Die Erfahrung des Kontingenten
„Narration and Hero“ erschließt die aktuelle Heldensagenforschung
Von Jan Alexander van Nahl
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEin Vierteljahrhundert ist verstrichen, seit unter der Federführung von Heinrich Beck mit dem zweiten Band der Ergänzungsbände zum „Reallexikon der Germanischen Altertumskunde“ der Themenkomplex „Heldensage und Heldendichtung im Germanischen“ in einer Momentaufnahme erschlossen wurde. Der vorliegende Band 87, der auf eine internationale Tagung in Santiago de Compostela zurückgeht, liefert nun abermals einen Querschnitt durch aktuelle Versuche, alten Fragen unter neuer Perspektive zu begegnen. Die im Herbst 2013 in München abgehaltene Tagung „Gold und Heldensage im frühen Mittelalter“ soll in absehbarer Zeit als thematisch anknüpfender Supplementband zum „RGA“ publiziert werden.
Dem aktuellen Band liegt die Einsicht zugrunde, dass die Spezialisierung mediävistischer Forschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine zunehmende Entfremdung der beitragenden Fachbereiche befördert hat. Man wird derzeit ohne größere Vorbehalte einer jüngsten Einschätzung von Alois Wolf zustimmen dürfen, wenn er die Altgermanistik dafür kritisierte, die reiche Überlieferung Nordeuropas wesentlich als Steinbruch zu missbrauchen. Gleichwohl muss man auch der Altskandinavistik vorhalten, in den letzten Jahrzehnten allzu selbstbezogen gearbeitet zu haben. Ein Gesamtentwurf im Stile Andreas Heuslers ist nicht mehr gewagt worden, und sicherlich stellen sich Überlieferungssituation und Forschungslage heute auch komplexer dar. Die unbefriedigende Situation verschärft sich noch, lässt man einen forschungsgeschichtlichen Blick über Ländergrenzen schweifen; zu oft scheinen hier vor allem Sprachprobleme den Austausch zu eng verwandten Fragestellungen zu behindern.
So muss es als richtungsweisend gelten, wenn der vorliegende Band für die europäische Heldenepik des frühen Mittelalters zumindest eine weitblickende Zusammenschau verschiedener Positionen anstrebt, die die Diskussion über alle Grenzen hinweg wieder stimulieren kann. Dazu trägt nicht zuletzt die ‚Zweisprachigkeit‘ der Aufsätze bei: Deutschen Beiträgen wurden englische Abstracts beigegeben, englischsprachigen Untersuchungen jeweils eine deutsche Zusammenfassung, teilweise sogar beides. Dieser Aufbau sollte nicht nur künftigen Tagungsbänden zum Vorbild gereichen, sondern generell Kooperationen über Disziplin- und Sprachgrenzen hinweg einen Impuls geben.
Achtzehn Beiträge namhafter Mediävisten finden sich im Buch vereint, die hier nur in einem Überblick eingeordnet werden können; einzig Joseph Harris trug bereits zum ersten Band von 1988 bei. Die Perspektive reicht zeitlich und räumlich vom Hildebrandslied über den Rinderraub von Cooley und den Beowulf bis zur Eyrbyggja saga, deckt also eine Anzahl an Jahrhunderten (über eine early medieval period hinaus) und Großteile Mittel- und Nordeuropas ab. Fünf Schwerpunkte werden gesetzt, die freilich nicht scharf zu trennen sind: Poetik und Rhetorik, Narrative, Mythos und Geschichte, Akkommodation sowie Rezeption. Es geht damit um Fragen eines heroischen Sprachstils und einer Poetik der Gewalt, um Austauschprozesse zwischen volkssprachlichen und lateinischen Erzähltraditionen, um Erzählkerne und Erzähllogiken, um Dekonstruktion. Das sind, wie gesagt, etablierte Fragen, zu denen die Beiträger in den meisten Fällen bereits einschlägig publiziert haben; eine „epochale Neuorientierung in der Heldensagenforschung“, wie Beck sie seinerzeit im Vorwort andeutete, steht nicht zu erwarten. Doch sind die vorliegenden Beiträge als neuerlicher Versuch der wegweisenden Orientierung auf einem weiten Forschungsfeld zu werten. Diesem Anspruch folgend, zeichnen sich die Aufsätze vielfach durch einen kritischen Blick auf bestehende Thesen aus, brechen sie zementierte Überzeugungen punktuell wieder auf und fordern insgesamt die verstärkte Anerkennung einer potenziellen Mehrdeutigkeit heroischer Dichtung; die kontroverse Ambiguitätsdiskussion hat in den letzten Jahren in der Mediävistik ja reiche Blüten getragen. Im vergleichenden Gesamtblick auf die Bände von 1988 und 2014 zeigt sich daher dann doch, welche Entwicklungen der Themenkomplex in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat.
Die jüngst zusammengeführten Studien lassen sich insofern schwerlich auf einen gemeinsamen Nenner reduzieren. Es kristallisiert sich aber eine – gleichwohl schwer zu definierende – ‚narrative Kontingenz‘ als Schlüsselbegriff heraus; ein Punkt, der zahlreiche Anknüpfungsmöglichkeiten bietet. Narrative Sinnbildung und soziale Wirklichkeit sind ja, wie Udo Friedrich in seinem Beitrag zusammenfassend hervorhebt, keine Alternativen, sondern stehen in unlösbarer Wechselbeziehung zueinander. Damit rücken nun wieder Individuen in den Fokus, denen im Wechselspiel von Tradition und Innovation erstaunliche Freiheiten zugestanden werden. Man darf wohl sagen, dass diese neuentdeckte Individualität einen wesentlichen Reiz auch künftiger Auseinandersetzungen mit mittelalterlichen Literaturen ausmachen wird. Walter Haug formulierte einmal, fiktionale Konstruktionen seien allein als ein Experiment zu betrachten, das eben in der Erfahrung von Kontingenz gründe; jede Konstruktion von ‚Sinn‘ wäre dann allein legitim, solange sie die Fragwürdigkeit des eigenen Tuns reflektiert. Das gilt für mittelalterliche Gelehrte wie für heutige Forscherinnen und Forscher. Die hier versammelten, anregenden Beiträge finden unter dieser Maxime ihren Platz.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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