, auch beim Untergang der DDR.
Breiten Raum nehmen auch Strittmatters Erinnerungen an die Kindheit ein. In diesen Eintragungen, die häufig den Stempel des „Ole-Bienkopp-Stil“ tragen, beschreibt er eine unbeschwerte Kindheit. Doch gleichzeitig ist er sich selbst bewusst, dass vieles mit den Jahren verklärt wird. Überhaupt nehmen in den letzten Jahren die Selbstreflexionen zu. Hier äußert sich der Schriftsteller so offen und intim wie in keinem anderen Werk.
Wie der erste Band verfügt auch „Der Zustand meiner Welt“ über einen umfangreichen Anhang, der mit seinen Anmerkungen zum Verständnis der Tagebuchaufzeichnungen beiträgt. Die Herausgeberin Almut Giesecke gibt in ihrem Nachwort außerdem einen Einblick in die Entstehungsgeschichte des Tagebuchs. Eine Chronik sowie ein Personen- und Werkregister komplettieren diese verdienstvolle Ausgabe.
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