Wirrwarr im Ruhrpott

Jörg Albrecht entwirft ein kreatives Utopia und scheitert

Von Wolfgang M. SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang M. Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In diesem Jahr kann man in der deutschsprachigen Literatur einen Trend oder zumindest eine Tendenz ausmachen: Der Aussteiger ist der neue Romanheld. Die radikalste Form des Ausstiegs, den Selbstmord, beschreibt Lukas Bärfuss in „Koala“. Marlene Streeruwitz gebiert einen „Nachkommen“, Nelia Fehn, um aus dem Literaturbetrieb auszusteigen. Lutz Seiler erzählt in „Kruso“ von den Gestrandeten auf Hiddensee, fernab des real untergehenden Sozialismus und Esther Kinsky bewegt sich „Am Fluß“ entlang sprachmächtig durch die Peripherie. Und Jörg Albrecht gründet in seinem Zukunftsroman „Anarchie in Ruhrstadt“ gleich einen Kleinstaat mit Aussteigern.

Albrechts Idee ist charmant. 2015 zieht sich die Ministerpräsidentin Nordrhein-Westfalens, Hannelore Kraft, als Souverän aus den Ruhrstädten zurück. Gleich machen sich Schriftsteller, allen voran der selbstbewusste György Albertz, der Name des Autors klingt hier an, Künstler und Kreative auf den Weg, um die 53 Städte zu einer Ruhrstadt zusammenzulegen und ein postindustrielles Utopia zu gründen. Erzählt wird von dieser gesellschaftlichen Umwälzung aus der Retrospektive. Im Jahr 2044 sind die Zustände keineswegs paradiesisch. Einstige Alternativen haben sich als Irrwege erwiesen und bei den Aussteigern ist rechtzeitig der Kapitalismus mit seinen effizienten Konzernen eingestiegen.

Albrechts Text handelt vor allem davon, dass man dem System nicht einfach entkommen kann – schon gar nicht mit Hilfe von Kunst, Kultur und den allenthalben erwünschten kreativen Kompetenzen. Denn gerade der künstlerische Widerstand oder der kreative Gegenentwurf ist das, was eine kapitalistisch organisierte Wirtschaft braucht, um sich ständig erneuern zu können. Chaos und Krise sind entscheidende Wirtschaftsmotoren, wie vor einigen Jahren die Globalisierungskritikerin Naomi Klein in ihrer Untersuchung „Schock-Strategie“ dargelegt hat. Es wundert nicht, dass Albrecht ein Kapitel des Buches mit „Die schöpferische Zerstörung“ überschreibt und damit eine wieder populär gewordene Theorie des Ökonomen Joseph Schumpeter zitiert. Das ist keineswegs neu: Schon Ernst-Wilhelm Händler stützte sich in „Wenn wir sterben“ auf den originellen Denker. Doch ist dies noch lange nicht der einzige alte Zopf, mit dem Albrecht seine Geschichte schmücken möchte. Seine theoretische Grundlage verdankt der Text hauptsächlich den Anfang der Nullerjahre erschienen Publikationen zu den „Creative Industries“ beziehungsweise zur „Creative Class“ von Richard E. Caves und Richard Florida, die implizit gegen den von der Frankfurter Schule negativ besetzten Begriff der „Kulturindustrie“ anschreiben und eine schöne neue Welt des Kreativseins ausmalen – digital und analog. Diese Thesen hinterfragt der Text und führt sie ad absurdum. Albrecht, der auch dem Theaterkollektiv „copy & waste“ angehört, lässt darüber hinaus seine Erfahrungen mit der sogenannten „Freien Szene“ in den Text mit einfließen. Man will „Teil der großen Performance werden“ und „zugleich ist PERFORMANCE der große Leitbegriff für alle Stadtteile, das, was sie zusammenschweißen soll, der Kernterminus der Regierung. Man kann bei diesen Schilderungen an Berlin denken. Seit einigen Jahren debattieren Theaterwissenschaftler, ob nicht gerade die sich gerne besonders widerständig gebende Performance-Kunst perfekt in den Neoliberalismus eingepasst werden kann.

Leider wird aus all dem kein Roman. Man könnte jetzt, wollte man lügen, die Hybridität des Textes loben; „Anarchie in Ruhrstadt“ ist aber lediglich ein Flickwerk, das passagenweise geradezu unlesbar ist. Die 44 kurzen Kapitel, die jeweils noch einmal in viele Absätze unterteilt sind, erwecken den Eindruck von losen Blogeinträgen mit Kommentaren, Verlinkungen und Exkursen in Buchform. Die einzelnen Betrachtungen und Erläuterungen sind entweder glossenhaft und klischeebeladen oder plotlastig und ähnlich spannend zu lesen wie Inhaltsangaben zu kruden Seifenopern. Von zahllosen Namen ist die Rede, jedoch wird selten daraus eine Figur. Nun haben schon die berühmten Utopien von Francais Bacon, Tommaso Campanella und Thomas Morus häufig aufzählenden Charakter, wenn der Aufbau der Gesellschaft, die Gesetzgebung und die Staatsordnung erläutert werden, doch bleibt genau das bei Albrecht auch nach gründlicher Lektüre völlig inkohärent. Anarchismus wird hier mit Wirrwarr verwechselt. Der Roman, der keiner ist, kann bestenfalls als Skizzenbuch für ein Theaterprojekt dienen. Im November diesen Jahres wird der Autor und sein Kollektiv etwas unter dem gleichnamigen Titel im Theater Oberhausen zur Aufführung bringen.

Das mag im Theater funktionieren, in der Literatur ist das Projekt jedoch gescheitert. Es ist unbegreiflich, wie ein solches Konglomerat an Unausgegorenem das Lektorat passieren konnte, zumal man auch auf sprachlicher Ebene durch Brachland irrt. Kaum ein eleganter Satz ist da zu lesen und selbst die popliterarischen Pointen werden derart ungelenk und platt herbeigeschrieben, dass retrospektiv selbst minderbegabte Autoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre zu glänzen beginnen. Den Text vorlesen ist unmöglich, man könnte ihn daherplappern. Neben den schwachen Anleihen an die Popliteratur der 1990er–Jahre und die Comic-Sprache dröhnt hin und wieder der gut etablierte René-Pollesch-Sound, in dem sich Subversion und Affirmation in alternativ gekleidetes Wohlgefallen auflösen, durch. Die Anzahl der sprachlichen Mittel ist beschränkt: Fast ausschließlich die rhetorischen Figuren der Wiederholung scheinen es dem Autor, oder sollte man besser vom Textproduzenten sprechen?, angetan zu haben und wiederholen sich stetig. Vermutlich gibt es in der gesamten Weltliteratur keinen Text, der mit so vielen Anaphern aufwarten kann wie „Anarchie in Ruhrstadt“. Die sprachlichen Redundanzen decken sich mit den inhaltlichen. Aus der sich als Dystopie erweisenden Utopie will man so schnell wie möglich wieder aussteigen und fliehen.

Titelbild

Jörg Albrecht: Anarchie in Ruhrstadt. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
240 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835315525

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