Turnierplätze des Bürgertums

Kommunalpolitische Profile des Liberalismus in europäischen Großstädten um 1900

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Stadt ist der Quellgrund der bürgerlichen Gesellschaft. Hier entsteht und entfaltet sie sich, bildet Mentalitäten und Verhaltensweisen aus, die in der historischen Forschung seit etlichen Jahren unter dem Stichwort „Bürgerlichkeit“ diskutiert werden. In diesen Prozessen haben der Liberalismus als Ideologie und Habitus und dessen politisches Gefäß, das liberale Parteiwesen, eine zentrale Rolle gespielt. Während es die deutschen Liberalen auf Reichsebene in den 1870er-Jahren als Juniorpartner des Kanzlers Otto von Bismarck nur bis in die Vorhöfe der Macht brachten, saßen sie in der Mehrzahl der Städte, der mittleren wie der größeren, an den legislativen und exekutiven Schalthebeln. Das gelang allerdings nur so lange, wie sie im Rahmen der städtischen Verfassungen erheblich privilegiert wurden. Der kommunale Liberalismus konnte seine Herrschaft nämlich nur hinter den Mauern höchst ungleicher, undemokratischer Wahlreglements behaupten. Diese waren zwar buntscheckig, in Sachsen, Bayern oder Hamburg, selbst innerhalb Preußens von unterschiedlicher Gestalt, aber ihnen gemeinsam war, dass sie den egalitären Prinzipien und Erwartungen, die seit der Französischen Revolution in der Welt waren, Hohn sprachen. Die Stimmen wurden nach der Steuerleistung oder nach anderen Kriterien gewichtet. Wer viel hatte, brachte mehr auf die Waage als der, der wenig oder gar nichts hatte. Liberalismus und Demokratie fielen in den Städten auseinander.

Außerdem benötigten die Männer – und nur sie waren wahlberechtigt – als Voraussetzung für die Zulassung zum Urnengang das Bürgerrecht. Dessen Erwerb wiederum war an Steuer-, Aufenthalts- und Besitzqualifikationen geknüpft. Besonders begünstigt waren in der Regel die Haus- und Grundeigentümer, die deshalb im städtischen Ordnungsgefüge überproportionalen Einfluss hatten, namentlich bei Entscheidungen, die Infrastruktur, Einnahmen und Ausgaben, nicht zuletzt das Bauwesen betrafen. Wie sehr den Liberalen in den Gemeinden die Klassen- und Pluralwahlrechte zugute kamen, offenbarte seit den 1880er-Jahren, als sich die Hochzeit des Liberalismus dem Ende zuneigte, regelmäßig die Mandatsverteilung im Reichstag, für den ein gleiches Wahlrecht galt – mit dem Ergebnis, dass in manchen Städten die Sozialdemokratie sämtliche Wahlkreise eroberte, die Liberalen aber in ihren kommunalen Bastionen relativ unangetastet blieben.

Die Frage, was sie aus ihren Positionen vor Ort gemacht haben, beschäftigt die durchweg informativen Beiträge des von Detlef Lehnert herausgegebenen Sammelbandes. Bei allen Unterschieden im Blick auf Rahmenbedingungen und situative Gegebenheiten schälen sie doch ein paar Gemeinsamkeiten heraus. Nirgendwo in Deutschland zum Beispiel, und nur davon soll im folgenden die Rede sein, war das Bürgertum bereit, die Modalitäten des Wahlrechts zugunsten der unvermögenden Bevölkerungsschichten zu reformieren. Nur wenige Linksliberale – etwa Karl Flesch in Frankfurt oder Hugo Preuß in Berlin – vertraten in diesem Punkt abweichende Meinungen. Der sozialdemokratische „Vorwärts“ sprach nicht von ungefähr von „prähistorischer Gesetzgebung“, die dem Liberalismus ermögliche, „ohne eigenes Zutun“ in den Städten seine Macht zu behaupten. Trotzdem geriet er selbst hier gegen Ende des Jahrhunderts unter Druck, seltener durch den organisierten Antisemitismus, häufiger durch die Arbeiterbewegung.

Dank steigender Löhne konnten sich vermehrt auch die kleinen Leute den Erwerb des Bürger- und damit des Wahlrechts leisten. Davon profitierte im Wesentlichen die Sozialdemokratie. Diese begann ihrerseits die Kommunalpolitik als Feld einer reformorientierten Politik zu entdecken. Sie erschöpfte sich nicht mehr im Warten auf den großen Kladderadatsch – die Revolution – sondern zielte mit kleinen Schritten auf die Verbesserung konkreter Lebensverhältnisse.

Ungeachtet des prinzipiellen, programmatisch weiterhin gepflegten Antagonismus zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum ergaben sich punktuelle Kooperationen. Einen starken Beleg dafür liefert Karl Heinrich Pohls Studie über München, wo Sozialdemokraten und Liberale sich einig waren im Kampf gegen die Kirche und den politischen Katholizismus. Der Autor konkretisiert das anhand gemeinsamer Initiativen im „Landesverband der bayerischen Presse“ sowie anhand des Gesundheitswesens. Die zu diesem Zweck eingerichtete „Kommission für Arbeiterhygiene und -statistik“ wertet Pohl als Paradigma „einer partei-, klassen- und konfessionsübergreifenden“ Zusammenarbeit zur Lösung von Sachfragen. Daraus habe sich so etwas wie ein „sozial-liberales“ Paradigma entwickelt, ein Versuch gewissermaßen, „die Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit zu entschärfen.“ Voraussetzung dafür sei zum einen der „aufgeklärte Kurs der Münchener Liberalen“ gewesen, zum andern eine „reformorientierte“ Schicht von Funktionären in der sozialdemokratischen Partei wie den sozialdemokratischen Gewerkschaften. Pohl neigt dazu, dies zum „sozialliberalen Modell“ zu erheben, in den anderen Aufsätzen des Sammelbandes findet sich dafür jedoch keine Bestätigung, mit Ausnahme der Stadt Frankfurt vielleicht, wo Ralf Roth zumindest langfristig das „Angebot einer Konsenspolitik“ auch mit der Arbeiterbewegung ausmacht.

Industrialisierung, Binnenwanderung und in deren Gefolge Prozesse der Segregation, die entlang der Klassen- und Armutslinien liefen, konfrontierten die kommunalen Körperschaften mit gravierenden Problemen. Um sie zu meistern, wurden die Städte zu Laboratorien der Daseinsfürsorge und Daseinsvorsorge, egal ob das mit den Prinzipien des Liberalismus übereinstimmte oder nicht. Das Spektrum an Aufgaben, die der Erledigung harrten, war breit gefächert. Für eine wachsende Arbeiterbevölkerung musste erschwinglicher Wohnraum geschaffen werden, Familien, vor allem aber die expandierende Industriewirtschaft bedurften der Energie, mußten mit Gas und Strom beliefert werden. Zu diesem Zweck wurden Versorgungsunternehmen gegründet, die teils in privater, teils in kommunaler Regie betrieben wurden. Schulen mussten gebaut, erweitert, verbessert und unterhalten, Lehrer besoldet werden. Da die Linderung materieller Nöte allein mit christlicher Nächstenliebe nicht mehr bewältigt werden konnte, etablierte sich eine nach und nach professionalisierte Sozialbürokratie. Überhaupt differenzierten und verzweigten sich die kommunalen Behörden, die allmählich Züge einer Leistungsverwaltung annahmen und damit einer wachsenden Zahl von Beschäftigten Lohn und Brot boten. Unter den Zeitgenossen kursierte für all dies ein Begriff, der uns heute fremd geworden ist: „Munizipalsozialismus“, ein politisches Projekt, ausgedacht und maßgeblich befördert nicht von der Sozialdemokratie, sondern von Vertretern des kommunalen Liberalismus.

Zu dessen säkularen Errungenschaften gehört, daß er die städtischen Gesellschaften zusammenhielt, sie durch die Periode eines beschleunigten sozialen und wirtschaftlichen Wandels ohne nennenswerte Eruptionen und Revolten hindurchsteuerte. Dies war, wie Dieter Langewiesche in einer empirisch und perspektivisch reichen Analyse hervorhebt, „eine der großen Erfolgsgeschichten des 19. Jahrhunderts“. Und doch, heißt es weiter, hat dies das „Bild des Liberalismus“ nicht bestimmt, weder damals noch heute. Es hat dieses weder positiv aufgeladen noch in das kollektive historische Gedächtnis inkorporiert. Warum ist das so? Die Nation, lautet eine von Langewiesches Antworten, habe alles andere überstrahlt. Hier entschied sich, was haften blieb und was nicht. Der allmähliche Abstieg und der fortdauernde Bedeutungsverlust seit den 1880er-Jahren hat die Phasen des Aufstiegs davor überschattet. Kurzum: „Die Kommunalgeschichte und mit ihr der Kommunalliberalismus erhielten keinen angemessenen Platz in der Nationalgeschichte.“ Hinzu kam, dass sich die liberale Stadt der Daseinsvorsorge hinter den Mauern eines illiberalen Wahlrechts verschanzte. Sozialpolitischer Fortschritt kam nicht im Mantel der Demokratie daher und entband keine Willensakte zu einer Demokratisierung der städtischen Verfassungsstrukturen. „Aus der bürgerlichen Selbstverwaltung“ gingen daher auch keine Impulse für eine Reform des monarchischen Obrigkeitsstaates hervor. Die Fallstudien des vorliegenden Sammelbandes, die mit solchen zu europäischen Metropolen wie Paris, London, Wien und Budapest verbunden und kontrastiert werden, bieten für dergleichen Einsichten vielfältiges, anregendes und hochinteressantes Anschauungsmaterial.

Titelbild

Detlef Lehnert (Hg.): Kommunaler Liberalismus in Europa. Großstadtprofile um 1900.
Böhlau Verlag, Köln 2014.
320 Seiten, 42,90 EUR.
ISBN-13: 9783412221317

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