Steppengesang

In „Sehnsucht nach Djamila“, einer Adaption von Tschingis Aitmatows kirgisischer Novelle, wird Liebe zur Inspiration eines Künstlerlebens

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Für Louis Aragon, der „Dshamilja“ (1958; auf Deutsch 1960 erschienen – unterschiedliche Schreibweisen des Namens sind den Übertragungen aus dem Russischen geschuldet) ins Französische übersetzte, war sie ’die schönste Liebesgeschichte der Welt’: „Eine kurze Geschichte, und gleichzeitig unermesslich. Eine Liebesgeschichte ohne ein einziges überflüssiges Wort, kein Satz, der nicht sein Echo im Herzen weckt.“ Aragons Kommentar zum Buch wurde berühmt. Was er hingegen über die erste, gleichnamige Verfilmung (UdSSR 1969) von Irina Poplawskaja dachte, ist leider nicht überliefert. Noch heute überstrahlt die Popularität des einfühlsamen Buches die des Films, der weitgehend in Vergessenheit geraten scheint. Zu Unrecht, verbindet er doch cineastische Avantgarde mit literarischer Poesie, dokumentarische Attitüde mit erzählerischer Phantasie.

Dabei mutet die Story so karg wie die zentralasiatische Steppe an: In Kirgisien zu Beginn der 1940er Jahre lebt der halbwüchsige Sejt (Nasredin Dubaschew) mit Mutter (Aliman Dshangorosowa) und Schwägerin Djamila (Natalja Arinbassarowa) in einem Aul, einer Siedlung der Turkvölker. Sejts Bruder bzw. Djamilas Ehemann Sadyk (Altinbek Kenshekow) kämpft im Zweiten Weltkrieg. Als sich Djamila in Danijar (Sjuimenkul Tschokmorow), einen verwundeten, von der Front heimgekehrten Soldaten verliebt, wird das dörfliche Gefüge erschüttert. Aber die Liebe erweist sich stärker als die Tradition. Sejt wird unmittelbar Zeuge dieser Ereignisse. Sie verändern ihn und seinen Blick auf die Welt. Er reift zum Künstler heran.

Tradition und Wandel

Buch und Film atmen die träumerische Melancholie der Erinnerung. Sejt, mittlerweile ein studierter Maler, blickt in seine Jugend zurück; genauer, in jenen Sommer, als er erwachsen wurde und Djamila für immer verlor. Er hatte sich auf kindliche Art in die lebenslustige Frau verliebt, die wie alle fleissig bei der Getreideernte für die Kolchose hilft, aber wie kein anderer ihre Gefühle zeigt. Die Konvention verlangt Haltung, Djamila hingegen haftet Ungezähmtheit an. Sie war/ist die beunruhigende Herausforderung des Bestehenden. Damit personifiziert sie einen für das Werk des kirgisischen Schriftstellers Tschingis Aitmatow (1928-2008) typischen Konflikt, nämlich das Spannungsverhältnis zwischen Gesellschaft/Kollektiv und Individuum. Dieser reflektiert gleichzeitig indirekt die neuere Geschichte Kirgisiens. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Land vom russischen Zarenreich erobert, war danach von 1876 bis zum Ende der Sowjetunion 1991 eng an diese gebunden, ab 1936 als Unionsrepublik. Freiheit ist da relativ, auch Emanzipation, und Entwicklung in den Provinzen etwas, was primär den Zivilisationsbestrebungen der Machthaber entspringt.

Tatsächlich ist „Dshamilja“ bzw. deren filmische Umsetzung mehr als eine Liebesgeschichte, es ist eine Zeit- und Künstlererzählung. Wandel, der emotionale wie der gesellschaftliche, avanciert zum Hauptthema. Angestoßen wird er von der kühnen Djamila, konsequent ausgelebt vom Ich-Erzähler Sejt. Dessen Voice-over – im Original von Tschingis Aitmatow gesprochen, der ebenfalls das Drehbuch verfasst hat – kommentiert das Geschehen und reflektiert über die persönliche Genese als Maler. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es in Kirgisien weder Schrifttum noch dramatische oder bildende Kunst, sondern primär mündlich Tradiertes, das jedoch dem gesellschaftlichen wie technischen Progress keinen angemessenen Ausdruck verleiht. Sejt kann den Dualismus von Fortschritt und Überlieferung also nur überwinden, wenn er das Dorf verlässt, um neue (ästhetische) Pfade zu beschreiten. Herangereift zum Künstler besinnt er sich später auf seine Wurzeln bzw. auf die einstige Inspiration aus Liebe, Natur, Musik und wird über sein Werk zum Bewahrer der kirgisischen Kultur.

Dokumentarisches und Künstlerisches 

Inszenierung und Kamera bilden diesen Wandel nicht nur ab, sondern zelebrieren ihn mit eigenem Stilwillen. Die erste Sequenz zeigt den erwachsenen Sejt in seinem expressionistisch ausgeleuchteten Atelier, dann geht der Blick zurück in die Vergangenheit aufs kirgisische Land. Quasi-dokumentarisch sind die Bilder von Riten, Bräuchen, Festen und Feldarbeit, die authentischen Portraits von Einheimischen in traditionellen Gewändern und ihren Haustieren. Selbst der Soundtrack besteht zu einem Grossteil aus volkstümlichen Gesängen sowie folkloristischer Musik. Passenderweise belässt die DEFA-Synchronisation sowohl Lieder als auch Gebete oder dörfliches Gerede im Hintergrund in der kirgisischen Originalsprache.

Der Eindruck einer historischen Dokumentation, verstärkt durch die Schwarz-Weiss-Photographie, wird freilich gebrochen durch immer wieder spontan eingeschnittene naive Zeichnungen in kräftigen Farben. Sie stellen Sejts frühe künstlerische Versuche dar. Sein allererstes Bild malte er noch auf Fels, wo es von der Natur weggewaschen wurde. Doch dann öffnet sich sein Blick. Sejt, dessen Welt, wie er sagt, seit der Kindheit in Tönen und Farben besteht, sieht die Umgebung wahrhaftig mit neuen (Künstler-)Augen.

Regisseurin Irina Poplawskaja wählt hierfür das ausdrucksstarke Mittel von eingefärbten Sequenzen, von roten Pferden und roten Mohnfeldern, von vital-dynamischer Buntheit. Die Sphäre des Empirischen ist verlassen zugunsten einer künstlerischen Betrachtungsweise. Ohnehin wollte die emphatische Kamera von Kydyrshan Kydyralijew schon zuvor so gar nicht die Position des dokumentarisierenden Beobachters einnehmen. Stattdessen stürzt sie sich immer wieder ins Geschehen, macht mit beim Mähen, Reiten, Wagenfahren und Rennen. Während dramatischer Momente, etwa wenn Danijar mit einem viel zu schweren Sack eine Rampe emporhumpelt, entfesselt sie gar ein wildes Szenario aus extremen Untersichten, Gegenlicht, Grossaufnahmen und schnellen Schnitten. Nur einmal friert das Bild ein: in dem Moment, als sich Danijar in Djamila verliebt. Für Sekunden hält die Welt den Atem an.

Liebe und Landschaft

Zentrale Szene von literarischem Original und cineastischer Adaption ist der Gesang von Danijar: „Das war ein Mensch, der eine tiefe Liebe in sich trug. (…) die Liebe zum Leben, zur Erde. Ja, er verwahrte diese Liebe in sich, in seiner Musik, er lebte durch sie. (…) Als der letzte Nachhall des Liedes schon zu verklingen schien, weckte ein neuer, schwingend aufsteigender Einsatz die schlummernde Steppe. Und sie hörte dem Sänger dankbar zu, dessen ihr vertraute Melodie sie liebkoste.“ In diesen Liedern liegt das gesamte Dasein, filmisch umgesetzt durch eine teils dezent eingefärbte Montage aus wandernden Schafen, nuckelnden Babys, rennenden Pferden, wogenden Getreidefeldern, weinenden Frauen und deklamierenden Männern. Djamila und Sejt erkennen darin noch mehr: sie die Tiefgründigkeit Danijars, er sein ureigenes Naturell. Die Lieder werden zu Sejts Erweckungserlebnis als Künstler: „Damals fühlte ich zum erstenmal etwas Neues in mir erwachen. Ich konnte es noch nicht fassen, doch es war etwas Unüberwindliches, es war das Bedürfnis, sich mitzuteilen, ja, sich mitzuteilen, nicht nur selbst die Welt zu sehen und zu empfinden, sondern anderen das Entdeckte, die eigenen Gedanken und Gefühle zu vermitteln, von der Schönheit unserer Erde zu erzählen, genauso mitreissend, wie es Danijar tat.“

Solche lyrische, ebenso stille wie leidenschaftliche Kraft der Worte findet in „Sehnsucht nach Djamila“ ihren visuellen Ausdruck in der Weite der kirgisischen Steppe. Unfassbar, uneinnehmbar erstreckt sie sich bis zum Hochgebirge des Tian Shan; sie endet nicht, sie verliert sich bloß am Horizont. Sie ist so unerklärlich und sinnlich wie die Liebe. Djamila mag sich zunächst gegen ihre Gefühle wehren, doch muss sich ihnen letztendlich ergeben. Sie sind (ihre) Natur. Ihre Seele ist die Landschaft. Die Ferne ist das Lied. Und in der Kunst finden sie alle ihre Unsterblichkeit.

Ob das die schönste Liebesgeschichte der Welt ist? Möglich. Denn irgendwie sind das alle Liebesgeschichten, zumindest die wahren: „Die Wahrheit jedenfalls, die Wahrheit des Lebens und das reine Gefühl dieser beiden Menschen hatte ich nicht verraten.“

„Sehnsucht nach Djamila“ (UdSSR 1969)
Regie: Irina Poplawskaja
Darsteller: Natalja Arinbassarowa, Sjuimenkul Tschokmorow, Nasredin Dubaschew, Aliman Dshangorosowa
Laufzeit: 78 Min.
Verleih: Icestorm Entertainment GmbH
Format: DVD

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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