Zu dieser Ausgabe

„Romantik digital“? Nein, der Titel des Schwerpunkts unserer Septemberausgabe hat nichts mit Erotik im Netz zu tun. Ebensowenig haben wir vor, auf unseren Seiten eine Partnerbörse einzurichten, obwohl unsere Redaktion alternative Finanzierungsmodelle sehr bald dringlicher benötigen dürfte denn je. Stattdessen geht es um ein Themenfeld, mit dem die Literaturwissenschaft, genauer: die Editionsphilologie in Zukunft immer intensiver zu tun bekommen wird. Die Rede ist von den Chancen, Praktiken und Schwierigkeiten digitalen Edierens.

Vieles ist dadurch leichter geworden: Editionen und Kommentare welcher Textkorpora auch immer unterliegen keinen räumlichen Beschränkungen mehr, da die Kosten einer Druckausgabe keine zentrale Rolle für die Konzeption des Projektumfangs mehr spielen muss. Zudem sind Editionsprojekte als work in progress jederzeit nachträglich verbesser- und ergänzbar. Last but not least ergeben sich ganz neue, alltäglich weiterentwickelbare Darstellungsmöglichkeiten: Scans von Faksimiles können in beliebigem Umfang online visualisiert beziehungsweise herangezoomt werden, und früher extrem komplizierte oder sogar nur versierten Kennern begreifliche Darstellungen verschiedener Stufen der Textgenese sind online auf gewinnbringende Weise vereinfacht – und somit allgemeinverständlicher – zu veranschaulichen. Nicht zuletzt ist es möglich, Stellenkommentare oder sonstige Materialien zum besseren Verständnis der edierten Texte zu verlinken und multimedial als Hypertext erfahrbar zu machen.

Es gibt aber auch noch eine andere Seite dieser Entwicklung, die nicht verschwiegen werden darf: Zwar ist man mit dem neuen Schlagwort der Digital Humanities mittlerweile schnell bei der Hand, doch gibt es gegenüber der Publikation philologischer Projektergebnisse in der Cloud des World Wide Web nach wie vor etliche Vorbehalte und teils scharfe Kritik im Fach. Tatsächlich gibt es dabei nicht nur vielfältige neue Probleme urheberechtlicher Natur zu bedenken, sondern auch ganz neue Fragen nach der Einheitlichkeit der Textverarbeitung und der langfristigen Sicherung beziehungsweise Lesbarkeit der ins Netz gestellten Daten zu beantworten: Wer sagt, dass nicht plötzlich alles Erarbeitete einfach aus dem Internet verschwindet oder für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich ist, weil unvorhergesehene technische Probleme auftauchen oder beispielsweise  irgendwer, der über die entsprechende Macht verfügt, daran Zensur übt?

In unserer aktuellen Ausgabe melden sich erfahrene  Editionsphilologinnen und -philologen zu Wort, die seit Jahren online edieren und ihre projektspezifischen Methoden erläutern. Sie erlauben vielfältige Einblicke in ihre neuartigen digitalen Ausgaben von Briefen, Dokumenten und literarischen Texten aus der Romantik. Damit bietet der Schwerpunkt nicht nur eine informative Zusammenstellung von Essays und Rezensionen, sondern funktioniert auch als virtuelles Sprungbrett mitten hinein in die spannende Arbeit und in die Entdeckungen aktueller Forschungen zur Literaturgeschichte um 1800.

Viele neue Erkenntnisse und Einblicke beim Lesen und Weiterklicken wünscht Ihnen
Ihr
Jan Süselbeck