Das große Kleine im Blick
Ein Sammelband über die „Kulturen des Kleinen. Mikroformate in Literatur, Kunst und Medien“
Von Marc Reichwein
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Kleine: Man findet es in herzhaften Redensarten („In der Kürze liegt die Würze“) wie in süßen Patisserien („Petit Fours“), man kennt es aus ökonomischen Zusammenhängen („Kleinanleger“) wie aus medizinischen Kategorien („kleinwüchsig“). Man begegnet dem Kleinen in positiven oder negativen Konnotationen („Kleinod“ versus „kleinkariert“), und man kultiviert es wahlweise für die Wissenschaft („Miszellen“ in Werkausgaben) oder für den Tagesgebrauch („Kleine Form“ im Feuilleton). Kurzum: Es wäre einmal reizvoll, die längst überfällige Kulturgeschichte des Kleinen zu schreiben. Bis es soweit ist, setzen einschlägige Tagungen und Sammelbände das Brainstorming zum Thema fort. „Welche Funktion und welche Bedeutung übernehmen kleine Dinge, Materialien und Schreibweisen, kleine und kleinste Form für die Konstitution von Mentalitäten und die Beschreibung moderner und postmoderner Kulturen“, fragen Sabiene Autsch, Claudia Öhlschläger und Leonie Süwolto als Herausgeberinnen eines Bandes, der die Beiträge eines Kongresses vom Frühjahr 2013 wiedergibt.
Das Buch interpretiert sein Thema genretypisch heterogen. Man könnte auch sagen: es bestätigt die These vom Tagungsband als Setzkasten für wissenschaflichen Krimskrams. Vielleicht sind die Erkenntnisse en gros deshalb so banal: Dass die kleine Form mit spezifischen Erfahrungen der Moderne konvergiert („Zersetzung des Ganzen“) haben wir schon ein paar Mal zu oft gelesen. Und dass die Moderne das Fragment oder die (Tagebuch-)Notiz als literarische Gattungen befördert hat, steht bald in jeder Literaturgeschichte.
Ertragreicher geraten sind die Aufsätze, die am Fallbeispiel konkret werden wie Jens Hobus zur Ethik und Ästhetik des Kleinen im Werk von Robert Walser. Hobus identifiziert Walsers Beziehung zum „Klein sein und Klein bleiben“ auf vier Ebenen, im Schriftbild (Mikrogramme), als Sujet (bis hin zu seinen masochistischen Liebesszenarien der Unterwerfung), aber auch auf der Ebene der formalen Gestaltung seiner Prosastücke (Walsers Erzählgestus windet sich geradezu, um die Aufmerksamkeit immer wieder auf das Kleine und Nebensächliche zu lenken) und auf der Ebene der Gattungsreflexivität. Es gibt bei Walser viel Auseinandersetzung mit der „Kleinen Form“ und auch entsprechende Äußerungen Carl Seelig gegenüber: Danach kann Walsers Rückzug ins „Schneckenhaus der Kurzgeschichte und des Feuilletons“ auch als resignative Existenzform im Literaturbetrieb gelesen werden.
Allgemein ist die theoretische Beschäftigung mit Mikro-Phänomenen ästhetischer Kommunikation nichts Neues. Schon die antike Rhetorik kannte das brevitas-Ideal, auf das Maren Jäger im vorliegenden Band zu sprechen kommt. Auch die Feststellung, dass dem Kleinen gleichermaßen quantitative wie qualitative Charakteristika zukommen, scheint für sich schon fast ein Allgemeinplatz. Umso interessanter, wenn es an konkreten Verfahren wie Alexander Kluges „Pointierungsperspektive“ (wie im Aufsatz von Jens Birkmeyer) beleuchtet wird.
Überraschende Erkenntnisse bietet der Aufsatz von Matthias Thiele, der auf die Bedeutung des Fernsehens für die kleine Prosaform der literarischen Notizen in Buchform zu sprechen kommt. Wenn etwa ein Peter Handke (in „Das Gewicht der Welt“) beim Fernsehen notiert: „Ich übte mich nun darin, auf alles, was mir zustieß, sofort mit Sprache zu reagieren“, wäre auf unsere Gegenwart auszuweiten. Vor dem Hintergrund von Manfred Schneiders These, wonach der autobiografische Text des 20. Jahrhunderts ein „Kommentar auf die medialen Gegebenheiten“ ist, wären die literarischen und philosophischen Notizfunktionen moderner digitaler Medien wie Facebook oder Twitter näher zu untersuchen.
Nicht alles, was heute kleinteilig scheint, wurde auch erst heute erfunden. Lobenswert an dem Sammelband ist, dass er mit den Kulturen des Kleinen auch entsprechende Kontinuitäten ins Visier nimmt, etwa Alfred Polgars Plädoyer „Das Leben ist zu kurz für lange Literatur“ aus dem Jahr 1926. Anfang des 21. Jahrhunderts stehen Feuilleton-Thesen wie die, dass Serien der neue Roman der Gegenwart seien, oder Projekte wie der Kanon kurzer Bücher in der Tradition von Polgars Plädoyer für episodisches Erzählen.
Überhaupt bringt die Geschichte der Medien und ihrer Rezeption fortlaufend neue Kleinformate hervor, und die Aufgabe der Wissenschaft wäre es, sprachliche oder literarische Kürze nicht nur zum Gegenstand theoretischer Betrachtungen zu machen, sondern stets auch in ihren medialen Existenzbedingungen mit zu reflektieren. Besonders gelungen erscheint dies im Aufsatz von Mirna Zeman über die konstitutive Funktion von Paratexten für die Wahrnehmung von Hypes. Demnach sind es „mobilisierende Mikroformate“, kleine visuelle und / oder textuelle Signale wie Buchcover, wiederkehrende Namen, Etikettierungen und Stichwörter, die bestimmte Moden des Kulturlebens kommunikativ präsent und damit existent machen. Mit anderen Worten: Die literaturwissenschaftlich lange nur als Beiwerk bedachten Paratexte sind beileibe keine Petitessen!
Alles in allem ist „Kulturen des Kleinen“ ein thematisch eher zufällig bis beliebig bestückter Band. Er wird von keiner übergreifenden theoretischen Klammer zusammengehalten, hält aber dennoch ein paar erhellende Einzelanalysen bereit. Dass uns narrative und mediale Kleinformate vom bloggenden Professor („Lectio brevior“) bis zur E-Book-Verlagsstrategie namens „Mikrotext„ (nomen est omen!) in Zukunft weiter beschäftigen, davon darf man ausgehen.
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