Raum-Panorama

Der Band „Philosophie des Ortes. Reflexionen zum Spatial Turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften“ avanciert zum neuen Standardwerk.

Von Sascha Ulrich-MichenfelderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Ulrich-Michenfelder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Orte sind ein wesentlicher Bestandteil unseres täglichen Lebens. Immer, wenn wir etwas abstellen und im darauf folgenden Moment danach suchen, drängt sich die Frage nach dem „Wo?“ auf. Orte und Räume sind von jeher ein Arbeitsbereich der Geografie, der in den letzten vierzig Jahren zunehmend um sozial- und kulturwissenschaftliche Theorien ergänzt wurde. Doch wo sind die philosophischen Einflüsse auf die Genese des Raumbegriffes?

Ist die Hinwendung zum Raum in den Kultur- und Sozialwissenschaften inzwischen ausführlich reflektiert worden, so erfolgte eine Auseinandersetzung mit der Ortsbezogenheit von Mensch und Dingen in der Philosophie erst in jüngster Zeit auf systematische Weise, obgleich der Raumbegriff seit der Antike philosophisch genutzt wird. Erst die Öffnung der Philosophie für die Sozialwissenschaften ermöglichte einen interdisziplinären Ansatz, in dem philosophische Theorien konstruktiv eingebunden werden. Dies zum Anlass nehmend, versteht sich der vorliegende Sammelband als Standort-; ja, geradezu als Ortsbestimmung aktueller Forschung.

In den Ausführungen der elf Autorinnen und Autoren geht es nicht um eine genaue Definition der Begriffe Raum und Ort, sondern vielmehr um die Rolle des Ortes für die menschliche Selbstbestimmung, für die Ver-Ortung von Individuen und sozialen Gruppen, die in konstruierten Räumen leben und handeln. Bereits im informativen Vorwort wird darauf hingewiesen, dass die Kategorie Raum nicht antagonistisch zur Kategorie Zeit betrachtet werden dürfe, sondern vielmehr zeitliche Abfolgen räumliche Denkmuster beeinflussen können. Die Vernetzung dieser Thematik mit philosophischen Grundfragen rahmt eine erweiterte Theorie, mit der die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes aktuell geführte Forschungsdebatten (beispielsweise zur Heimatkonstruktion oder zur Glokalisierung) exemplarisch analysieren. Auf diese Weise werden philosophische Grundgedanken gewinnbringend in die Theorien des Spatial Turn integriert.

Der interdisziplinär ausgerichtete Band enthält Beiträge namhafter Wissenschaftler aus den Bereichen Medientheorie, Theologie, Soziologie sowie den Philologien. Die Autorinnen und Autoren beschäftigen sich innerhalb der Beiträge mit Raumfragen und Ortsbestimmungen ihres Forschungsbereiches und führen damit einen offenen Dialog über die Philosophie des Ortes, was wiederum das erklärte Ziel des Sammelbandes ist. Nach einer inhaltlich dichten Einleitung folgen elf Aufsätze, denen umfassende Theorien zugrunde gelegt werden. Das Panorama der präsentierten Forschungsfelder ist eindrucksvoll.

Stefan Günzel, selbst bekannter Herausgeber einer Raum-Anthologie, bezieht sich im ersten Beitrag des Sammelbandes auf Martin Heideggers Vortrag Bauen, Wohnen, Denken aus dem Jahr 1951. Er erklärt, dass Ortsphilosophie einerseits auch auf Bernhard Waldenfels, Peter Sloterdijk sowie Otto Friedrich Bollnow zurückgeht. Andererseits fasst er einen Ort nicht nur geografisch, sondern auch historisch und individuell auf, was eng mit der Konstruktion eines Heimatgefühles verbunden ist. Mit der Projektion eines Heimatraumes (oder in diesem Fall konkreter: Heimatortes) geht, laut Günzel, sogleich die Konstruktion von Fremdheit einher; eine theoretische Überlegung, die an zahlreichen Beispielen veranschaulicht wird.

Annika Schlitte ergänzt diese Ausführungen insofern, als dass die Bedeutung von Ortserfahrungen theoretisch legitimiert werden können, allerdings erkennt die Kulturphilosophin, dass die bisher vorliegenden Untersuchungen diesem Phänomen nicht analytisch und empirisch genug auf den Grund gegangen sind. Exemplarisch an den Erfahrungen von Natur, Transzendenz und Kunst zeichnet sie eine Analyse nach. Thematisch leitet sie zum Folgebeitrag des Theologen Ulrich Beuttler über. Beuttler erörtert verschiedene Gründe für die Raumbezogenheit des Mensch-Gott-Verhältnisses und beschreibt abschließend die religiösen Schichten des gelebten Raumes.

Die drei folgenden Beiträge der Autoren Thomas Hünefeldt, Rob Shields und Joost van Loon beschäftigen sich mit dem Phänomen der Verortung: Wo und auf welche Weise wird Kognition verortet? In welchem Zusammenhang steht Verortung mit dem Ort des Denkens? Wie werden medial geprägte Räume erfasst? Diese klaren Fragestellungen werden umfassend diskutiert. Nachvollziehbare und detaillierte Analysen sowie überzeugende Beispiele, die sinnvoll eingebunden werden, kennzeichnen diese Beiträge im Besonderen. Einen Bezug zu aktuellen Leserthemen schafft der Beitrag der Philosophin Silja Graupe, die in ihrem Beitrag zunächst den inhaltlichen Kontext der Fukushima-Katastrophe aufarbeitet. Die Auseinandersetzung mit dem Ortsbegriff erfolgt entlang japanischer Philosophen, wobei die technisch-naturwissenschaftliche Komponente des Begriffes fokussiert wird. Die Autorin vermag es, die Sicherheit eines eindeutigen wissenschaftlichen Ortsbegriffes ebenfalls wie die Sicherheit der Atomtechnik infrage zu stellen und erkennt entlang von Zeugenaussagen: Fukushima ist kein Ort (mehr) für Menschen. Auf diese Weise gelingt ihr einerseits eine erfolgreiche Reflexion des Ortsbegriffes und andererseits eine Einführung in die japanische Philosophie, die sich der Raumproblematik ebenfalls widmet.

Empirisch nachgezeichnet werden darüber hinaus die Vorstellungen von Ort und Räumlichkeit im Kontext eines reflektierten Heimatbegriffes. Die Amerikanistin Kerstin Schmidt legt in ihrem Beitrag aktuelle und interessante Ausführungen zur „Örtlichkeit als zentrale Erfahrungskategorie […] kosmopolitsche[r] Figuren“ des Autoren Moyez G. Vassanji vor. Der Autorin gelingt es, räumliche Erfahrung als Analysekategorie von Diasporaromanen zu etablieren. Besonders eindringlich wird in diesem Aufsatz der Mehrwert räumlicher Deutungsmuster aufgezeigt. Im Folgenden widmet sich Richard Nate der Frage, ob auch Utopien (also Nicht-Orte) örtlich erfasst werden können. Er bezieht die Sehnsüchte der Leserinnen und Leser sowie deren medial geprägte Erinnerungsorte in die Analyse ein und schafft Prämissen für den Beitrag von Hans Dieter Zimmermann, der den Sammelband abschließt. Zimmermanns Beitrag bildet den Abschluss des Sammelbandes. Der Literaturwissenschaftler untersucht hier den Heimatbegriff verschiedener Autoren und stellt fest, dass Heimat grundsätzlich als Erinnerungsraum zu verstehen ist, wobei „[d]as Verbindungsglied von Erinnern und Vergessen […] das Weiterleben der Bilder ist“. Mit dieser Aussage wird einmal mehr das Zusammenwirken von Räumlichkeit und Bildlichkeit angedeutet, das im vorliegenden Band zwar implizit gedacht, jedoch zu wenig explizit herausgearbeitet wird. Ein Beitrag zur filmisch konstruierten Räumlichkeit, die nicht zuletzt ein Ort für die Sehnsuchtsvorstellungen der Zuschauer ist, könnte den Sammelband inhaltlich gut ergänzen.

Zusammenfassend besticht der Sammelband durch seine niveauvollen, stilsicheren und interessanten Beiträge. Nicht zuletzt leistet er eine hervorragende Ortsbestimmung zum Stand aktueller Forschungsprojekte rund um die Kategorie Raum, deren Grundlagen jedoch nicht aufgearbeitet werden. Daher eignet sich das Buch als sinnvolle Ergänzung zur umfangreich bestehenden Einführungsliteratur, jedoch nicht als Werk für thematische Einsteiger. Vielmehr sollten Promovierende aller Disziplinen, die sich mit Raum beschäftigen, Zeit in die Lektüre dieses Sammelbandes investieren, denn in den Genuss eines solch inhaltlich dichten Werkes kommt der interessierte Leser höchst selten. Dieser Sammelband eröffnet einen Ort für kulturwissenschaftliche Forschung und versammelt exzellente Artikel darin.

Titelbild

Annika Schlitte / Thomas Hünefeldt / Daniel Romic / Joost van Loon (Hg.): Philosphie des Ortes. Reflexionen zum Spatial Turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften.
Transcript Verlag, Bielefeld 2014.
250 Seiten, 29,99 EUR.
ISBN-13: 9783837626445

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