Texte in Bewegung

Patrick Sahles dreibändige Dissertation über „Digitale Editionsformen“

Von Claudia BambergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Bamberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist inzwischen unbestritten, dass sich mit der digitalen Erschließung und Edition von Texten auch deren Wahrnehmung und Deutung verändert. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, wie tiefgreifend der mediale Wandel auch unsere Vorstellung davon beeinflusst, was ein „Text“ oder ein „Werk“ überhaupt sei. Zugleich werfen sie die Frage auf, welche neue Bedeutung bzw. welcher Stellenwert dem „Text“ und dem „Werk“ in der sich selbst sekündlich umschreibenden Welt des World Wide Web zukommt. Dass diese veränderte Wahrnehmung umgekehrt entscheidende Auswirkungen auf die Editionswissenschaft hat, liegt auf der Hand und ist bereits vielerorts diskutiert worden. So können etwa textgenetische Prozesse durch eine digitale Aufbereitung nicht nur viel besser sicht- und darstellbar gemacht werden als in einer gedruckten Edition, sondern auch zu veränderten Einschätzungen des Verhältnisses von einzelnen Textstufen und dem vom Autor abgeschlossenen Text führen.

Allerdings, das sei hier gleich zu Anfang gesagt, können gedruckte Editionen durchaus die Unabgeschlossenheit und Wandelbarkeit von Texten offenlegen; sie müssen nicht zwangsläufig – wie es bestimmte editionsphilologische Schulen vorgeben – den festen, vom Autor intendierten Text gleichsam als Ideal zum Zielpunkt haben. Das ist auch gar nicht immer möglich, wie Patrick Sahle selbst zu bedenken gibt. Besonders dann, wenn ein Text unter anderen ästhetischen Voraussetzungen als unter jenen des geschlossenen Werkbegriffs entstanden oder wenn er Fragment geblieben ist und nie zu einem ,vollendeten‘ Werk mit einer festen Form wurde, wenn mithin nur einzelne Notizen und Werkpläne und vielleicht noch nicht einmal ein Titel vorliegen, muss und kann sich eine gedruckte Edition darauf einstellen. Nimmt man also ernst, dass ein abgeschlossenes Werk längst nicht immer vorhanden ist und sich nicht rekonstruieren lässt, sondern man es nur mit einzelnen Notizen oder Textstufen zu tun hat, muss auch die Buchedition von einem festen, ‚endgültigen‘ oder ‚ursprünglichen‘ Textbegriff abgehen – was sie indessen längst tut.

Dass auch Druckausgaben gut mit unfesten Texten umgehen können, mag nur ein einziges Beispiel zu einem Textkorpus der klassischen Moderne zeigen: Mit dem fast vollständigen Abschluss der gedruckten Kritischen Hofmannsthal-Ausgabe[1] ist erkennbar geworden, dass Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) eine – bislang vermutlich unterschätzte – Vielzahl an Fragmenten und Werknotizen hinterlassen hat und dass diesen Notizen eine zentrale Bedeutung in seinem etwa 800 Werke und Werkpläne umfassenden Schaffen zukommt. Zudem zeigt die Druckausgabe deutlich, dass der Wiener Autor immer wieder Werke, die er selbst einmal als abgeschlossen erklärt und zum Druck freigegeben hat, zu einem späteren Zeitpunkt umgeschrieben und verändert hat. Gemäß der eigenen Maxime „‚Werke‘ sind totes Gestein“[2] ist es oft schwer oder einfach schlichtweg unmöglich, eine einzige, end- und ein für allemal gültige Textform aus einzelnen Werkkonfigurationen herauszuschälen, da ihr wesentliches Charakteristikum gerade ihre Wandelbarkeit und Unfertigkeit, ja ihre prinzipielle Unabschließbarkeit ist. 

Bei dem Gedanken eines historischen und damit für ihn vor allem medialen Wandlungen unterworfenen Textbegriffs setzt Patrick Sahles umfangreiche und weit ausgreifende Arbeit über „Digitale Editionsformen“ an. Sie gründet auf der These, dass unser Verständnis dessen, was ein Text sei, immer schon medial präfiguriert und damit historisch bedingt ist: „Nur wenn wir genau beobachten, wie unsere mentalen Konzepte unseren technischen und medialen Umweltbedingungen folgen, dann sind wir in der Lage, jenseits dieses als historisch und relativ erkannten Rahmens zu allgemeineren theoretischen Modellen zu gelangen, die nicht nur eine bessere Einsicht in die Abhängigkeiten unserer Begriffe, Methoden und Praktiken von ihren technischen Grundlagen erlauben, sondern umgekehrt auch die Entwicklung neuer wissenschaftlicher Strategien und medialer Technologien erst ermöglichen!“ (Teil 1, S. 9) Das impliziert allerdings, dass auch unsere aktuelle Auffassung eine temporäre ist, eine historische Durchgangsstation zu einer vielleicht ganz anderen, neuen Einschätzung, die ihrerseits wiederum nur von einer begrenzten Dauer ist.

Sahle geht es dabei vor allem um eine Kritik an der traditionellen Editionsphilologie im Gefolge Karl Lachmanns (1793–1851), für die der feste Urtext das zu rekonstruierende Ideal ist und die für ihn mit den Gegebenheiten des Buches in Zusammenhang steht: „Es kann nicht oft genug betont werden: die Methode der historisch-kritischen Edition zielt auf die Rekonstruktion verlorener Urtexte und auf die Idee fester Texte, die in einer ganz bestimmten Fassung vom Autor für die Öffentlichkeit bestimmt worden sind. Für die besonderen Bedingungen mittelalterlicher Literatur oder neuerer Dichtungen, bei denen sich ganz andere Probleme stellen, als die der Rekonstruktion verlorener Urtexte, konnte sie nur bedingt geeignet sein.“ (Bd. 1, S. 35f.) Diese Erkenntnis hat Konsequenzen: „Bei genauerer Betrachtung lässt sich […] zeigen, dass es sich bei der traditionellen Editorik nicht um eine allgemeine, überzeitliche und von bestimmten technischen Bedingungen unabhängige Methode handelt. Vielmehr kann sie zu großen Teilen als von den speziellen technischen und ökonomischen Restriktionen des Buchdrucks determiniert beschrieben werden.“ (Bd. 1, S. 347)

Sahles Arbeit ist mehr deskriptiv als deutend, mehr beobachtend als synthetisierend. Daraus erklärt sich auch ihr Umfang: Der Autor beschreibt seine Gegenstände detailgenau und sehr klar, darauf achtgebend, nichts auszuklammern, und legt dafür weniger Wert auf eine straffe und schwerpunktsetzende Entwicklung seiner Argumentation. Darauf, dass dieses Verfahren intendiert ist, weist der Autor gleich zu Anfang unmissverständlich hin: „Obwohl […] diese Arbeit auf den ersten Blick wie eine traditionelle gedruckte Forschungsarbeit wirken mag, weicht sie in einigen Aspekten dennoch leicht von diesem rein narrativen Modell ab. Es handelt sich hier nämlich nicht einfach um eine lineare Erzählung meiner Überlegungen zum Thema mit gelegentlichen Hinweisen auf die Sekundärliteratur. Der Text ist vornehmlich und relativ tief hierarchisch organisiert. […] Den impliziten Beschränkungen der Druckkultur habe ich mich teilweise entzogen: Ich nehme keine Rücksicht auf die Länge des Textes oder den Umfang von Fußnoten.“ Das bedeutet auch: „Diese Arbeit ist nicht zum Durchlesen gemacht“, sondern „ein Steinbruch auch in dem Sinne, dass Fragestellungen aufgeworfen und Materialien und Beobachtungen zusammengetragen werden, die so breit sind, dass es nur selten Interessenlagen geben wird, die eine vollständige Lesung nahelegen.“ (Bd. 1, S. 5) Das Konzept der Dissertation selbst will also auf den Medienwandel reagieren und orientiert sich deshalb nicht am ‚klassischen‘ Buch und dem, was man gemeinhin zwischen seinen beiden Deckeln findet (darum auch die Publikationsform des Book-on-Demand), sondern an der sich immer weiter verästelnden, aber durchaus auch zum sprunghaften und flüchtigen Gebrauch einladenden Struktur des Internets. 

Worum geht es auf den über tausend Seiten? Während der erste Teil einen Überblick gibt über die traditionellen Editionsformen und deren Geschichte – die Sahle unter den genannten Prämissen darlegt –, thematisiert der zweite „Befunde, Theorie und Methodik“ der Editionswissenschaft. Der dritte und umfangreichste Teil schließlich, mit einer ausführlichen Bibliographie versehen, widmet sich den Konsequenzen der digitalen Revolution: Er diskutiert ausführlich den Textbegriff unter den veränderten medialen Bedingungen. Fluchtpunkt von Sahles Überlegungen ist immer das große Innovationspotenzial digitaler Editionsformen, an dem sich für ihn auch zukünftige Bucheditionen zu messen haben.

Der zweite Band spricht über „Entwicklung, Bedingungen und Theorie der digitalen Edition“ und zeigt, welche konzeptionellen Veränderungen und Neuerungen digitale Editionen mit sich bringen. Sahle ist es dabei vor allem um die Herausstellung der Vorteile zu tun, die digitale Editionen gegenüber gedruckten haben: Einbeziehung von Hypertexten, Darstellung des gesamten Materials, nachträgliche Korrekturmöglichkeiten etc. Dabei nimmt der Autor auch die neuen Anforderungen, die digitale Editionen an die Architektur von Editionsunternehmen stellen, in den Blick (Bd. 2, Kap. 1.1.3: „Träger und Akteure“). Der dritte Band versucht, einen differenzierten Textbegriff zu entwickeln, und gliedert diesen in sechs Grundbegriffe (Bd. 3, Kap. 1). Ferner widmet er sich der Transkription im digitalen Medium und zeigt die neuen Repräsentationsmöglichkeiten von Texten durch digitale Auszeichnungssprachen auf, die in einer Darstellung der inzwischen Standard gewordenen Auszeichnungssprache XML/TEI münden (Bd. 3, Kap. 4). Besonders lesenswert ist für den Literaturwissenschaftler der Teil über die Chancen und Grenzen von elektronischen Codierungsmöglichkeiten (Bd. 3, Kap. 2.2.3).

Sahle geht von der Voraussetzung aus, dass „Transkription und die Erstellung elektronischer Texte mit Markup […] das Protokoll von Leseprozessen“ seien (Bd. 3, S. 383), und beschließt seine Arbeit mit der Feststellung, dass die „TEI als maßgeblicher Standard für elektronische Texte […] als doppelter Testfall für die hier entwickelten Ansätze gelten [kann]: sie basiert zwar auf bestimmten – historisch und technisch bedingten – Textbegriffen, zielt zugleich aber auf ein pluralistisches Textverständnis. […] Zugleich lässt sich auch für die TEI zeigen, wie selbst pluralistische Textkonzepte spätestens bei der Anwendung einer bestimmten Texttechnologie deren inhärenten Vorstellungen vom Text (deren Textbegriffen) unterworfen werden.“ (Bd. 3, S. 391f.) Ohne Vorannahmen geht es also auch im digitalen Medium nicht – der wissenschaftlichen Praxis, mag sie noch so offen sein für unterschiedliche Lesarten, geht immer eine methodologische Vorentscheidung voraus.

Patrick Sahles sehr gut und klar geschriebene Arbeit gibt dem Leser mannigfache Anregungen zum Nach- und Weiterdenken, da sie die entscheidenden Fragen zum Themenkomplex „Digitale Editionsformen“ aufgreift. Die Möglichkeit, problemlos in die einzelnen Kapitel hinein- und zwischen ihnen hin- und herzuspringen, erleichtert den Zugang zu den zahlreichen angerissenen und ausgeführten Themen, so dass der Leser viel Stoff für die Reflexion auf die historischen und aktuellen Bedingungen der editorischen Theorie und Praxis an die Hand bekommt. Indessen hätte an einigen Stellen doch deutlich gekürzt und zusammengefasst werden können; auch wenn der Autor selbst sagt, dass seine Arbeit „nicht zum Durchlesen gemacht“ sei und der Netz-, nicht der Buchstruktur folgen will, wäre eine Entfaltung des Themas auf über tausend Seiten nicht notwendig gewesen.

Die Dissertation macht gleichwohl deutlich, dass sich der Editionsphilologie im digitalen Medium nicht nur ein weites Feld neuer Möglichkeiten der Darstellung eröffnet, sondern dass viele ihrer Prämissen durch die neuen Auszeichnungs- und Präsentationsformen grundlegend zu überdenken und neu zu definieren sind. Dazu gehört ihr überlieferter Begriff des Textes und damit die Bedeutung, die man diesem als festem und autoritativem Gebilde, wirkmächtig gemacht durch das Medium des Buches, beimisst.

Dennoch erscheint mir die recht scharfe Gegenüberstellung von Druck- und digitalem Medium übertrieben und nicht immer ganz sinnfällig. So steht m.E. eine Druckedition weder nur für Beschränkung und Reduktion noch für ein überholtes mediales Modell. Und sie steht mitnichten vor allem für einen eingeschränkten und einschränkenden Textbegriff. Eine gute Buchedition steht vielmehr für Konzentration, Gliederung, Ordnung und damit auch für eine vorsichtige Deutung des Materials. Sie macht diese Bearbeitungsschritte transparent und gibt so vor allem dem ungeübten Leser durch bestimmte Anordnungen und Strukturen wichtige Hilfestellungen an die Hand. Zudem darf – wie Sahle ja selbst betont – nicht übersehen werden, dass auch bei digitalen Editionen zahlreiche Vorentscheidungen getroffen werden müssen; sie sind gleichfalls Arbeitsergebnisse eines a priori strukturierenden Subjekts. Mir erscheint die Haltung des Voneinanderlernens, deren es auf beiden Seiten bedarf, sinnvoller als Buch und Netz gegeneinander auszuspielen – zumal es Hybrideditionen gibt, die erfolgreich beide Formen realisieren können. Und zumal auch digitale Editionen mehr sein sollten also bloße, ausufernde Sammlungen von Material, Links und Metadaten, die der Leser oder Nutzer je nach Fragestellung selbst anordnen muss.

Was würde aus der Editionsphilologie ohne das Buch? Wie sähe eine nur noch im Netz tätige Editionsphilologie aus – und welche Folgen hätte dies für unsere Wahrnehmung von (literarischen) Texten? Wo genau liegt der wissenschaftliche Mehrwert digitaler Editionsformen? Die Zukunft wird es zeigen. Patrick Sahle hat mit seiner Schrift gezeigt, wie wichtig es für die Editionsphilologie ist, sich diesen Fragen zu stellen.

Anmerkungen:

[1] Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hrsg. v. Anne Bohnenkamp et al. Frankfurt a.M. 1975ff.

[2] Hugo von Hofmannsthal: „Werke“ sind totes Gestein. In: H. v. H.: Sämtliche Werke. Bd. II: Gedichte II. Aus dem Nachlaß. Hrsg. v. Andreas Thomasberger u. Eugene Weber (†). Frankfurt a. M. 1988, S. 68.

Titelbild

Patrick Sahle: Digitale Editionsformen. Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels. Teil 2: Befunde, Theorie und Methodik.
Schriften des Instituts für Dokumentologie und Editorik 8.
Books on Demand, Norderstedt 2013.
292 Seiten, 44,90 EUR.
ISBN-13: 9783848252527

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Patrick Sahle: Digitale Editionsformen. Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels. Teil 3: Textbegriffe und Recodierung.
Schriften des Instituts für Dokumentologie und Editorik 9.
Books on Demand, Norderstedt 2013.
556 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783848253579

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Patrick Sahle: Digitale Editionsformen. Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels. Teil 1: Das typografische Erbe.
Schriften des Instituts für Dokumentologie und Editorik 7.
Books on Demand, Norderstedt 2013.
356 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783848263202

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