Auschwitz und (k)ein Ende

Zwei Streitschriften von Henryk M. Broder und Peter Ambros

Von Bastian ReinertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bastian Reinert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die aktuelle Eskalation des Nahostkonflikts hat in Europa, vor allem jedoch in Deutschland, eine erneute Auseinandersetzung mit dem beinahe schon verschwunden geglaubten Antisemitismus notwendig gemacht. Gewiss ging auch vor den jüngsten Unruhen im Gazastreifen hierzulande niemand ernsthaft davon aus, dass der Antisemitismus in Deutschland gänzlich verschwunden sei, doch tröstete man sich (oder fand sich ab) mit den so moderaten Schätzungen wie derjenigen des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung, dass ‚nur‘ etwa zehn Prozent der deutschen Bevölkerung noch oder wieder antisemitische Ressentiments hegten.

Dass aber „das Jüdische“ weiterhin „der Stachel im Fleisch der Moderne“ bleibe, wie Armin Nassehi kürzlich schrieb, beweisen die mehr als hundert antiisraelischen Demonstrationen allein in Deutschland mit trauriger Eindeutigkeit, die in beinahe allen Fällen von deutlich rassistischen und antisemitischen Parolen begleitet wurden. Allein die friedliche Demonstration „Hand in Hand gegen Gewalt“ in Bremen stellte eine der wenigen Ausnahmen dar, aber auch dies nicht mangels antisemitischen Sektierertums, sondern kam es im Zuge dutzender Demonstrationen sogar zu Übergriffen auf Juden. In vielen deutschen Städten blieb es jedoch nicht bei verbalen Attacken, sondern es kam im Zuge dutzender Demonstrationen auch zu Übergriffen auf Juden. In Nürnberg, der Heimatstadt der „Rassegesetze“ werden sogar vermeintlich ‚jüdisch geführte‘ Imbissbuden gestürmt.

Auch in Frankreich, wo die größte jüdische Gemeinde Europas lebt, wurden inzwischen Synagogen und jüdische Geschäfte attackiert. Als im letzten Jahr der 75. Jahrestag der sogenannten Reichskristallnacht von 1938 von einer Welle von Gedenkveranstaltungen begleitet wurde, konnte sich wohl niemand vorstellen, dass es ausgerechnet im vergangenheitsbewältigten Deutschland je wieder zu ähnlichen Ausschreitungen kommen könnte. Aus aktuellem Anlass scheint daher die Beschäftigung mit den zwei Streitschriften von Henryk M. Broder und Peter Ambros zur Wirkungslosigkeit der ewigen Gedenkroutine und ihrer impliziten Verharmlosung geboten.

Schlussstrich I: Wider die Erinnerung als Verdrängung

Ganz sicher hätte Adorno, als er 1966 über die Frage nach der „Erziehung nach Auschwitz“ nachdachte, die Forderung, Auschwitz zu vergessen, entschieden abgelehnt. Allerdings hat er vor 50 Jahren auch nicht absehen können, welche bizarren Blüten die deutsche Erinnerungskultur einmal treiben würde und dass ausgerechnet ein Historiker anlässlich einer Feier zum fünfjährigen Bestehen eines damals noch unvorstellbaren Berliner Denkmals für die ermordeten Juden Europaseinmal stolz verkünden könnte, es gebe „Völker, die uns um dieses Mahnmal beneiden“ (Eberhard Jäckel). „Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei“, heißt es in Adornos Vortrag, müsse „die allererste an Erziehung“ sein. Neben der frühkindlichen Erziehung, die mit mehr Liebe und Wärme zu erfolgen habe, dachte er im Sinne der Prävention einer Wiederholung von Auschwitz dabei vor allem an die „allgemeine Aufklärung“, da „das Ungeheuerliche“, für das Auschwitz stehe, noch „nicht in die Menschen eingedrungen“ sei, was wiederum ein „Symptom dessen [sei], daß die Möglichkeit der Wiederholung […] fortbesteht.“

Und nun fordert Henryk M. Broder, ein Enkel von in der Shoah Ermordeten, ein Sohn von Eltern, die Auschwitz und Buchenwald überlebt haben, allen Ernstes Auschwitz zu vergessen: Vergesst Auschwitz! Der deutsche Erinnerungswahn und die Endlösung der Israel-Frage. Der Titel des Buches klingt zunächst wie der Versuch eines kalkulierten Eklats, wie der unbedingte Wunsch danach, einen Aufschrei der Empörung auszulösen. Broder, einer der profiliertesten Publizisten Deutschlands, ein weithin geschätzter, oft auch wegen seiner Kompromisslosigkeit gefürchteter Polemiker, hat hier aber kein revisionistisches Pamphlet, sondern eine hoch aktuelle, gar dringliche Streitschrift vorgelegt.

Die Deutschen unterstellen sich immer wieder gegenseitig, sie würden den Holocaust am liebsten vergessen; gleichzeitig spielt er eine immense Rolle im politisch-kulturellen Selbstverständnis auch der nachgeborenen Generationen, die sich trotz der von Helmut Kohl seinerzeit beschworenen „Gnade der späten Geburt“ keineswegs aus der Verantwortung entlassen sehen, die Erinnerung an das Grauen des Völkermordes an den Juden wach zu halten. Ist das ein Widerspruch? Nein, meint Broder, denn genau darauf zielt seine Provokation, ist doch die inzwischen zu beobachtende Ritualisierung von Gedenken lediglich Ausdruck dieses nationalen Selbstverständnisses, nicht aber eigentliches Erinnern, dessen Zweck ohnehin fragwürdig geworden ist.

Vor diesem Hintergrund ist es in der Tat einmal angebracht, darüber nachzudenken, was es denn ist, das diese deutsche Erinnerungskultur, die Broder als „Erinnerungswahn“ beschreibt, eigentlich antreibt. Seine These ist, dass die bereits zur leeren Geste verkommenen Erinnerungsrituale in erster Linie keinem wie auch immer gearteten, selbst auferlegten Aufarbeitungsgebot mehr dienen, sondern inzwischen im Namen der Vergangenheit von der Gegenwart ablenken sollen – und damit von der deutschen Nahostpolitik, die nach Broder von zum großen Teil antizionistischen Impulsen bestimmt sei. In diesem modernen Antizionismus sieht er keineswegs eine Fortführung der üblichen antisemitischen Ressentiments, sondern ein teils anhaltendes, teils neu entstandenes Bedürfnis nach Entlastung. War Antisemitismus vor Auschwitz im Wesentlichen auf Ausgrenzung und Diskriminierung beschränkt, so wäre nach Auschwitz „ein offenes Bekenntnis zum Antisemitismus eine retroaktive Beihilfe zum Massenmord“ und daher heute derart tabuisiert, dass Antisemiten auf „Nebenwege“ ausweichen müssten.

Broder geht es um die Selbstgefälligkeit der deutschen Kritik an der Politik Israels, die – das hat Günter Grass im Frühjahr 2012 mit seinem israelikritischen Gedicht „Was gesagt werden muss“ vorgemacht – inzwischen nicht mehr auskommt ohne die Begleitformel, dass man diese Kritik doch nun wirklich vor dem Hintergrund der Geschichte und gerade wegen der besonderen Beziehung zwischen Deutschland und Israel nach der Shoah anbringen dürfe, ja, dass es geradezu eine Pflicht der Deutschen sei, sich in den Nahostkonflikt einzubringen. Aber „wenn es möglich ist, die Politik der israelischen Regierung zu kritisieren“, schreibt Broder, „dann muss es auch möglich sein, die Motive jener zu hinterfragen, die es tun.“ Denn oftmals gehe es bei den deutschen Resolutionen, Invektiven und Initiativen „nicht um das Recht der Israelis auf einen eigenen Staat oder das Unrecht, das den Palästinensern angetan wurde, es geht darum, ein Heilmittel für das Leiden an der eigenen Krankengeschichte zu finden. […] Je mieser sich die Israelis den Palästinensern gegenüber benehmen, umso weniger schuldbeladen fühlen sich die Deutschen gegenüber den Juden. Es findet sozusagen ein Lastenausgleich unter dreien statt.“

Warum, fragt Broder, gibt es in der deutschen Politik und Öffentlichkeit gleichermaßen eine solche Fokussierung auf Israel, so viele propalästinensische Demonstrationen, aber kaum oder keine Kampagnen vor den Botschaften von Kuba und Nordkorea, um gegen die Zustände zu protestieren, denen politische Gefangene in diesen Ländern ausgesetzt sind? Warum keine Initiativen zu Tibet, Darfur und anderen Konflikten, die zum Teil schon länger schwelen und mehr Todesopfer gefordert haben als der im Nahen Osten? Warum meint eine Aachener Bürgermeisterin nicht nur, es müsse „möglich sein, auch die israelische Politik zu kritisieren“, sondern auch zu wissen, dass es dort „eine Regierung [gebe], die dem israelischen Volk schadet“?

Broder behauptet nicht, dass die israelische Regierung (oder genauer: Die israelischen Regierungen) in der jüngsten Vergangenheit keine Fehler gemacht hätte, sieht aber – und dies ist ausführlich, erschütternd und zugleich überzeugend dargestellt – das Problem darin, dass Israel in der hiesigen Medienberichterstattung vielfach als der Aggressor dargestellt und ihm gleichsam unterstellt werde, so erst Recht Ressentiments zu schüren. Wer jedoch in diese Argumentationslogik verfällt, folgt einem (oder übersieht das) gängige Muster, nach dem die Wurzeln des Antisemitismus nicht in den Judenfeinden zu suchen seien, sondern in den Juden selbst. Damit wäre ein rhetorischer Zirkelschluss gezogen, der die Juden einfach immer Schuld sein lässt, egal ob sie sich emanzipieren oder assimilieren, auswandern oder einwandern. Dass vor dieser antisemitischen Propaganda nicht einmal linke Publizisten halt machten, die sich offiziell als Antifaschisten verstanden, die angeblich per se nicht antisemitisch sein konnten, war zuletzt in Wolfgang Kraushaars Studie zu den „antisemitischen Wurzeln des deutschen Terrorismus“ unter dem Titel „Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?“ (2013) gut aufbereitet nachzulesen. Aber auch Broder hatte den deutschen Antizionismus, den er seit den 1970er-Jahren beobachtete und kommentierte, eben nicht nur in der rechten Szene, sondern gerade in der politischen Linken verortet und Mitte der 1980er-Jahre bereits mit einigem Aufsehen in seinem Buch Der ewige Antisemit beschrieben.

Nachdem im Sommer 1976 eine Air-France-Maschine von zwei Terroristen der „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ und zwei Angehörigen der deutschen „Revolutionären Zellen“ entführt und schließlich von einem israelischen Sonderkommando (‚Operation Entebbe‘) befreit wurde, war nach Broder in der medialen Reaktion der Stein des Anstoßes nicht etwa „die Entführung der Maschine und die Selektion der jüdischen Geiseln – die erste nach 1945 –, es war die israelische Aktion zur Befreiung der Geiseln“. Eine Aktion nämlich, die nach linkem Verständnis die Souveränität Ugandas und seines mordenden Machthabers Idi Amin, des ‚Schlächters von Afrika’, verletzt habe.

In der linken Presse war damals von Israel als einem „grausame[n] Feind“ die Rede, „der auch vor Völkermord nicht zurück“ schrecke, man sprach von „israelischen Faschisten“ oder gar von „faschistische[m] Terror“, in dem die Zionisten als „die Nazis unserer Tage“ erkannt wurden. Selbst Klaus Rainer Röhl, Herausgeber der linken Zeitschrift „konkret“, den Broder als „antisemitischen Jammerlappen“ beschimpft, reaktivierte klassische antisemitische Stereotype vom geldgierigen, parasitären Juden, indem er Israel tatsächlich als ein „mit geraubtem Land und geschnorrtem Geld errichtetes künstliches Gebilde“ bezeichnete.In diesem Kontext war es auch nicht allzu überraschend, dass sich diese Parolen von einst jüngst auch auf Bannern, Pappschildern und Transparenten wiederfanden, als vorgeblich unbescholtene Bürger im Namen der freien Meinungsäußerung in deutschen (und anderen) Großstädten gegen die neuerliche Eskalation des Nahostkonflikts auf die Straße gingen. Auf den Schildern wütender Demonstranten vermischten sich abermals rechtsextreme, linksautonome und islamistische Parolen zu einer antijüdischen Aggression, die der Annahme, man habe in Deutschland in Sachen Antisemitismus auf der einen und Integration auf der anderen Seite doch inzwischen einiges erreicht, Hohn sprachen. Denn einzig integrativ scheint der Hass auf die Juden zu sein, dessen unleugbare Virulenz allerorten abzulesen war: „Stop the Holocaust!“ (Frankfurter Zeil), „Hamas! Hamas! Juden ins Gas!“ (Gelsenkirchen), „Tod den Juden“ (Essen) und „Schlachtet die Juden ab!“ (Brandenburger Tor).

Was damals wie heute zu beobachten ist, fasst Broder stimmig zusammen als „Verlagerung der eigenen Vergangenheit auf Israel“, die den deutschen Wiedergutmachern wiederum zu ihrer „Wiedergutwerdung“ verhelfe (Eike Geisel). Denn worauf diese Vergleiche damals zielten, das war der noch immer unerfüllte Wunsch nach deutscher Entlastung. Er zeigte sich auch deutlich in der Walser-Bubis-Debatte Ende 1998 und vielleicht am deutlichsten in der Stellungnahme Klaus von Dohnanyis in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, als er mahnte, „auch die jüdischen Bürger in Deutschland“ hätten sich zu fragen, „ob sie sich so viel tapferer als die meisten anderen Deutschen verhalten hätten, wenn nach 1933 ‚nur’ die Behinderten, die Homosexuellen oder die Roma in die Vernichtungslager geschleppt worden wären“.

Broder machte damals in einer Entgegnung im „Tagesspiegel“ darauf aufmerksam, dass Dohnanyis vorgeblich um Ausgewogenheit bemühte Mahnung in Wahrheit eine der vielen (möglicherweise unbewussten) Entlastungsstrategien derer war, die damit nicht nur Martin Walser zu rehabilitieren versuchten. Denn die Antwort auf eine solche Frage, nämlich dass Juden, wenn sie selbst nicht verfolgt gewesen wären, sich gewiss nicht „tapferer“ verhalten hätten, mache gewiss „die jüdischen Bürger in Deutschland“ schließlich keinen Deut schlechter, vor allem aber die Nazis um nichts besser. Zu Recht meinte Broder seinerzeit, dass der Subtext von Dohnanyis Frage in der „unausgesprochenen Überlegung“ bestehe, „dass es nur eine Laune des Zufalls war“, dass die Deutschen die Täter und die Juden die Opfer waren.

Derselben Logik folgen auch heute noch Gleichsetzungen wie jene von Gaza mit dem Warschauer Ghetto, um die es Broder in seinem aktuellen Buch geht, denn die rhetorische Perfidie des Vergleichs liege genau darin, dass er in beide Richtungen plausibel erscheine: Er dramatisiere die Lage der Palästinenser und verharmlose gleichzeitig das Warschauer Ghetto. Bald werde es heißen: „Wer über Gaza nicht reden will, der soll von Auschwitz schweigen.“

Tatsächlich ist Broder, ganz in der Manier pointierter Überzeichnung und bei aller nachvollziehbaren Frustration angesichts solcher Vergleiche, an dieser Stelle aber leider nicht gründlich genug. Eine eingehendere Analyse dessen, dass die Solidarität mit den Palästinensern oftmals unter der Perspektive erfolgt, dass sie ausschließlich als Opfer der israelischen Politik, nicht aber auch als Opfer der Hamas und der Hisbollah wahrgenommen werden, hätte Broders Thesen zu mehr Gewicht verhelfen können. Ganz deutlich wurde dies nämlich jüngst durch die multimediale Offensive der Hamas via YouTube und Co., welche die internationale Rezeption der abermals eskalierten Situation in Nahost zugunsten der Palästinenser beeinflussen konnte, indem Fotos und Videos vom Leid der Bevölkerung im Gazastreifen Israel als den eigentlichen Aggressor dastehen ließ. Unterschlagen wurde in diesen (Selbst-)Darstellungen aber, dass die Palästinenser auch Opfer der Hamas geworden waren, indem sie von ihr als menschliche Schutzschilde und ihre Unterkünfte als Waffenstützpunkte oder Raketenabschussbasis benutzt wurden.

Dass die israelische Regierung auf Anschläge militanter und extremistischer Islamisten mit unverhältnismäßiger Gewalt und Brutalität reagiert hat, ist durch diese Social Media-Kampgange – das unterstreichen die anhaltenden Debatten ganz offenkundig – kaum noch diskutierbar. Dass die israelische Regierung auf Selbstmordattentate und Raketenbeschuss durch die Hamas reagieren muss, ist selbstverständlich. Auch dass sie in Folge der grausamen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts und der anhaltenden geopolitischen Bedrohung durch die Nachbarn traumatisiert ist, wird niemand in Abrede stellen. Allein die Fragen der Verhältnismäßigkeit und der verwendeten Mittel im Hinblick auf eine auch der militärischen Aktionen doch wohl zugrunde liegenden Hoffnung auf Frieden, müssten indessen differenzierter geführt werden als es bisher oftmals der Fall ist. Das Werben Dieter Graumanns, des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, um „mehr Solidarität aus der deutschen, nicht-jüdischen Gesellschaft“ war angesichts der erschreckenden antisemitischen Ausschreitungen in Deutschland (und Europa) noch ziemlich verhalten.

Bei Broders Kritik an den deutschen Medien, der deutschen Politik und Erinnerungskultur handelt es sich insgesamt keinesfalls um beliebige Beispiele oder vereinzelte Entgleisungen, die man vielleicht hinnehmen muss, sondern um ein eklatantes Missverhältnis zwischen routiniert ritualisierten Gedenkveranstaltungen und einem mangelnden aktuellen Bewusstsein für die Situation Israels. Alle Wohlmeinenden beispielsweise, die Ahmadinedschad nach dessen Äußerungen auf einer Konferenz zum Thema „The World without Zionism“ zur Hilfe eilten und um Differenzierung warben, als man über die genaue Übersetzung dessen stritt, was Ahmadinedschad auf Farsi über die Auslöschung Israels gesagt hatte, strafte der damalige iranische Präsident wenig später im Mai 2011 Lügen, als er Israel als „Krebsgeschwür“ bezeichnete, das „aus dem Körper“, also dem Nahen Osten, „entfernt werden“ müsse.

Nicht polemisch, sondern bitter desillusioniert fragt Broder, was man von den wohlfeilen Erinnerungsritualen der deutschen Gedenkroutine zu halten habe, wenn sich die Bundesregierung selbst nach solchen Ausfällen außerstande sieht, die diplomatischen Beziehungen zum Iran abzubrechen, sondern im Gegenteil weiterhin die deutsch-iranischen Handelsgeschäfte pflegt, die die Lieferung jener Tunnelbohrmaschinen garantiert, die für die Urananreicherung und damit für den Bau der Atombombe unerlässlich sind. „Die Deutschen sind dermaßen damit beschäftigt“, resigniert Broder, „den letzten Holocaust nachträglich zu verhindern, dass sie den nächsten billigend in Kauf nehmen.“ Denn gerade deutsche Politiker sähen ihre historische Verantwortung in ihren Gedenkreden und im Wachhalten der Erinnerung an die Shoah, nicht aber darin, „die kommende Endlösung der Nahostfrage zu verhindern“. Immer wieder werde Israel zwar dazu aufgefordert, die Hamas anzuerkennen, „niemals aber die Hamas, jene Paragrafen aus ihrer Charta zu streichen, die sich mit der Vernichtung von Israel beschäftigen“.

Genau darauf bezieht sich der provokante Titel des Buches, nämlich darauf, die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen und sich statt um die toten um die lebenden Juden und damit um das Existenzrecht Israels in Gegenwart und Zukunft zu kümmern. Denn was nütze die „gigantische Erinnerungs- und Gedenkindustrie“, Vereine wie der „Gegen das Vergessen“, ca. 120 Holocaust-Gedenkstätten allein in Deutschland, jährlich 800.000 Besucher im ehemaligen KZ Dachau sowie Hunderttausende Schüler in Auschwitz, Zentren für Antisemitismusforschung und Stiftungen wie „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, wenn doch die Zukunft Israels durch das Atomprogramm des Nachbarn heute gefährdeter sei denn je? Darum endet das Buch neben der Hoffnung auf eine konsequente Solidarität mit den Juden im Nahen Osten auch mit dem dringenden Appell: „Vergesst Auschwitz! Denkt an Israel – bevor es zu spät ist.“

Schlussstrich II: Wider die Verharmlosung durch Routine

Als im Sommer 1995 bei einem Bombenattentat im österreichischen Oberwart (Burgenland) vier Roma ums Leben kamen, schob der damalige Vorsitzende der rechtspopulistischen FPÖ, Jörg Haider, den Ermordeten die Schuld an ihrem Tod gleich selbst in die Schuhe, indem er zynisch fragte: „Wer sagt, dass es da nicht um einen Konflikt bei einem Waffengeschäft, einem Autoschieber-Deal oder um Drogen gegangen ist?“ Tatsächlich ermittelten die Behörden zunächst im Umkreis der inkriminierten Toten, deren Häuser durchsucht und deren Angehörige und Freunde als Verdächtige behandelt wurden. Auch die deutschen Medien berichteten über diesen Vorfall, man echauffierte sich über die Vorgänge in Österreich, das aus seiner Geschichte noch immer nichts gelernt habe, denn frappierend war die Blindheit der ermittelnden Behörden gegenüber rechtsradikaler Gewalt, die sich in Übergriffen auf Ausländer, Asylbewerber und Immigranten entlud.

Nur wenige Jahre später aber begann in Deutschland eine Mordserie einer heute als Zwickauer Zelle oder NSU bekannten Gruppe von Rechtsradikalen. Auch hier stellte sich heraus, dass die Behörden jahrelang davon ausgegangen waren, dass die Opfer, allesamt Immigranten, mit der Mafia im Bunde oder mindestens im Drogenmilieu verankert gewesen sein mussten. Was also hatten in Deutschland die Behörden, die Politiker, die Medien und die Öffentlichkeit gelernt? Auch hier war die unmittelbare Folge der Verbrechen nicht etwa Sympathie und Solidarität mit den Angehörigen der Ermordeten, sondern Skepsis, Ablehnung und die gesellschaftliche Isolation der Opfer, denn wer erst einmal zum zwielichtigen Milieu gerechnet wird, ob berechtigterweise oder nicht, hat in der öffentlichen Wahrnehmung eben selbst Schuld, wenn er darin umkommt.

Peter Ambros macht in Das wortreiche Schweigen die politisch-mediale Aufarbeitung im Zuge des NSU-Prozesses, der nach und nach die skandalös fremdenfeindliche Ermittlungsarbeit der deutschen Behörden aufdeckt, zum Ausgangspunkt seines Buches über das „deutsche Schweigen“, das die bundesrepublikanische ‚Bewältigung‘ der Shoah begleite, und zieht zu Recht Parallelen „zwischen dem Gedenken der Naziverbrechen und der Behandlung akuter Gewalttaten der Neonazis“ heute. Denn das „Erschütternde an den eisernen Gesetzen der nationalen Neurose“ sei auch in Deutschland „die notorische Blindheit auf dem rechten Auge“. Offenbar – und das ist Ambros’ ebenso wie Broders zentrale Kritik am deutschen Erinnerungsdiskurs – haben alle Bemühungen um ‚Aufarbeitung‘ und ‚Bewältigung‘ der Vergangenheit zu keinem langfristigen Lerneffekt geführt. Nicht einmal die seit Jahren schon vernehmbare Kritik an den ritualisierten Trauergesten scheint in der Politik angekommen zu sein, musste man doch staunenden Auges noch im Februar 2012 bei der Gedenkfeier für die NSU-Opfer im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt realisieren, dass es hier nicht um die Hinterbliebenen ging, schon gar nicht um die Opfer, sondern um eine mediale Inszenierung öffentlicher Trauer, um – wie Ambros schreibt – eine reine „PR-Maßnahme“, damit „draußen in der Welt kein ‚falsches Bild‘ von Deutschland“ entstehe.

Ambros’ Bogen scheint weit gespannt zu sein von den Trauer- und Gedenkfeiern anlässlich der Novemberpogrome von 1938, des Widerstands am 20. Juli 1944, der Befreiung von Auschwitz im Januar und der Bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht im Mai 1945 bis hin zu jenen für die Opfer rechter Gewalt in der jüngsten Vergangenheit. Jedoch werde hier wie dort deutlich, dass eine „sinnvolle Erinnerung in Politikerreden und in den Ritualen des öffentlichen Gedenkens nicht möglich“ sei, sodass Ambros fordert, man möge mit dem „wortreichen deutschen Schweigen“, also dem Gedenken, doch „besser aufhören“. Anders als Broder aber, der mit seinem provokanten Plädoyer für das Vergessen der Vergangenheit zugunsten einer proaktiven Gegenwart und Sicherung der Zukunft Israels eintritt, ist Ambros’ Streitschrift wenig zielgerichtet. Thesenarm zwischen Erfahrungsbericht, Gesellschaftsanalyse und Autobiografie im Plauderton changierend, geriert sich der schmale Band als Abrechnung – wohlgemerkt mit „Frau Bundeskanzlerin“, der das Buch zu allem Überfluss auch noch gewidmet ist. Mit „aller Bescheidenheit [möchte Ambros] in die Fußstapfen von Émile Zola treten und aufschreien: ‚J’accuse, Frau Merkel!‘“.

Dieser Stoßrichtung entsprechend lautet denn auch die prätentiöse Überschrift des ersten Kapitels „Ich rechne ab“ und Ambros tut dies – rhetorisch und stilistisch eher dürftig – „mit vier Jahrzehnten Heuchelei und Selbstbetrug, die ich in Deutschland über mich ergehen ließ. Ich rechne ab mit der Lüge von der Kollektivschuld der Deutschen. Ich rechne ab mit der Weigerung, das Aussprechen der Wahrheit über die Geschichte der Hitlerei und über den Umgang mit dieser Geschichte in der Gegenwart zuzulassen. Ich rechne ab mit dem Gedenken und seinen Ritualen.“ Nichts Geringeres nimmt Ambros sich summa summarum vor als die „kranke deutsche Seele einer Therapie zu unterziehen“.

Dass diese eine solche Therapie durchaus nötig hat, daran sei – gerade auch im Hinblick auf Broders Thesen – gar nicht gezweifelt. Auch angesichts dessen nicht, worüber sich Ambros im Kontext der deutschen Gedenkroutine ganz zu Recht ärgert – dass beispielsweise die Wahl des 27. Januars für den „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ einen merkwürdigen Beigeschmack habe. Denn warum, so muss man sich in der Tat fragen, wurde ausgerechnet der Tag der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee, der doch für die Überlebenden ein Glückstag und damit noch heute ein Feiertag ist, 1996 unter Roman Herzog in Deutschland als Trauertag eingeführt und 2005 von der UNO unter Vorsitz Kofi Anans als internationaler Gedenktag durchgesetzt? Warum, so fragt Ambros, wählte man für einen solchen Gedenktag nicht etwa den 20. Januar, an dem 1942 auf der Wannseekonferenz die „Endlösung der Judenfrage“ und damit die Vernichtung der europäischen Juden beschlossen wurde? Oder besser noch den 15. September, an dem 1935 die „Nürnberger Rassegesetze“ verabschiedet wurden, die die deutlichsten Vorboten von Vertreibung und Ermordung der Juden waren?

„Was bedeutete“, fragt Ambros folglich, „der 27. Januar 1945 für die deutsche Nation in den Augen der Weltöffentlichkeit? Es war der Tag der schrecklichen, der nicht mehr widerlegbaren Enthüllung. Der Tag der für alle schaubaren Wahrheit über die Gaskammern und die Krematoriumsöfen, über die Halden der Kinderschuhe und Zahnprothesen, der Tag der deutschen Schande. Wir dürfen und müssen also folgern, dass das deutsche Gedenken eine Funktion der Scham nicht über die begangenen Verbrechen, sondern über das Erwischt-worden-Sein ist.“

Tatsächlich werden die (nichtjüdischen) Deutschen, sobald die öffentliche Erinnerung inszeniert wird, gewissermaßen zu Pawlow’schen Hunden mit zwei möglichen Reflexen: einerseits sprechen sie in einem „in floskelhaften Redewendungen kanalisierten Jargon der Betroffenheit“ (Salomon Korn), andererseits verweisen sie zur eigenen Entlastung gerne auf die aktuelle Politik Israels. Beides sind klar erkennbare Formen der Verdrängung und Verschiebung, die Ambros – anders als Broder, mit dem er in diesem Punkt ganz einig ist – leider nicht näher untersucht. Mit Leichtigkeit hätte er beispielsweise an die epochale Studie von Margarete und Alexander Mitscherlich anschließen können, die in Die Unfähigkeit zu Trauern bereits Ende der 1960er-Jahre die Entlastungsversuche der Deutschen damit erklärten, dass sie ihre „affektiven Brücken“ zur Vergangenheit einfach abgebrochen hatten, um der „eigenen Entwertung“ zu entgehen. Statt in Betroffenheit verfielen sie in Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern, während sie sich selbst als Spielball böser Mächte sahen, die sie ihres Führers beraubt hatten. Es ist diese Selbstidentifikation als Opfer, die sich bis heute als Allgegenwärtigkeit einer gewissen Gleichgültigkeit erkennen lässt und die sich in genau jenen Politikerreden als ritualisierte Trauergesten manifestiert, mit denen Ambros lieber „abrechnet“ anstatt ihre Rhetorik zu analysieren.

Bereits Adorno warnte – ebenfalls Ende der 1960er-Jahre – vor der „idealistischen Phrase“ im Umgang mit Auschwitz und fragte sich in seinem Vortrag „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“ angesichts rückwärtsgewandter Aufklärungsversuche (nicht nur der Alliierten), „wie weit es geraten sei, bei Versuchen öffentlicher Aufklärung aufs Vergangene einzugehen, und ob nicht gerade die Insistenz darauf trotzigen Widerstand und das Gegenteil dessen bewirke, was sie bewirken soll“. Wie sehr sich aber die Politik ebenso wie die Öffentlichkeit Ende der 1980er-Jahre längst in der „idealistischen Phrase“ eingerichtet hatte, zeigte sich besonders deutlich an der Rede des damaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger anlässlich des 50. Jahrestages der Novemberpogrome, die Ambros ebenfalls kurz streift – allerdings ohne sie und die Debatte, die sie auslöste, eingehender zu betrachten.

Besonders hier hat Ambros die Chance vertan, den Gegenstand seines Buches, nämlich den nichts sagenden „Jargon der Betroffenheit“ einmal an einem konkreten Beispiel wie der Diskussion um Jenningers Rede zu explizieren. Denn diese Rede, später als Jenninger-Rede bekannt geworden, wurde zum absoluten Polit- und Medienskandal, nachdem viele Abgeordnete noch während der Gedenkveranstaltung den Bundestag verlassen hatten, da sich der Bundestagspräsident ihrer Meinung nach nicht eindeutig von nationalsozialistischem Gedankengut distanziert habe. Dabei hatte er sich bewusst und vor allem in einem zitativen Verfahren dieses deutschtümelnden, fremdenfeindlichen und antisemitischen Vokabulars bedient, um sprachlich zu demonstrieren, wie die damalige Geistesverfassung der deutschen Gesellschaft überhaupt zur ‚Reichskristallnacht‘ hatte führen können. Da er aber – was die inzwischen ritualisierten Gedenkfeiern schon damals protokollarisch einforderten – auf mitfühlende Beileidsbekundungen verzichtete, während die Abgeordneten wie auch die Öffentlichkeit nicht auf diese Routine verzichten wollten, musste Jenninger nach dem Proteststurm, den seine gänzlich falsch verstandene Rede auslöste, schon am folgenden Tag zurücktreten. Wie sehr sich im Anschluss an diese Debatte und der in ihr eingeforderten „idealistischen Phrase“ das ganze Potenzial von Ambros’ Anklageschrift in einer eingehenden Analyse hätte entfalten können, zeigt – gewissermaßen auf der Negativfolie – das gänzlich missglückte Kapitel über den „Fall Walser“ und dessen Paulskirchenrede.

Indem Ambros Martin Walser als „sensiblen, ehrlichen und mutigen“ Autor, die ablehnenden Reaktionen auf dessen „Sonntagsrede“ aber als Ausdruck eines infiltrierten schlechten Gewissens sieht, gar von „hysterischen Reaktionen auf Walsers Ehrlichkeit“ und der Legitimität dessen spricht, dass sich die deutsche Zivilbevölkerung nach 1945 natürlicherweise „in der Rolle des Opfers sah“, stellt sich der Eindruck ein, man müsse Walser inzwischen wohl gegen seine Verteidiger in Schutz nehmen. Während Ambros mit Verweis auf Walsers Essay„Unser Auschwitz“ (1965) noch dessen Sensibilität in Fragen des Umgangs mit Erinnerung unter Beweis zu stellen versucht, zeigen sich doch schon hier deutliche Vorzeichen dessen, was Walser in seiner Rede anlässlich des Friedenspreises ausführlich darlegen sollte. Denn bereits hier ist Walsers Freude an der Provokation erkennbar, wenn er mit Bezug auf Folter, Ausbeutung und Vernichtung der Juden verharmlosend von „mittelalterlich bunten Quälereien“ spricht und schließlich davon, dass man „mit wehleidiger Lust […] die brutalen Fakten zur Kenntnis“ nehme.

Von wessen Lust ist aber hier die Rede und wieso ist sie wehleidig angesichts des Grauens, aus dem sie sich bei Walser offenbar speist? Noch Ende der 1970er- Jahre tritt Walser in einer Rede zur Eröffnung einer Ausstellung von Zeichnungen ehemaliger Auschwitz-Häftlinge vorbehaltlos für die Kollektivschuld der Deutschen ein: „Ich glaube: man ist ein Verbrecher, wenn die Gesellschaft, zu der man gehört, Verbrechen begeht. Dafür haben wir in Auschwitz ein Beispiel geliefert.“

Wahrscheinlich ist es genau diese leichtfertige Behauptung von Kollektivschuld, an der sich Walser schon damals völlig verhoben und die zwei Jahrzehnte später zu seinem Ausfall in der Paulskirche geführt hat. Dort nämlich sperrte er sich – gewissermaßen nach einer 180-Grad-Wende – gegen jegliche institutionell verankerte Kollektiverinnerung und damit auch gegen die Kollektivschuld. Wenn Walser 1998 in Frankfurt davor warnte, dass die Erinnerung an die Geschichte, ja das Leiden der Opfer nicht für eigennützige Interessen instrumentalisiert werden dürfe, dann war das für sich genommen damals genauso richtig wie heute. Nur war das nicht der einzige Punkt seiner Rede, die darüber hinaus nicht wenige (um es vorsichtig zu sagen) Missverständnisse befördernde Aussagen enthielt. Ambros wäre daher sicher besser beraten gewesen, hätte er einmal in der gut dokumentierten, von Frank Schirrmacher herausgegebenen Publikation zur Walser-Bubis-Debatte nachgelesen, anstatt in Gänze seinen privaten Brief an den hochverehrten Walser wiederzugeben, der stilistisch an denselben Unstimmigkeiten krankt wie das Buch, in dem er nun der Öffentlichkeit zuteil wird.

Anlässlich der Paulskirchenrede ist hier erst von „Hochachtung“, „Zustimmung“ und „Genugtuung“ die Rede, anlässlich von Walsers posthumer Laudatio auf Victor Klemperer, die eine ganz eigene Diskussion wert gewesen wäre, dann aber von Antisemitismus. Ambros übersieht, dass man beides eben nicht voneinander trennen kann – im Gegenteil schreibt er allen Ernstes an Walser, er habe selbst nach der Klemperer-Laudatio noch gewusst, „dass in der Auseinandersetzung mit der Heuchelei des ‚Gedenkens’ [also in der Paulskirchenrede] Sie recht haben, mir fehlten aber Argumente, Sie gegen den Bubis’schen Vorwurf des Antisemitismus zu verteidigen.“

Auch das lässt sich ganz und gar auf das vorliegende Buch übertragen. Denn dass Ambros’ Überzeugung von der Richtigkeit seines Standpunktes nicht selten einhergeht mit völligem Mangel an Argumenten, die diese Überzeugung stützen könnten, lässt den Band immer wieder genau an dem scheitern, was er selbst als Desiderat anprangert: Differenziertheit und nötige Akkuratesse im Umgang mit der deutschen und der jeweils eigenen Geschichte.

So finden sich in diesem wahllosen Ritt durch die Geschichte der deutschen Nachkriegsdebatten zudem noch zahlreiche Fehleinschätzungen wie etwa die, dass im Zuge von Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab die „offene Ausländerfeindlichkeit“ des Autors „zwar zur Kenntnis genommen [wurde…], aber offensichtlich keine flagrante Tabuverletzung“ dargestellt habe. Wie Ambros, der selbst seit Jahrzehnten publizistisch tätig ist, während der lange anhaltenden Debatte über Sarrazins Pamphlet die Diskussion über dessen fremdenfeindlichen und antisemitischen Jargon, der eben sehr wohl als Tabuverletzung erlebt wurde, entgangen sein kann, ist unverständlich.

Ebenso unverständlich ist es, dass Grass‘ ‚Israelgedicht‘ Was gesagt werden muss einfach als „genauso dumm und überzogen wie die israelische Reaktion darauf“ abgetan wird, anstatt sich produktiv mit den ärgerlichen Implikationen dieses Gedichts auseinanderzusetzen. Denn gerade an der Sarrazin- oder an der Grass-Debatte, die beide differenzierter geführt wurden als Ambros sie darstellt, hätte sich Wesentliches für das eigene Unternehmen gewinnen lassen, wenn aus ihnen statt kruder Vergleiche gewinnbringende Thesen über den deutschen Umgang mit der eigenen Geschichte und ihrer Gegenwart abgeleitet worden wären.

Stattdessen ist es Ambros in den Kapiteln zunehmend gar nicht mehr um das zu tun, was deren Überschriften vorgeben. So geht es im „Fall Lea Rosh“ auch nicht um Lea Rosh, sondern um den ehemaligen Berliner Bürgermeister Heinrich Lummer und dessen Verbindungen zur rechtsradikalen Szene; im Kapitel zum „Fall Historikerstreit“ nicht um den Historikerstreit, sondern um vornehmlich belanglose, persönliche Erfahrungen des Studenten Ambros an der Freien Universität Berlin, wo Ernst Nolte, der den Streit auslöste, am Friedrich-Meinecke-Institut lehrte; und schließlich geht es im „Fall Adorno“ mit keiner einzigen Silbe um Adorno. Immerhin wird in diesem Fall auch freimütig eingestanden, „dass die Überschrift dieses Kapitels irreführend ist“. Diese offenkundigen Beliebigkeiten ergeben sich vor allem daraus, dass es sich hier nicht um eine als Studie konzipierte Publikation handelt, sondern um eine Art ‚Best of‘ bereits verstreut publizierter Zeitungsartikel, Kommentare, Theaterkritiken, Buchrezensionen und Radioessays. Freilich wird, während immer wieder „die ganze Wahrheit“ über das deutsche Gedenken eingefordert wird, dieselbe „Wahrheit“ über die willkürliche Zusammenstellung des Buches selbst an keiner Stelle erwähnt, sondern absichtlich – wohl auch aus verkaufsstrategischen Motiven – der Eindruck erweckt, es handle sich um einen kohärenten Text über politisch-mediale Debatten zu Walser, dem Kniefall von Warschau, dem Fall der Mauer, dem Holocaust Mahnmal und so weiter.

Fazit

Mit Recht weist Ambros darauf hin, dass die deutsche Gedenkkultur bei allem zu goutierenden Einsatz gegen Vergessen und Verharmlosung in eine derartige Routine verfallen ist, dass den verantwortlichen Politikern nicht einmal mehr auffällt, dass die von ihnen tradierten Gedenkrituale nur noch wenig mit den Opfern, umso mehr aber mit der medialen Selbstinszenierung der Veranstalter zu tun haben. Das ist kein neuer, doch dringender Hinweis – aber auch nicht mehr als das. Auch Broders Provokation ist nicht neu, erweist sich aber angesichts des ständig weiter eskalierenden Nahostkonflikts als immer wieder aktuell, denk- und vor allem diskussionswürdig. Denn während das deutsche Feuilleton monatelang über den nicht unbekannten ‚kulturellen‘ Antisemitismus Martin Heideggers und dessen Vorstellungen von einem ‚Weltjudentum‘ debattiert, wie er sich neben längst bekannten Äußerungen in Briefen an seine Frau nun also auch auf wenigen Seiten seiner „Schwarzen Hefte“ niedergeschlagen hat (eine Diskussion, die sicherlich grundsätzlich wichtig ist), wird der gegenwärtige, eklatant ‚eliminatorische‘ Antisemitismus islamistischer Prägung, der täglich in unsere Kinder- und Wohnzimmer gelangt, bislang oft ignoriert oder bagatellisiert.

In den arabisch- und türkischstämmigen Bevölkerungsgruppen in den Migrantenvierteln deutscher Städte wachsen Menschen heran, die über Satellitenschüsseln beispielsweise Al-Aqsa-TV, den Fernsehsender der Hamas, empfangen, auf dem die antijüdische Prägung schon im Kinderprogramm beginnt, und wo kürzlich in einer Sendung ein Mädchen erklärte, es wolle wie sein Onkel Polizistin werden, „damit ich Juden erschießen kann“. Und auch über Al-Manar, den Fernsehsender der libanesischen Hisbollah, wird noch in der zweiten und dritten Einwanderungsgeneration gezielt Antisemitismus indoktriniert.

Siebzig Jahre nach dem Ende der Shoah und vor allem nach Jahrzehnten der gesellschaftspolitischen Aufarbeitung der Vergangenheit befinden wir uns also abermals in einer Situation, in der bereits Kinder nicht nur mit dem Feindbild vom „Kindermörder Israel“ aufwachsen, sondern antijüdische Ressentiments derart internalisiert haben, dass sich der Wunsch, erwachsen zu werden, mit der Hoffnung verbindet, endlich Juden töten zu können. Die Bagatellisierung dieses Phänomens basiert zum einen auf der Annahme, dass es sich hierbei ja nur um ein Minderheitenproblem integrationsunwilliger Migranten handele und zum anderen mit uns Deutschen gar nichts zu tun habe – und ist daher im doppelten Sinne bedenklich.

Beängstigend ist, dass der Judenhass – auch hier, auch heute – offenbar integrativ wirkt, indem die eigene Hoffnungslosigkeit durch das gemeinsame Feindbild scheinbar überwunden werden kann. Bestürzend ist aber auch, dass diese Kinder, deren Eltern oder Großeltern zwar aus anderen Ländern und Kulturen eingewandert sind, selbst aber in Deutschland geboren wurden, von der Gesellschaft noch immer nicht als Deutsche wahrgenommen werden. Wie soll Integration dann überhaupt möglich sein? Dass ihre mangelhafte Integration nicht die (alleinige) Schuld ihrer Eltern ist, sondern ein Versäumnis der Politik darstellt, ist freilich spätestens im Zuge der Sarrazin-Debatte zumeist sehr engagiert diskutiert worden. Sie wirft aber hinsichtlich unserer Erinnerungsrituale und Gedenkroutinen auch noch mal ein ganz neues Licht auf eine Facette des deutschen Antisemitismus, die in den beiden Büchern von Ambros und Broder nur implizit gestreift wird, in künftigen Publikationen aber als integraler Schwerpunkt wünschenswert wäre.

Titelbild

Henryk M. Broder: Vergesst Auschwitz. Der deutsche Erinnerungswahn und die Endlösung der Israel-Frage.
Knaus Verlag, München 2012.
176 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783813504521

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Titelbild

Peter Ambros: Das wortreiche deutsche Schweigen.
Argument Verlag, Hamburg 2013.
190 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783886194926

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