Studentische Kalenderweisheiten
Julia Engelmanns Slam-Poesie versagt vor der „Automatischen Literaturkritik“
Von Lisa-Marie George
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseJulia Engelmanns Texte sind nicht preiswürdig. Sie mögen hitverdächtig sein, wenn es um Klickzahlen auf YouTube geht, oder das Publikum begeistern, wenn sie bei einem Poetry Slam vorgetragen werden. Doch als geschriebener Text, wie in ihrem Erstlingswerk „Eines Tages, Baby“, werden die Gedankengänge der Psychologiestudentin zu einer langweiligen Farce.
„Alle schlechten Texte gleichen einander, jeder gute Text ist auf seine eigene Weise gut.“ So beantwortet die internetaffine Autorin Kathrin Passig die Frage danach, was einen guten Text ausmacht. Zur Beurteilung hat sie gemeinsam mit Kollegen eine Kriterienliste erstellt, anhand derer seit 2008 der „Preis der Automatischen Literaturkritik“ der „Riesenmaschine“ im Vorfeld der Verleihung des Bachmannpreises vergeben wird (die Kriterienliste ist online auf riesenmaschine.de einsehbar). Dabei bestrafen Minuspunkte, laut Passig, das Abgegriffene und Überstrapazierte und belohnen Pluspunkte das Seltene und Unvorhersehbare.
Versuchsweise sollen für Engelmanns Slam-Lyrik Punkte vergeben werden, denn gemessen an den Kriterien des Katalogs handelt es sich bei ihren Texten keineswegs um etwas Außergewöhnliches und überraschend Neues in der deutschen Literatur der Gegenwart:
Die Autorin kann zwar damit punkten, dass die Mutter bei ihr eine positiv besetzte Rolle spielt (Punkt 47 des Kriterienkatalogs), doch ob es beabsichtigt war, dass ihr lyrisches Ich unsympathisch wirkt (Punkt 32), ist nicht eindeutig erkennbar und wird daher nicht mit einem Pluspunkt belohnt.
Da überwiegen schon eher die negativen Kriterien auf dem Punkte-Konto. Am treffendsten für Engelmanns Texte ist wohl die Wertung „Bildungszitat (2 Minuspunkte für Songtextzeilen; Punkt 56)“. Achja, „one day, baby, we’ll be old…“ Unglücklicherweise enthält auch noch der Titel des Textes („One Day / Reckoning Text“) ein Satzzeichen, das kein Komma ist (Punkt 35). Oh Schreck! Allein mit diesem Slam-Beitrag hat Engelmann sich sämtliche Chancen auf ein paar Pluspunkte verdorben.
Insgesamt bieten die Themen von Engelmanns kleinem Bändchen ein ebenso breites Spektrum wie der Blick in eine Frauenzeitschrift (Punkt 94). Ihre „Überlegungen zum Alterungsprozess“ (Punkt 108) ergehen sich in Sätzen wie „Und Kinder, wie die Zeit vergeht, / jetzt bin ich nicht mehr ganz so klein. / Aber Erwachsenwerden heißt ja nicht, / dass ich aufhören muss, ein Kind zu sein.“ Erich Kästner hatte es kaum schöner sagen können, nur eben ein paar Jahrzehnte früher.
Die Frage danach, wer oder was ‚Ich‘ sei (Punkt 64), wird für den Leser ebenso wenig klar, wie für das lyrische Ich selbst. Der Text „Stillleben“ beginnt mit „Ich hatte einen Traum, das ist nicht lange her. / Ich stand vorm Spiegel und wusste nicht, wer ich war. / Und morgens klopfte dann der Tag an die Tür, / und ich wurde wach, und dann wurde es wahr.“ Ein schwerwiegendes Problem, das die Autorin hier leider in faden Sätzen beschreibt. Dafür kann es nur einen Minuspunkt geben.
Ihren Eltern hat Engelmann ebenfalls einen Text gewidmet. „Für meine Eltern“ handelt von der kindlichen Dankbarkeit, die das Ich in Worte fassen möchte. Leider drängt sich hier der Vergleich mit einer Abiturzeitungs-Vielen-Dank-Mami-und-Papi-Litanei auf. „Ihr gebt mir Wurzeln in die eine und Flügel in die andere / Hand […].“ Mit diesem schrägen Bild zitiert die Autorin leidenschaftlich Pädagogik-Ratgeber für angehende Väter und Mütter. Für die Eltern-Kind-Thematik (Punkt 89), wie sollte es anders sein, erhält dieser Text einen weiteren Minuspunkt.
Ein Thema scheint die junge Autorin besonders zu beschäftigen. Damit findet sie sich unter zahlreichen Frauen und Mädchen wieder, deren Gedanken tagtäglich nur um eins kreisen: die Liebe. „Wir hocken verkrampft hier auf meinem Balkon, / plänkeln um das herum, was zählt, / dabei hätten wir beide so vieles zu sagen, / dabei haben wir beide doch vieles gefühlt.“ Für nicht besonders kreativ ausgemalte Paarbeziehungs-Liebeskummer-Weinkrämpfe vergibt die „Automatische Literaturkritik“ sogar gleich zwei Minuspunkte (Punkt 87 und 88).
Allerdings sollte man nicht übersehen, dass Engelmann durchaus gute Einfälle hat, die sie leider durch unnötig häufige Wiederholungen in ihr Gegenteil verkehrt. Zu ihren Lieblingswörtern zählen: „sommernachtstraumhaft“, „melankomisch“, das Bild der Füße als „Stempel“ oder das „fußmattengroße Stempelkissen“ und das „Denkarium“ als Harry-Potter-Gedächtnis-Zitat. Einzig ein Text gleicht einem Lichtblick im Trott des Immergleichen: „Über stille Poeten“ ist einer von zwei Texten, in denen es endlich mal nicht um das „Ich“ oder das „Du“ geht. Angenehm unangestrengt wird hier von Menschen erzählt, die ihre verborgenen Talente nicht preisgeben. „Es gibt laute Redner und laute Dichter, / Autoren, Sänger und Propheten, / die sich Gehör verschaffen und Zuspruch suchen. / Und dann gibt’s noch die stillen Poeten.“ Schade, dass nicht auch Engelmann zu diesen stillen Poeten gehört, denn oftmals fehlt ihren Texten das subtile Sinnstiften und viel zu oft versucht sie, sich mit abgenutzten Phrasen Aufmerksamkeit zu verschaffen. Über die Illustrationen der Autorin sollte man lieber ganz schweigen – und Engelmann hätte das besser auch getan, anstatt sich am Schluss beim Verlag dafür zu bedanken, dass sie „Strichmännchen zeichnen durfte“.
Doch machen die vergebenen Punkte aus Julia Engelmanns literarischen Eingebungen nun einen schlechten Text? „Die Automatische Literaturkritik kann nicht feststellen, was gute Literatur ist. Sie kann nur feststellen, was Literatur ist, die zu den Präferenzen der Kriterienfestlegenden passt.“ Manchen mag das Abnutzen emotionaler Allgemeingültigkeiten gefallen – und mündlich vorgetragen wirken Engelmanns Texte sicherlich besser, da man die eben gehörten Worte auch schneller wieder vergisst. Als geschriebener Text bleiben die Gedankenblitze der Autorin wenig scharfsinnige Hau-Drauf-Platitüden im studentischen Jahresplaner. Dafür vergibt die „Automatische Literaturkritik“ insgesamt vier Minuspunkte.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen