Porträtlandschaften – Landschaftsporträts

Eine monografische Darstellung über den „Schriftmaler“ Max Uhlig

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als „grafischer Zeichner (Schriftmaler)“ wollte er sich bezeichnet wissen und anstelle des Zeichnens und Malens eher den Begriff des raschen „Niederschreibens“ des Sichtbaren gelten lassen. Mit seiner fließend spontanen Kalligrafie hat der 1937 in Dresden geborene Max Uhlig in den 1960er-Jahren ein neues expressives Moment in die ostdeutsche Kunstlandschaft eingebracht. Die Formen seiner Zeichnungen und seiner seit Mitte der 1970er-Jahre für ihn immer wichtiger werdenden großformatigen Malerei werden zu einem ununterbrochenen Fluss von gestischen Zeichen und grafischen Schwingungen, die um ein imaginäres Zentrum auf dem Blatt oder der Leinwand herumwirbeln und sich allmählich bis zu den Rändern ausdehnen. Oder, anders gesagt, eine greifbar innere Spannung zieht das Gewebe, das Netzwerk zur Mitte hin zusammen. In der Linie als der Spur einer unaufhaltsam vorwärtsdrängenden Energie fand Uhlig sein wichtigstes Ausdrucksmittel, um affektive Momente seines Lebensgefühls spontan sichtbar und erfahrbar zu machen.

Auf dem wartenden Papier, auf der Leinwand schreibt sich eine gespannte Energie spontan in Liniendiagrammen und Psychogrammen ein. Nervöse Hektik erzeugt scheinbar statische Ruhe. Da gibt es kurze und lange, feine und breite, schnelle und langsame, hetzende und zögernde Feder- und Pinselstriche, sich kreuzende, schwebende, fließende und tropfende Linien. Es gibt Spritzer, Flecken, Schlieren, Rinnsale, versickernde Verläufe. Der Schriftmaler setzt Strich gegen Strich, Fleck an Fleck, amorphe Form an amorphe Form, ein Gewebe aus eigentümlich dunkel gebrochenen Farben, Texturfelder, von Kürzeln unterbrochen, zu gegenständlichen Restformen gerinnend. Gelegentlich bricht ein Strich in das Gespinst ein, klärt, bestimmt oder stört. Ein wirbelndes Liniengeflecht von knisternder, unerlöster Energie zeigt eine aufgetretene Konfliktsituation an. Ausstreichendes, kreuzendes Strichwerk scheint die angebotene Lösung zu verwerfen, Linienbündel wie massives Balkenwerk eine neue Behauptung zu erstellen. Auf das Ungerichtete folgt zusehends Verdichtung, Betonung, Definition. Es sondert sich Gestalt von Textur – es entstehen Rhythmus und Raum.

So etwa könnte der Arbeitsvorgang Uhligs umschrieben werden, im Zentrum des Blattes beginnend, in mehreren Arbeitsstufen, von der Offenheit des Unbestimmten zur erreichbaren Klarheit und Bestimmtheit. Dabei bleibt alles Gemachte sichtbar, nichts geht verloren. Das Thema tritt erst in der Endphase der Zeichnung, im Zustand der Verdichtung und Verbindung aller Ebenen, in Erscheinung.

So wie er Personen, die ihm einmal Modell gesessen haben, gern wiederholt porträtiert, um dem unerbittlichen Verrinnen der Zeit Ausdruck zu verleihen, hat er auch „seine“ Landschaften immer wieder – über Jahre hinweg – aufgesucht. Die Dresdner Elbaue hatte er sozusagen vor der Ateliertür. Doch seit 1965 hielt er sich auf Usedom auf, später in der mecklenburgischen Landschaft sowie auf Rügen. Seit 1982 verbrachte er auch jährliche Arbeitsaufenthalte im Erzgebirge. Wochenlang arbeitete er in Schleswig-Holstein, längere Zeit auch am Meer, bevor er  sich dann nach einer Südfrankreichreise 1990/91 zeitweise einen Wohnsitz in der Provence nahm. 2014 gestaltete er die ersten zwei von dreizehn Glasfenstern in der Johanniskirche in Magdeburg.

Im Kunstmuseum Unser Lieben Frauen Magdeburg gibt es bis 26. Oktober eine umfangreiche Retrospektive des in fünf Jahrzehnten geschaffenen Gesamtwerks von Max Uhlig. Die die Schau begleitende Publikation widmet sich dem zeichnerischen und malerischen Schaffen des Künstlers: Annegret Laabs beschäftigt sich mit Stil und Arbeitsweise Uhligs. Weshalb werden die Formate seiner Arbeiten immer größer, wie geht der Künstler mit der Farbe um? Ilka Rambausek interpretiert die Tuschezeichnung „Fliegende Wolke über See“ (1990), während Uwe Sellner sich mit den Fenstern von St. Johannis auseinandersetzt. Anschließend werden die einzelnen Schaffensetappen mit ihren jeweiligen thematischen und medialen Schwerpunkten vorgestellt: Die Anfänge bis 1976; Lübkow, Krukow bei Penzlin (Mecklenburg) 1973–1984; Dresden, Elbufer 1978–1990; Deutschneudorf (Erzgebirge) 1982–1998; Straßenszenen 1984–1989; Bildnisse 1971–2003; Faucon Provence-Alpes-Côte d’Azur 1991–2011. Biografie und Werkverzeichnis schließen den reich mit Abbildungen versehenen Band ab.

Sieht man einmal von den sporadischen Stillleben und den erst in den 1980er-Jahren hervortretenden figurenreichen Straßenszenen ab, hat sich Uhlig zeitlebens in fast monomanischer Besessenheit allein dem Porträt und der Landschaft verschrieben. Dabei gleicht der Kopf, der menschliche Körper einer Landschaft mit labyrinthischen Wegen, wie die Landschaft in sich alle sichtbaren und unsichtbaren Kraftlinien eines Körpers vereinigt. Zwar ist das Porträt sein Thema, doch ein „Porträtmaler“ im eigentlichen Sinne ist Uhlig nicht. Der Mensch soll nicht als Abbild, sondern als Sinnbild seiner selbst künstlerisch definiert werden. Statt einfacher Wiedererkennbarkeit zieht der Künstler Typisches aus dem Individuum. Und dieses für den Menschen Typische versammelt sich im Kopf. Alles konzentriert sich auf den Kopf. Dort ballt sich alle Energie. Der Kopf, von dem intensiven blicklosen Blick durchdrungen und beherrscht, ist das Zentrum, eine Fläche gesteigerter, höchster Konzentration.

Der von Uhlig verehrte Schweizer Maler und Bildhauer Alberto Giacometti war der Überzeugung, dass die Distanz, die man zu einer menschlichen Figur einnehmen muss, um sie mit einem Blick als Ganzes wahrzunehmen, in Bild und Plastik zu relativ kleinen Maßen führt. So nimmt es nicht wunder, dass die kleineren Arbeiten eine ganze Welt enthalten können. Uhlig dagegen bevorzugt den Ausschnitt im Großformat. Denn in der Nähe entfaltet das Detail seine Wirkung. Körper und Köpfe entstehen seismographisch aus inneren Erschütterungen – es sind unsichere, doch keineswegs unentschiedene Erscheinungen ohne anatomische Prägnanz und physiognomische Deutlichkeit. Die Epidermis erscheint fragil und fraktal, wie zerstört. In den Köpfen sehen wir Blick und Leere, Leben und Totenstarre gleichzeitig, einen Blick an der Grenze zu dem Sichtbarem und Unsichtbarem. Dabei entbehren die in der Ebene des Blickens ausgerichteten Körper jeder körpereigenen Gestik. Unter den immer neu sich eingrabenden, kreuz- und bündelweise geführten Pinselstrichen, ja Pinselhieben werden die Köpfe schwarz und fest.

Trotz ihrer Typologie sind Uhligs Porträts Bildnisse von Mitmenschen, sensibel und teilnehmend ertastet und von seltener, betroffen machender Eindringlichkeit. Der nicht von der Hand zu weisende Momento mori-, der Vanitas-Aspekt, regt ihn aber nicht zu Mahntafeln an. Uhlig gibt dem Modell die Wirklichkeit im Hier und Jetzt und zugleich in zeitloser Präsenz zurück. Kein Leben wird in den Gesichtern erzählt, ein Lebensaugenblick zuckt auf. Keine Figur, eine Abbreviatur, eine Fraktur, ein Substrat des Zerbrechens tritt hervor. (Das lateinische Verb ‚frangere’ hat das Partizip Perfekt ‚fractus’: gebrochen, zerbrochen, zerrissen, überwältigt, verwundet und so weiter.) Die Suche nach dem wahren Sitz des Ich wird zur Suche nach dem anderen. Das Ich als anderer.

Für die Spaltung des Ich hatte der französische Dichter Arthur Rimbaud die grammatikalisch kühne Formel gefunden: „Je est un autre“ (Ich ist ein anderer). Aber auch: Der andere als Ich. Es gibt nicht mehr das selbstgewisse, abgegrenzte Ich, das eine präzisierbare Identität zu erlangen vermag. Das Ich erscheint heute als imaginäres Kräftefeld mit offenen Grenzen, es ist innerlich zerrissen, facettiert und fragmentiert. Und doch lässt das Kaleidoskop der Aufsplitterung, das Netzwerk der Unerkenntlichkeit immer wieder – annähernd – die unverwechselbaren Züge des Ich durchscheinen. Das Wechselspiel von Konzentration und Auflösung, Bestätigung und Infragestellung, Komposition und Dekomposition, Auseinander- und Zusammensetzung charakterisiert Uhligs Arbeiten. Das Ich, zwischen Identität und Nichtidentität schwankend, wird konstruiert, aufgelöst, zerlegt, vervielfältigt, variiert, wieder zurückgenommen und in etwas anderes verwandelt – und letztlich wieder auf das Eigene, Individuelle zurückzuführen versucht. Identität, sofern es sie noch gibt, setzt sich demnach aus einer Vielzahl unterschiedlichster Momente zusammen. Oder auch: Es gibt nur noch multiple, bewegliche, variable Identitäten. Alles fluktuiert und scheint einem permanenten Prozess der Metamorphose unterworfen. Der Gestaltwechsel als Normalfall ist ein Axiom im Paradigma unserer Zeit.

Trotz aller verfremdenden, identifikationsstörenden, illusionszerstörenden Vorkehrungen Uhligs kann der Betrachter zwar noch mit den Figuren mitleben, das Drama der menschlichen Psyche verfolgen. Aber vor allem muss er zu einem naiv-neugierigen Semiotiker, zu einem „Zeichenleser“ werden, der gleichzeitig mit den sofort erkennbaren Inhalten die differenzierten, vielschichtigen Formen „liest“. Der die Porträts als sprachliche Texte und als Bildfolgen betrachtet und nicht als Abbildungen von Wirklichkeit.

Doch – und das ist das Faszinierende dieser Arbeiten – aus dem ungestümen Pinselduktus wird die starke innere Energie, eine Urkraft, bezogen, die in jeder Farbspur, jedem Farbfleck, Tupfen, Wirbel, Kritzel, Strichkomplex, Farbhäkchen um sie herum übermittelt wird und in ihnen gespürt werden kann. Wie im Kubismus ist die Oberfläche bei Uhlig keine Komposition aus Gegenständen, sondern eine Fläche von miteinander verbundenen Kraftströmen, die sehr subtil abgewandelt sind, hier dicht und pulsierend, in lang ausfahrenden oder hart gesetzten Linien von opaker Schwärze, dort hell und zart, im flüchtigen Verschweben vor dem weißen Blattgrund. Die ganze engmaschig verwobene Oberfläche scheint zu pulsieren. Es kommt einem vor, als ob Uhligs Werk von jedem Bezug zur physischen Welt gereinigt worden wäre. Er hat zu einem vollkommen reduzierten Stil gefunden – keine Farben außer Rot, Blau, Grün und Gelb, ein Braun und Orange, dazu Schwarz und Weiß, die „Nichtfarben“, nur noch horizontale, diagonale und vertikale Achsen. Die Linien sollen sozusagen eine geistige Kontinuität überall in der Natur offenbaren, die dicht und leer, positiv und negativ, horizontal und vertikal vereint. Und diese verschlungenen Oberflächen werden dann zu labyrinthartigen Verwirrungen, zu Kreuz- und Querverbindungen zwischen Vorder- und Hintergrund weiterentwickelt.

Die ganze Bildfläche hat sich in ein Kontinuum von kleinen und großen Episoden verwandelt. Mit Kontrasten von hell und dunkel wird die Dreidimensionalität abgelegt. Das Auge muss nicht mehr in die Tiefe gehen und dann zurückkommen – hier gibt es nur noch die hin und her pendelnde, kurvende und springende Bewegung von Partikeln „auf“ der Oberfläche.

Erscheinen die Zeichen der Porträts mit ihrer Nahaufnahme des Details als in Dialog gesetzte Formen, als Abdruck psychischer – weniger sozialer – Befindlichkeit, so sind die Zeichen der Landschaften mit ihrem schwarzen oder farbigen Allegro furioso und ihrer Menschenleere Wege für das Auge des Betrachters. Hier geht der Blick gleichsam aus der Vogelperspektive in die Tiefe des Landschaftsraums und muss dann zurückkommen. Landschaften als komplexe Partituren, als Spannungsfeld zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen Natur, Wahrnehmung und Befinden. Uhlig zeichnet zwar „vor der Natur“: „Beim langen Anblick teilen sich rhythmische Spannungen mit, wird scheinbar Gewohntes neu entdeckbar.“, doch muten seine Strichlandschaften wie „Grundrisse der Erinnerung“ an. Die vehementen Strichkomplexe, die gestischen Schwünge, die hingeschriebenen malerischen Passagen – Felder aus kleinteiligen, divergierenden, homogenen oder verschiedenartigen Formelementen (Zeichen) unterschiedlicher Dichte –, die an Wolken, Vogelschwärme, Erde, Wasser, Laub und Gras erinnern, bilden das flächige Ordnungsgefüge für das Erscheinen gegenstandsbezogener Formen. So entstehen langsam im Erkunden und Abwägen, Verwerfen und Entscheiden Arbeiten von großer Dichte, in denen Verwandtes und Disparates, Leichtes und Schweres, Spontanes und Konstruiertes, Gegenständliches und Ungegenständliches eine unauflösbare Einheit eingehen.

Bis heute lebt Uhligs Kunst von der ständigen Verwandlung des Wirklichen in der Erscheinung, vom Wechsel von Aufbau und Zerstörung, von Formation und Deformation, von Innovation und Irritation. Aber zugleich besitzt der Künstler die seltene Fähigkeit, diffuse Formkomplexe zusammenzufassen und ein einheitliches Lebensgefühl in der Balance des Disparaten zu bewahren.

Titelbild

Max Uhlig: Vor der Natur gewachsen.
Herausgegeben von Annegret Laabs.
Hirmer Verlag, München 2014.
168 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783777422800

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch