Ziemlich unterschiedliche Freunde

Michael Köhlmeiers „Zwei Herren am Strand“ erzählt vom erfolgreichen Umgang mit dem eigenen schwarzen Hund

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Weniger monumental als „Abendland“ (2007) und „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ (2013) sowie ohne Sebastian Lukasser, der als Alter ego bereits drei seiner Werke prägte, erzählt der in Wien lebende Michael Köhlmeier auf 250 Seiten von der seltsamen Männerfreundschaft zweier Größen des 20. Jahrhunderts: Charlie Chaplin und Winston Churchill.

Der Vater des namentlich nicht genannten Erzählers, ein verbeamteter Milchkontrolleur, hatte als Kind Chaplin und Churchill getroffen. Sie wurden zu Vorbildern in seiner Jugend und ihr Leben, Schaffen und Leiden zeit seines Lebens Gegenstand intensiver Beschäftigung. Auf einem Symposium anlässlich des 100. Geburtstags von Churchill beeindruckte er William Knott, den Privatsekretär des Premierministers, mit seinem Wissen so sehr, dass ein langjähriger, sehr persönlicher, wöchentlicher Briefwechsel der beiden begann. All sein Wissen, das durch Nachforschungen, die die Grenzen der Nachvollziehbarkeit überschreiten, gab er an seinen Sohn weiter, der im Roman darüber berichtet.

Neben den vielen cineastischen, politischen und gesellschaftlichen Höhepunkten der von der Herkunft, dem Äußeren und der Überzeugungen so unterschiedlichen Freunde steht deren Seelen- und Gemütszustand im Mittelpunkt des Werks. Die Depressionen, unter denen sie litten, über die sie mit sonst niemandem zu sprechen wagten, verbanden sie. Immer wenn „der schwarze Hund“, wie sie gleich Samuel Johnson die zermürbende Depression nannten, sie aufschreckte, kamen sie sich gegenseitig zu Hilfe, waren sie füreinander da. Auf Spaziergängen tauschten sie sich darüber aus, wie sie jeweils versuchen, diesem inneren Feind die Stirn zu bieten. Churchill malte auf seine ganz spezielle Weise und Chaplin nutzte die pikante, außergewöhnliche „Methode des Clowns“, die, wie im Verlaufe des Romans deutlich wird, auch von anderen Leidenden praktiziert wurde.

Biografische Fakten sind die Kulisse für tiefe Einblicke in die Gedanken. So erscheinen die einzelnen Filme und die politische Karriere, aber auch die Auseinandersetzung beider mit Hitler, unter einem sehr privaten Licht. Es sind die Geschichten, Anekdoten und Hintergrundinformationen, die zitiert oder ausgegraben werden. Während Köhlmeier in seinem Schelmenroman „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ die Grenzen der Wirklichkeit ständig überschreitet, gerät im neuen Roman, ganz wie Joel Spazierer es sagte, alles was Erinnerung ist, unter das Regime der narrativen Transformation. Die Allgegenwart von Faktenwissen über die beiden Prominenten schränkt gewiss etwas ein, hält den Schelm Köhlmeier aber nicht davon ab, mit der Wahrheitsliebe seiner Leser zu spielen.

Die Suchmaschine wird zum ständigen Begleiter der Lektüre. Eine ebenso wenig befriedigende wie erfolgreiche Methode. Ja, Marlene Dietrich und Albert Einstein hat Chaplin getroffen, aber hat er sich so über Goebbels lustig gemacht? Hat er während einer Depression tatsächlich den Film „The Circus“ so radikal zusammengeschnitten? Gab es das Chaplin-Interview mit Josef Melzer oder Mr. William Knott? Der Autor kennt die im Roman nie erwähnte hervorragende Chaplin-Biografie von David Robinson sehr gut, ist genau das seine Methode? Wer der Geschichte ausgedachte Figuren hinzufügt, kann ebenso deren Handeln und Denken bestimmen. Auch der präzise und nachprüfbar geschilderte Werdegang Churchills entbehrt die Erwähnung realer Biografen oder Zeitzeugen. Köhlmeier eröffnet sich dadurch Möglichkeiten der Ausschmückung, lässt ihn verblüffende Theorien aufstellen. „Der dänische Psychoanalytiker Esklid Ottensen“ nennt beispielsweise Churchills fehlenden Sinn für Symbole „Churchill-Syndrom“, ein Begriff, den man heute allerdings nur im Bereich der Rhetorik in einem völlig anderen Zusammenhang kennt.

Wie Köhlmeier absurde Unglaublichkeiten, wie das zufällige Zusammentreffen Hitlers mit Churchill auf einer Herrentoilette oder die Anwesenheit Churchills bei einem Clown-Seminar Chaplins für Kinder, bei dem der Vater des Erzählers angeblich beide traf, sprachlich und inhaltlich in den Roman einfügt, sodass kein Leser an deren Wahrheitsgehalt zweifeln möchte, ist grandios. Und er spart nicht daran, seinen Figuren Gedanken zuzuschreiben, die unmittelbar auf den Text Anwendung finden. Über Churchills Werk „Marlborough. His Life and Times“ schreibt er: „Dabei spielt es keine Rolle, wie John Churchill wirklich gewesen ist. Wichtig ist, wie ihn sein Nachfahre und Biograf Winston Churchill gezeichnet hat.“ Und der Vater des Erzählers lässt die früh verstorbene Mutter im Rollenspiel lebendig werden: „Er spielte das so glaubwürdig, dass mir während der Szene nicht ein Mal der Gedanke kam, das alles sei gar nicht echt.“ Genau so glaubwürdig schreibt Köhlmeier.

„Man kann nur Geschichten von Menschen erzählen“, wird Churchill an einer Stelle des Romans zitiert, „Geschichte als solches lässt sich nicht erzählen.“ Und Geschichten erzählen, das kann Michael Köhlmeier wie kaum ein Zweiter. Ob man sich nun für die beiden Prominenten und deren Leben interessiert oder nicht, man ist im Nu mittendrin im Geschehen, folgt einfach zwei Herren am Strand, liest Interessantes, Mitreißendes, Trauriges und Absurdes. Wer sich loslöst vom Gedanken der „Wahrheit“ und keine Nachforschungen anstellt, der wird diesen Roman, der es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2014 geschafft hat, genießen und eines Tages vielleicht selbst die Methode des Clowns ausprobieren. „Zwei Herren am Strand“ ist ein Buch für Menschen, die noch begeistert staunen können, wenn ein Magier ein Kaninchen aus dem Zylinder zaubert, ohne sich zu fragen, wo es zuvor verborgen war.

Titelbild

Michael Köhlmeier: Zwei Herren am Strand. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2014.
256 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446246034

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