Zur aktuellen Lage der jungen deutschsprachigen Literatur

Die Zeitschrift „BELLA triste“ berichtet vom „Prosanova“- Festival 2014

Von Tobias SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Schmidt

Das seit 2005 alle drei Jahre in Hildesheim stattfindende Prosanova Festival für junge deutschsprachige Literatur hat sich zu einem Renner feuilletonistischer Reportagen und Artikel gemausert und gilt vielleicht nicht ohne Grund als Bühne für Entdeckungen. Die Zeitschrift BELLA triste begleitete das diesjährige Festival mit einer Sonderausgabe, in der in einem ersten Teil die Wettbewerbstexte abgedruckt sind. In einem zweiten Teil der Ausgabe geben Autoren Auskunft darüber, wie sie Literatur verstehen und was sie von ihr erwarten.

Die Texte im Wettbewerb waren von Cathrin Dietzel, Marcel Kurzidim, Isabelle Lehn, Konrad H. Roenne, Andreas Thamm und Florian Wacker. Jedem der Texte ist zudem eine Kürzestbeurteilung der Jury beigefügt, die in diesem Jahr mit dem Literaturagenten Felix Grisebach, der Schriftstellerin Antje Rávic Strubel und dem Literaturwissenschaftler Moritz Baßler besetzt war.

Der Text „Am Ende der Schlacht“ von Cathrin Dietzel war der Siegertext des diesjährigen Prosanova- Festivals und erzählt von der Begegnung zweier Männer während einer Gartenparty in einer pompösen Villa in einer nicht näher benannten südamerikanischen Metropole. Die Rahmung des Textes bedingt das Erzählte: „Wir haben uns auf einer Abschiedsparty kennengelernt, sagte Nano immer, wenn er gefragt wurde, wie sie sich zum ersten Mal begegneten.“ Dann setzt die Erzählung dieser ersten Begegnung ein, die formal wie stilistisch avanciert sein möchte, aber vor allem durch einen stilistischen Manierismus und nicht durch das Erzählte selbst im Gedächtnis bleibt: ein mantrahaft wiederholtes „Und dass“ als Satzanfang gerät mehr und mehr zu einer penetranten Störung des Textes. Die Wendung soll die zeitliche Parallelität einer Vielzahl von Eindrücken, Handlungen und Gedanken während eines einzigen, sekundenkurzen Moments anzeigen, in dem sich die zwei Männer, ihres Zeichens Auftragskiller, verlieben und gleichzeitig zwei andere Menschen sterben. Letztendlich aber wirkt dieses „Und dass“ als Stilelement schnell ermüdend und wird deutlich überreizt. Sprachlich ist die Erzählung von Cathrin Dietzel wenig auffällig, um nicht zu sagen unaufdringlich und pflegt den länglich bekannten imitativen Duktus, den man schon von diversen Texten aus dem Umfeld der Hildesheimer und Leipziger Creative-Writing-Studiengänge kennt. „Am Ende der Schlacht“ ist vielleicht kein schlechter, aber ein durch und durch harmloser Text, der in seiner Zusammenstellung von Thema, Form und Stil nicht zu überzeugen weiß.

Der Text von Marcel Kurzidim ist ein symbolisch wie auch intertextuell überladener und mit fantastischen Elementen versehener Doppelgängertext, der weder durch seine Sprache noch durch seine multiperspektivischen Einsichten überzeugen kann. Wenn aber ein renommierter Literaturwissenschaftler wie der Juror Moritz Baßler den Text als „brillante Fingerübung in Erzählkunst“ preist, in der „alles leicht, heiter, promisk und proliferierend“ sei, bleibt zu fragen, ob dem Text damit nicht zu viel aufgebürdet wird. Was Moritz Baßler beschreibt, lässt der Text auch nach mehrmaliger Lektüre nicht erkennen. Das einzig spannende an Kurzidims Erzählung scheint das Grundmotiv der schwankenden Position des erzählenden Ichs zu sein. Durch die Begegnung mit seinem vermeintlichen Doppelgänger wird es zunehmend immer weniger seiner selbst gewiss. Ein grundsätzlich spannendes Thema, das Kurzidims Text aber unter zu vielen Symbolen, Verweisen und fantastischen Elementen begräbt.

Isabelle Lehn gewann mit ihrem Text „Aladdin, COB“ den Publikumspreis. Es geht darin um Menschen in einer Kriegskulisse, in einem für Truppenübungen gebauten Dorf. Menschen werden von einer Firma rekrutiert, um für sechs Wochen eine bestimmte Rolle zu spielen, je nachdem, wo das fiktive Dorf gelegen ist. Im Zentrum steht ein Mann, der das Café Aladdin des fiktiven Dorfes betreibt und sich die Stunden und Tage angenehm zu machen versucht, denn die Überfälle der Soldaten kommen ebenso überraschend wie in der Wirklichkeit des Krieges. Das Spiel, das hier inszeniert wird, mit Supervisor und Regieanweisungen, muss real wirken, um die Soldaten auf wirkliche Kriegsbedingungen einzustellen. Die Perversion des Spiels liegt aber an einer anderen Stelle, nämlich bei den Darstellern, die eben nicht wissen, wann die Soldaten kommen und die dann den brutalen Maßnahmen ausgesetzt sind. Isabelle Lehns Text nutzt einen Kunstgriff, die Verschiebung des Kontextes ohne das eigentliche Thema zu überdecken. Das inszenierte Spiel ist ernst und erlaubt dem Leser ohne Probleme auf die realen Auswirkungen solcher Angriffe zu schließen. Hierin liegt das durchaus politische Potential des Textes von Isabelle Lehn.

„Will Abend werden“ von Konrad H. Roenne nimmt sich eines anderen Themas an, nämlich dem einer religiösen Sekte, die endlich ihren jüngsten Tag gekommen sieht und den Kindern der Gemeinde noch einen letzten Wunsch erfüllen möchte: die entscheiden sich prompt für einen Besuch bei McDonald’s. Dass es schon an dieser Stelle der Geschichte mächtig knirscht, liegt an der seltsamen Inkonsequenz in der Befolgung der Regeln, die doch sonst für die Gruppe religiöser Menschen so heilig sind. Deren ausgestellte Naivität allen säkularen Ausprägungen gegenüber ist stark holzschnittartig und wirkt wie aus einem schlechten Fernsehfilm übernommen, wo Nuancen wenig zählen. Dabei kann Literatur genau in der Darstellung der Lücken und Löcher der Wirklichkeit ihr volles Potential an Zwischentönen entfalten. Schwachstellen sind vor allem die gepflegte Langeweile der Sprache, die sich eines naiv-altertümelnden Stils bedient, als würde in der Wahrnehmung religiöser Fanatiker alles beben, brausen oder gen Himmel streben. Dass die Sektenmitglieder am Speiseplan einer McDonald’s-Filiale nahezu scheitern, ist dann auch nicht weiter überraschend. Zwei Welten prallen in Roennes Texte aufeinander, die offensichtlich nicht das geringste miteinander gemeinsam haben. Und beide gehen ohne großen Schaden auch wieder auseinander. Das Ende, von dem Moritz Baßler schreibt, es wähle einen dritten Weg abseits von Kulturkritik und Kapitalismusbejahung, mag ja der denkbar beste sein, das Aufeinandertreffen zu beenden, doch es entlässt den Leser auch ein wenig ratlos. So what?

Andreas Thamm legt mit „Die folgenschwere Reise des Lyrikers und Faschisten Aristide Comte“ den wohl besten Text des diesjährigen Prosanova- Wettbewerbs vor. Der Erzähler erhält einen vor 20 Jahren schon abgeschickten Brief seines alten und bis dahin verschollen geglaubten Freundes Aristide Comte, in dem dieser von seiner Reise in den Urwald Afrikas berichtet, wo er Material für seine rassistischen Thesen zu sammeln gedachte. Während dieser Suche wollte er auch eine Primatenforscherin kennenlernen, die sogenannte „Monkeylady“, die in einer sexuellen Beziehung mit einem Gorilla lebt. Angestachelt von dieser unglaublichen Geschichte und gewillt, seinen Freund wieder zu finden beziehungsweise, um zu erfahren, ob es die „Monkeylady“ wirklich gab, macht sich der Erzähler auf die Reise nach Tansania. Was Thamm in seiner Erzählung entfaltet, ist weit spannender als das, was die übrigen Texte des Wettbewerbs präsentieren, weil der Autor sowohl thematisch einen Glanzpunkt setzt als auch sprachlich souverän schreiben kann, ohne manieriert zu klingen oder in imitative Tonlagen abzugleiten.

Der Text „Budde“ von Florian Wacker schließlich wirft einen Blick in die sich veränderten Arbeitsbedingungen in der Massenproduktion von Fleisch. Budde ist 20 Jahre lang Schlachter gewesen und wurde dann plötzlich ins Kühlhaus versetzt. Seine Arbeit machen nun billige Arbeitskräfte aus dem Osten. Budde nimmt all das stoisch hin, bis er auf einem Spaziergang im Wald einen von „denen“ schwer verletzt findet und alles tut, um ihn zu retten. Er fährt ihn ins Krankenhaus, nimmt ihn in Schutz, obwohl es offensichtlich ist, dass es sich um einen Selbstmordversuch handelte. Antje Rávic Strubel fokussiert Wackers Text zwar auf die Figur Budde hin, der eine emotionale Wandlung erfahre, doch eigentlich ist es gerade der Andere, der dem Text seine Wendung gibt. Denn im Selbstmordversuch der billigen Arbeitskraft zeigen sich die unmenschlichen Arbeitsbedingungen unter globalisierten Produktionsprozessen sehr viel drastischer. Es ist zwar kein schlechter Text, den Florian Wacker vorlegt, aber ein von Harmlosigkeit geprägter dann doch.

Insgesamt präsentierte der diesjährige Prosanova-Wettbewerb ein eher durchwachsenes Bild der gegenwärtigen jungen deutschensprachigen Literatur. Auf der einen Seite gruppieren sich drei harmlose Texte mit überladenen Settings, übersymbolischen Arrangements und sprachlichen Tiefschlägen, auf der anderen stehen Erzählungen mit spannenden Plots, interessanten Konstellationen und gesellschaftspolitischer Kritik.

Dreht man die aktuelle BELLA triste auf den Kopf, dann sind im zweiten Teil der Sonderausgabe 11 poetologische Bekenntnisse zu lesen, mal ganz subjektiv, mal wissenschaftlich motiviert oder auch den Fokus erweiternd. Unter den Beiträgern finden sich bekannte Namen wie Leif Randt, Thomas Klupp oder Jan Brandt. Aber auch weniger bekannte Namen sind darunter, etwa Lukas Jost Gross, Kenah Cusanit oder auch Jakob Nolte. Kommentiert und eingeordnet werden die Bekenntnisse von Ina Hartwig, Christian Shärf und Florian Kessler.

So vielfältig die Meinungen, so mühselig wäre es, diese alle hier aufzuzählen. Da geht es mal um eine Theorie des „Post Pragmatic Joy“, die Leif Randt in seinem entstehenden Roman beschreibt als solche Tätigkeiten, die eben nicht zweck- und zielorientierte Hobbies sind, sondern solche, die „eine höchstmögliche Lebensqualität gewährleisten“. Postpragmatische Zustände, so Leif Randt, gibt es in gegenwärtigen Gesellschaften noch nicht, allenfalls im „Flirren über den Füllwörtern, [als] geheime Antwort, die noch keiner kennt“. Daneben gibt es auch aus dem Ruder laufende Textgebilde, wie das von Katja Brunner, in dem man sich nicht recht orientieren kann und vielleicht auch gar nicht soll. Es gibt das die Gegenwart einholen wollende Bekenntnis Jan Brandts oder das intertextuell hochgradig vernetzte Bekenntis von Kenah Cusanit, die sich am Ende zwar auf die Seite der Wissenschaft schlägt, von der Litertur aber auch nicht lassen will.

Viele der Bekenntnisse lesen sich spannend, geben Einblicke in das Denken rund um Literatur und die Abgründe und Zweifel, die damit ganz eng zusammenhängen. Da erstaunt es doch sehr (aber auch nicht allzu sehr), dass alle Bekenner und Bekennerinnen das lieben, was sie tun: Literatur machen.

BELLA triste. Zeitschrift für junge Literatur. Sommer 2014.
Heft 39
Bella Triste, Hildesheim 2014.
191 Seiten, 5,35 EUR.
ISBN 9783123456787