Respektvoll wurde er „Patriarch der Moderne“ genannt
Eine Hermann-Glöckner-Publikation zum 125. Geburtstag des Künstlers
Von Klaus Hammer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn dem 1984 von Jürgen Böttcher(-Strawalde) gedrehten Fernsehfilm „Kurzer Besuch bei Hermann Glöckner“ sieht man den 95-jährigen Künstler in seinem Dresdener Atelier mit sicherer Hand immer wieder Schwünge, Kurven, Kreise, Schleifen und Spiralen auf dem Zeichenpapier ziehen. Jetzt kann man in der Nachlass-Ausstellung in der Berliner Villa Grisebach (Fasanenstr. 25, bis 1. November) vor diesen Kreidezeichnungen stehen oder sie im Katalog betrachten. Folgen wir den Wegen der Linien, die irgendwoher kommen und irgendwohin laufen, so wird alles zu einer sehr beredten Schrift, die in ihrem Ablauf von Anfängen und Abbrüchen, Verschlingungen und Entwirrungen, Berührungen und Abstoßungen, Annäherungen und Entfernungen berichtet. Lebenslinien, Zeichnungen im Raum. Die wie absichtslos begonnenen linearen Elemente sollen in die fließenden Gesten eines kontrollierten rhythmischen Kontinuums überführt werden. Man steht voller Ergriffenheit vor diesen fast psychografischen Mitteilungszeichen einer bewundernswerten menschlichen Existenz. Denn dieser Künstler hat sich der herrschenden Ideologie sowohl der Nationalsozialisten wie auch in der DDR verweigert, ihm blieb Öffentlichkeit versagt und erst im hohen Alter erfuhr er als „Patriarch der Moderne“ eine verspätete Würdigung.
Als Nebeneinander und Durchdringung von konstruierender und informeller Gestaltung hat Werner Schmidt, Initiator der Dresdener Jubiläumsausstellung von 1989 und einer der besten Kenner Glöckners, das Werk des Künstlers auf eine prägnante Formel gebracht. Die mehr als 150 plastischen, malerischen und zeichnerischen Werke, die jetzt aus dem Nachlass des 1987 in Berlin verstorbenen Künstlers – zum Teil erstmals in der Öffentlichkeit – gezeigt und im Katalog abgebildet werden, kommen aus allen Schaffensperioden und machen in der Tat sichtbar: Der Schaffensprozess als spontane, vom Material inspirierte Intuition, die sich zur bildhaften Artikulation verfestigt, und das geistig durchdachte, konstruktiv abgewogene Ordnungsprinzip gehören bei Glöckner zusammen.
Im Katalog, der auch als eigenständige Publikation zu betrachten ist, beschäftigt sich Peter Richter mit der Bedeutung Hermann Glöckners für die Kunst in Dresden, während Martin Engler auf „Wahrheiten“ eingeht, die das Werk Glöckners der Kunst der Gegenwart vermitteln kann. Der Bio- und Bibliografie des Künstlers schließen sich Fotos von Werner Lieberknecht an, die die Werkstatt des Künstlers nach seinem Tod im Spätsommer 1987 zeigen. Das in Tafeln und Gemälde, plastische Werke, Arbeiten auf Papier und textilen Collagen gegliederte Werkverzeichnis wird von groß- und kleinformatigen Abbildungen begleitet, die zum Schauen und Reflektieren einladen.
Inspiration war für Glöckner gleichsam die Möglichkeit oder Offenheit zur Strukturierung. Wenn es Aufgabe des Künstlers ist, „seine Empfindungen methodisch zu ordnen“, wie es Henri Matisse forderte, so ging Glöckner bald daran, eine Methodologie seines Kunstwollens zu entwickeln. In den frühen Arbeiten – Landschaften, Stillleben, (Selbst-)Bildnisse, Akte – erweist sich der Künstler als Weggefährte zeitgenössischer Kunstbestrebungen. Mit dem Expressionismus der „Brücke“-Künstler scheint er weniger in geistiger Verbindung gestanden zu haben als vielmehr von den konstruktiv-expressiven Tendenzen Wassily Kandinskys, Paul Klees oder den organisch-konstruktiven Schlemmers im Bauhaus geprägt zu sein. Das Nebeneinander von imaginativer und konstruktiver Kreativität ist ebenso ablesbar wie der Wille zur Vereinfachung und Elementarisierung der Ausdrucksgestik, die Besinnung auf den klaren geometrischen Bildaufbau. Fungiert die Farbe schon als Handlungsträger, so haben diese Arbeiten noch eine mehr atmosphärische Funktion.
Dann wieder gelangt er zu Zusammenordnungen einfachster geometrischer Formen in den drei Grundfarben – dazu Schwarz und Weiß, die „Nichtfarben“ – auf der reinen Fläche. Konzentrische Kreise werden um einen schwarzen Kern gelegt, horizontale und vertikale Achsen durchs Mittelfeld gezogen, Strahlenbündel auf farbigem Grund reflektiert, Vierecke und Rechtecke übereinandergelegt, helle Winkel über dunkle Kurven gezogen. Oder die Bildfläche verwandelt sich in ein Kontinuum von kleinen Episoden: der Farbfleck, der Spritzer und Tupfen des Pinsels, die bewegte Linie beziehen den Zufall mit ein.
In den 1930er-Jahren entstand das große Tafelwerk, in dem der Künstler „die konstruktiven, geometrischen Grundlagen“ und „elementaren, komplexen Zusammenhänge“ seiner Malerei untersuchen wollte. Gleichzeitig erreichte er in seinen gegenständlichen Kompositionen wie in seinen konstruktiven Materialmontagen eine neue Differenzierung von Material, Farbe und Struktur. In den Dorf- und Industrielandschaften, den Giebel-, Dächer- und Dreieckskonstruktionen dieser und späterer Zeit sind Anklänge an die Realität mit einer aus gebauten Formen zusammengesetzten, geometrischen Zeichnung vermischt worden. Die experimentelle Entdeckerfreude Glöckners reicht schließlich von der Beschäftigung mit dem Wirklichkeitsabfall bis zum handwerklichen Kombinieren und Konstruieren. Die Collage ist zunächst reine Improvisation, wenn man die Teile auf dem Papier hin- und herschiebt – ein Spiel, das so lange gespielt wird, bis sich das Muster zu einer endgültigen Form fügt und eine Funktion erhält.
Eine wunderbare Harmonie und gestische Gelöstheit, eine fast dekorative Schönheit entfaltet dann das Spätwerk. In den 1960er-Jahren erweitert der Künstler die Collage zur Assemblage, zu raumplastischen Materialbildern, bei denen Materialien aller Art in die Bildstruktur eingefügt sind und eine reliefartige Wirkung erzeugen. Seit Anfang der 1970er-Jahre kommen ganz unterschiedliche Faltungen des Papiers, verbunden mit dem Einfärben der Fläche, hinzu. Kontrast und Umkehrung, bereits Prinzip seines großen konstruktivistischen Tafelwerkes, erfahren eine mannigfaltige, souveräne Gestaltung.
Obwohl Glöckner schon in den 1930er-Jahren mit dreidimensionalen Gestaltungen begann, bilden sie erst seit den 1950er-Jahren eine Dominante seines Schaffens. Er sah in einem flachen Brett oder einer geometrisch geschnittenen Fläche die dem Holz am besten entsprechende Form. Er ritzte, durchbohrte, bemalte oder lackierte die Holzplatte, hängte sie drehbar oder verklammerte sie zu Scheiben. Metall wurde als dünnes Blech zu sich durchdringenden Rechtecken zugeordnet, räumlich gebrochen oder gefaltet. Mit ihren offenen Formen, architektonischen Korrelationen, ihren Farbstufungen, ihrer Transparenz und Raumdurchdringung vermitteln die plastischen Gestaltungen den Eindruck von Schwerelosigkeit, ohne Masse. Die Stellungen sind vielfältig veränderbar. Die 1984 vor der Mensa der TU Dresden errichtete Stahlplastik „Mast mit zwei Faltungszonen“ gibt eine Synthese von „mathematischer Denkweise“ und freier künstlerischer Sensibilität und Fantasie. Sie hat in ihrer linearen Auffaltung das fast Tänzerisch-Schwebende eines immer wieder bezaubernden Spiels.
Das eine ganze Epoche umgreifende, ständig die Grenzen zwischen den Künsten überschreitende Werk Glöckners macht auch auf die Wirkungen aufmerksam, die es auf die bildende Kunst, die Architektur, die Industrieform, das Plakat, die Medien und auf andere Bereiche ausüben könnte und immer noch kann.