Performativität als zusätzliche Perspektive

Erika Fischer-Lichtes Einführungsbuch stellt viele Fragen

Von Andreas HudelistRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Hudelist

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Verfasserin Erika Fischer-Lichte beschäftigt sich in ihrem Buch „Performativität. Eine Einführung“ mit dem Themenkomplex der Performativität seit den 1980er-Jahren. So verfasste sie unter anderem „Die Entdeckung des Zuschauers“, „Ästhetik des Performativen“ und „Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Fachs“. Darüber hinaus ist sie Herausgeberin zahlreicher Bücher zum Thema. Sie war Professorin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin und ist dort seit 2011 Seniorprofessorin.

Zu Beginn ihres Einführungsbuches betont Fischer-Lichte das wandelnde Verständnis von Kultur als Text zu einer Kultur als Performance. Für sie ist die performative Wende ungefähr im ausgehenden 19. Jahrhunderts anzusiedeln. Dabei verweist sie auf Max Herrmann, der die Aufführung eines Theaterstücks über den Text stellte. Für ihn stand die aktive Beziehung zwischen Schauspielenden und Zuschauenden im Vordergrund. Alle, egal welche Rolle sie im ersten Moment haben, sind Teilnehmende und Zuschauende zugleich. „Die Aktivität des Zuschauers wird also nicht nur als eine Tätigkeit der Einbildungskraft begriffen, wie es bei flüchtiger Lektüre dieser Passage vielleicht den Anschein haben mag, sondern als ein leiblicher Vorgang. Dieser Prozess wird durch die Teilnahme an der Aufführung in Gang gesetzt, und zwar durch die Wahrnehmung, die nicht nur Auge und Ohr vollziehen, sondern durch das ‚Körpergefühl‘ der ganze Leib synästhetisch vollzieht.“

Wichtig ist hier also, dass nicht nur das Zusehen ein teilnehmender Prozess ist, der sich durch die kognitive Leistung aller einzelnen auszahlt, sondern dass die Körper auch um eine performative Erfahrung reicher werden. Daraus ergibt sich im deutschsprachigen Raum auch eine lang anhaltende Konkurrenz zwischen den Begriffen der Theatralität und Performativität, die in den 1990er-Jahren zugunsten dem Begriff der Performativität ausfiel. Zuvor erfuhr der Begriff durch die Arbeiten von Judith Butler im angloamerikanischen Raum große Verbreitung. Durch die Anwendung des Performativen auf körperliche Handlungen, insbesondere auf Sex und Gender, findet der Begriff auch in benachbarten Disziplinen starke Verwendung. So zum Beispiel auch in den britischen Cultural Studies, in denen auch der Kulturbegriff sehr breit verstanden wird. Raymond Williams löst zum Beispiel in seinem Aufsatz „culture is ordinary“ (1950) den Unterschied zwischen Hochkultur und Popkultur auf und zeigt, dass Kultur in den Handlungen und Praktiken des Alltags gelebt und erzeugt wird. Kultur ist demnach eine ganze Lebensweise, die laufend performativ erweitert und neu hergestellt wird. Davon zeugt auch der Verweis auf die Arbeit von Jon McKenzie, der in seinem Buch „Perform or Else“ die von Michel Foucault beschriebene Disziplinargesellschaft von einer Performancegesellschaft abgelöst sieht und somit die Selbstinszenierung als zentral für gegenwärtige westliche Gesellschaften betrachtet.

Zu Beginn des zweiten Teils geht Fischer-Lichte auf die Planung und Emergenz von Performances ein. Hier betont sie, dass grundsätzlich nichts geplant werden kann, da immer ein Restteil von möglichen Handlungen übrig bleibt, der nicht vorhergesehen werden kann. Um dies zu exemplifizieren geht sie auf die Aufführung „Dionysus in 69“ von der „Performance Group“ unter der Leitung von Richard Schechner ein. Dabei war es erklärtes Ziel, zwischen allen Beteiligten eine Beziehung von gleichberechtigten Co-Subjekten zu schaffen. Als Resultat haben sich viele der Besucherinnen und Besucher anders als gewollt verhalten. Manchmal zogen sich dadurch die Schauspielenden auch Verletzungen zu, wodurch weitere Projekte der „Performance Group“ strengere Regeln für die Partizipation geschaffen haben. Davon ausgehend führt sie den Begriff des Schwarmes ein, der als loser Verbund von Individuen konzipiert ist, „die nicht mit dem Schwarm als Ganzem, sondern immer nur mit einigen wenigen benachbarten anderen direkt kooperieren.“

Im Kapitel „Ambivalenzen des Performativen“ thematisiert Fischer-Lichte die Unmöglichkeit eine Performanz im Vorhinein durchzuplanen, da sie sich aufgrund des Konzepts einer Planung entzieht. Auch die Wahrnehmung ist für Fischer-Lichte einer Ambivalenz unterzogen. Wahrnehmen ist nämlich selbst performativ und schließt sowohl die Darbietung sowie die gezeigten Gegenstände als auch die Reaktionen der anderen Zuschauenden mit ein. Trotzdem scheinen die Reaktionen der Zuschauenden nicht unbegrenzt, wie das Beispiel „Salome“ von Einar Schleef am Ende der 1990er-Jahre zeigt. Bei der von der Autorin besuchten Inszenierung beim Berliner Theatertreffen im Jahr 1998 erlebte das Publikum, nachdem die Schauspielenden 10 bis 20 Minuten auf der Bühne erstarrt waren, wie man der Kunstraum eines Theaters eingrenzen kann. Das Publikum pfiff, applaudierte und rief mal ermunternd, mal enttäuscht in die Szenerie, verließ jedoch nie die Rolle des Publikums. Dabei war gerade das Gegenteil vielleicht sogar geplant. Für die Autorin besteht darin aber etwas typisches für das Performative. Handeln und Erleiden gehen ineinander über und sind nicht voneinander zu trennen.

Auch die Wahrnehmung von performativen Prozessen kann selbst als ein solcher Prozess gesehen werden. Dieser folgt meist einem chaotischen Muster, das nicht vorhergesehen werden kann. Die Wahrnehmung erfolgt nach subjektiven Ordnungen und ist kulturell geprägt. Dadurch ist auch der Grad der Aufmerksamkeit nicht im Vorhinein steuerbar. Der performative Prozess kann also auch unsere Wahrnehmung sein, hängt aber auch von unserer Art und Weise der Wahrnehmung ab.

In ihrem Kapitel über „die transformative Kraft des Performativen“ beschreibt Fischer-Lichte, dass seit Austin eine Performance auch immer etwas verändert. Während es bei den Sprachakten auch um eine Wirklichkeitsherstellung geht, sind performative Prozesse auch immer Transformationen im Alltag. Dabei spielen liminale Erfahrungen keine unwesentliche Rolle. Um dies zu veranschaulichen beschreibt sie Feste, Sportwettkämpfe, Gerichtsverhandlungen und künstlerische Aufführungen. Allen ist gemein, dass sie einen prozesshaften Charakter aufweisen. Sie sind zeitlich begrenzt und räumlich meist leicht zu verorten. Besucherinnen und Besucher erleben die Ereignisse auch immer körperlich und können von ihnen leiblich erfasst werden. Die Wirklichkeit, die die besuchenden Menschen umfasst wird davon ergriffen und verändert.

Im dritten Teil „Ausweitung des Feldes: Performative Studien“, beschäftigt sich die Autorin mit den Bereichen der Literatur, Bilder und der Macht der Dinge. Um die Perspektive des Performativen zu erweitern, betont sie hierbei, dass Literatur und Lesen als ein performativer Akt angesehen werden kann. Der Text tritt durch Singen oder Lesen, verkörpert durch die Personen, die singt oder liest, in Erscheinung. Die Autorin befasst sich jedoch nicht zum Beispiel mit einer verkörperten Rede, denn diese wird meist durch ihre Aufführung betrachtet, sondern mit Texten, die nicht zur Aufführung bestimmt sind. Dabei bezieht sie sich auf Wolfgang Iser und Jonathan Culler und beschreibt Lesen als einen performativen Akt, der zum einen durch die Imagination der Lesenden entsteht und zum anderen durch den Text selbst. Durch das Lesen wird der Text inkorporiert und zum Eigenen gemacht. Die intensive Lektüre kann auch zu einer liminalen Erfahrung werden und die lesende Person noch lange nach dem Lesen beschäftigen.

Darüber hinaus befasst sich Fischer-Lichte mit dem Verweis auf David Freedbergs Studie „The Power of Images“ mit der Performativität von Bildern. Ein Bild ohne Betrachterin oder Betrachter kann keine transformative Macht entfalten. Nötig dazu ist der Blick, der den performativen Akt entstehen lässt. Dabei gilt, wie für die Literatur, dass die Erfahrung nicht zeitlich an die Rezeption gebunden ist, da „[d]ie Performativität [der Bilder] sich in Blickakten [erweist], die zwar das Bild nicht verlebendigen, in seiner Anschauung jedoch Wissen hervorbringen, das auf Zukünftiges zielt.“

In dem Kapitel über „die Macht der Dinge“ nähert sich die Autorin den Dingen aus einer performativen Perspektive. Während das Lesen oder Betrachten von Bildern als performativer Akt der Wahrnehmung gedeutet werden kann, verhält es sich bei Dingen so, dass sie mit allen Sinnen wahrgenommen werden können. Die Autorin beschäftigt sich hier mit heiligen Dingen, Gebrauchsdingen, Prestigedingen, musealisierte und vermüllte Dinge. Dabei schreibt sie diesen unterschiedlichen Dingen unterschiedliche Ausprägungen von agency zu. So hätten Gebrauchsgegenstände zum Beispiel kaum eine agency, obwohl der Mensch lernt mit ihnen umzugehen.

Im Schlusswort betont Fischer-Lichte, dass mit Performativen Studien lediglich eine Erweiterung des wissenschaftlichen Feldes gemeint sein soll. Eine performative Perspektive kann innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften von überall her eingenommen werden.

Schade ist, dass so manche aktuellere Diskussion hier nicht zur Sprache kommt. Wie zum Beispiel um agency bei Bildern, wie sie W. J. Thomas Mitchell begonnen hat und Gottfried Boehm aufgegriffen hat. Auch bei den Ausführungen um die Macht der Bilder wünscht man sich mehr Überlegungen zu Bruno Latours Arbeiten, der mit einem Buch zwar zitiert wird, jedoch verkürzt besprochen wird. Bei Latour haben Dinge eine agency, jedoch ist diese intentionslos, wie nach Latour auch Menschen keine Intentionen verfolgen können, da ihre Handlungen durch die Handlungsmacht von den Dingen gestört wird und somit die Intentionen verloren gehen.

Fischer-Lichtes Buch „Performativität. Eine Einführung“ lässt sich aber gut lesen, ist nachvollziehbar aufgebaut und lässt sich allen empfehlen, die sich mit dem Themenkomplex des Performativen auseinander setzen. Dass das Einführungsbuch weniger Antworten gibt und mehr Fragen stellt, spricht für das Buch, das die Leserinnen und Leser motivieren möchte, in die Perspektive der Performativität einzutauchen.

Titelbild

Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung.
Transcript Verlag, Bielefeld 2012.
240 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783837611786

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